Kommentar
10:44 Uhr, 27.12.2018

Werfen wir im Jahr 2019 die letzten Jetons auf den Tisch?

Zum Ende eines jeden Jahres stellen wir uns immer wieder erneut die gleiche Frage: „Was wird das neue Jahr uns bringen?“ Wir haben Hoffnungen und Wünsche, Vorsätze und Erwartungen. Als Händler fragen wir uns, was der Markt für uns bereithält.

Ich möchte an dieser Stelle den bereits zahlreich existierenden Markteinschätzungen zu 2019 nicht einfach eine weitere hinzufügen, in der ich mich zu einem pessimistischen oder optimistischen Ausblick bekenne. Vielmehr möchte ich versuchen, möglichst neutral die Rahmenbedingungen, denen wir uns alle nicht entziehen können, zumindest im Groben zu erfassen und Schlussfolgerungen zu formulieren. Und dabei wird es natürlich darum gehen, ob wir im Jahre 2019 nun den schon oft beschworenen Zusammenbruch der Wirtschaft, die „Mutter aller Crashs“ erleben werden, oder ob sich deren Eintritt noch auf 2020 oder gar noch später verschieben wird und wir somit weiterhin liquiditätsgetriebene Aufblähungen und Mittelumschichtungen sehen sollten.

Das kommende Jahr wird keine lineare Fortführung aller Ereignisse, welche in 2018 die Märkte dominierten, dennoch werden diese das kommende Jahr prägen. Einige dieser aktuellen Themen haben (jedes für sich allein) das Zeug, das Finanzsystem und damit die gesellschaftlichen Abläufe, wie wir sie kennen, zu sprengen. Wer sich mit der Theorie komplexer und nichtlinearer Systeme befasst hat, weiß um deren Entwicklungsverhalten über die Zeit und weiß somit auch, dass ihr zeitlicher Ablauf die unsicherste und am schwersten zu bestimmende Komponente ist. Wie sich diese Systeme entwickeln sollten, kann durchaus prognostiziert werden, nur wann es geschieht, ist noch immer auf Grund der Komplexität und der daraus resultierenden Nichtlinearität dieser Konstrukte kaum seriös zu bestimmen. Ja, es ist immer wieder erstaunlich, wie lange solche Systeme und Strukturen mitunter durchhalten können, obwohl wir diese bereits als fehlerhaft und nicht rund laufend identifiziert haben. Nur eines scheint sicher: die Zerstörung eines solchen Systems, welches sich zunächst langsam aufbaute, langsam an Komplexität gewonnen hat, stetig wuchs und schlussendlich nicht mehr „rund lief“, erfolgt plötzlich und heftig im Vergleich zu seiner Zeitdauer der Entwicklung und Entfaltung.[1] Dies erkannte bereits der römische Philosoph Seneca – nach ihm ist dieser Entwicklungseffekt übrigens auch benannt.

Auffällig ist, dass die Komponenten des uns alle umfassenden Systems, in den letzten Jahren eine zunehmende Zentrifugalkraft entwickelt haben. Ich gehöre beileibe nicht zu notorischen Pessimisten, ganz im Gegenteil. Aber es lässt sich kaum noch verleugnen, dass wir dem Kipppunkt sowohl im geopolitischen, erst recht im global-wirtschaftlich / -finanziellen Bereich mit Vollgas entgegen rasen. Der ehemalige Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den USA und Großbritannien und heutiger Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Die globale Sicherheitslage ist heute gefährlicher als jemals zuvor seit dem Zerfall der Sowjetunion.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier drückte es zu seiner Zeit als deutscher Außenminister ähnlich aus: „Die Welt ist aus den Fugen geraten.“

Wir leben in einer Welt, in der alles in Bewegung ist. Der Boden unter unseren Füßen schwankt und „Felsen in der Brandung“ gibt es kaum noch. Es fällt auf, dass wir zunehmend mit Entwicklungstendenzen und –prozessen konfrontiert werden, welche die noch heute gängigen und von großen Wirtschaftsschulen vertretenen Theorien nicht mehr überzeugend erklären können. Wir erleben heute Dinge, die wir bis „vor kurzem“ kaum für möglich gehalten haben (der Vollständigkeit halber zähle ich diese unvollständig auf):

  1. Der Präsident der Vereinigten Staaten brüskiert seine Verbündeten und Partner.
  2. Er kündigte in 2018 das Iran-Abkommen auf, welches im Vorfeld in mühevoller und jahrelanger diplomatischer Schwerstarbeit erarbeitet wurde.
  3. Er trifft sich dann kurze Zeit später mit dem nordkoreanischen Diktator, ehrte diesen mit einem Gipfel und machte weitreichende Zugeständnisse, ohne bisher Gegenleistungen erhalten zu haben.
  4. Hier scheinen sich zwei Männer prächtig zu verstehen, im gleichen Atemzug setzt Trump gegenüber seinen Partnern und Verbündeten auf massive Konfrontation im Handel: (a) gemeinsame G7 Beschlüsse kündigte die US-Regierung auf, (b) Strafzölle werden verhängt, (c) ratifizierte Rüstungsabkommen werden in Frage gestellt, (d) Wirtschaftsprojekte von Partnern werden mit Drohungen und Erpressungen versucht, zum Erliegen zu bringen[2], um dann selbst in die sich dann auftuende Lücke hineindrängen zu können.
  5. Noch vor einem Jahr hätte man denken können, dass die sogenannte Russlandaffäre bald zu Ende sei, jetzt glaubt man, dass diese erst richtig beginnt und die Atmosphäre zusätzlich vergiftet.
  6. Die US-Wirtschaft wirkt derzeit noch robust, worauf Trump immer stolz war, aber erste ernst zu nehmende Indikationen zeigen Risse und bedrohen die globale Konjunktur. Die US-Konjunkturdaten trüben sich auffällig ein, die Investoren werden nervös und stoßen seit Wochen Aktien über alle Sektoren ab und drehen ihre Positionen (wo es geht) in Anleihen und Renten-Kontrakte.
  7. China, die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt, stöhnt unter den Lasten der aktuellen Situation. Der seit Monaten tobende Handelskonflikt verschärft die Situation und zwang die Regierung in Peking erst vor zwei Wochen, einseitig vor dem US-Druck einzuknicken / nachzugeben.[3]
  8. Der Brexit scheint außer Kontrolle zu geraten.[4]
  9. Italiens neue Regierung, welche sich aus der rechten Lega und der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung zusammensetzt, steuert das extrem hochverschuldete Land geradewegs mit Volldampf gegen die Wand. [5]
  10. Die Zinsen laufen in den führenden Wirtschaftsblöcken auseinander und könnten der Tropfen sein, „welcher das Fass zum überlaufen bringt“.

Versuchen wir Zusammenhänge, marktübergreifende Abhängigkeiten von Preisen im Rohstoffmarkt, daraus resultierende Inflationsentwicklungen und davon abhängige Zinsrichtungen, welche wiederum Einfluss auf Kapitalzuflüsse und allgemeine Kapitalströme haben zu erkennen und bringen wir dies alles in Relation zur Abhängigkeit der Entwicklungen von ganzen Volkswirtschaften (Russlands Staatshaushalt wird z.B. zu zwei Dritteln aus dem Export fossiler Rohstoffe finanziert), eingebettet in eine immer stärkere Infragestellung wirtschaftlich und politisch liberalen Gedankenguts und entsprechender Lebensweisen, ergeben sich strickmusterähnliche, verwirrende Darstellungen.[6]

Wir wissen nicht, was 2019 an neuem Konfliktpotential hinzukommen wird. Wir können aber als gesichert unterstellen, dass fast jeder einzelne der oben genannten 10 Krisenfaktoren dass Zeug dazu hat, unser immer fragiler werdendes Gesamtsystem existenzbedrohend zu erschüttern. Was stellt aber den gefährlichsten Brandherd in 2019 dar? Es sind wahrscheinlich die immer offener auftretenden Fragmentierungen unserer globalisierten Gesellschaft, beschleunigt durch populistisch, nationalistische Strömungen. Diese hemmen, schließlich gefährden sie das weltumspannende Handelsnetz, zerstören Lieferketten und bringen so die globale Konjunktur immer stärker ins Schlingern. Einbrechende Konjunkturentwicklungen fördern jedoch die zerstörerischen Separationskräfte und treiben unser wirtschaftliche und damit auch unsere politische Struktur auseinander.

Hätten wir eine solche Entwicklung in Zeiten gesunder Staatsfinanzen, wäre es dramatisch. In der heutigen realen Welt ist es desaströs. In Realität haben sich die Staatsfinanzen bis heute noch immer nicht vom Fast-Zusammenbruch in 2007 / 2008 bis 2012 erholt. Im Gegenteil:

  • Wir haben im Zuge der verzweifelten Rettungsaktivitäten die Schulden und damit das Gesamtsystem auf eine niemals zuvor gesehene Fallhöhe gehoben. Die Schulden der OECD Staaten haben sich von 2008 (wo wir schon dachten, dass es das jetzt war) bis heute von ursprünglich 25 Billionen USD auf etwa 45 Billionen USD erhöht. Das ist fast eine Verdopplung. Und der oft gehörte Spruch, dass es sich doch nur um verteiltes Geld handelt und man dass durch Regulierung wieder zurückverteilen könnte, ist ein Ammenmärchen von Meinungsbildnern, die entweder (a) vom Arbeitsprinzip von Derivaten (welche der Verschuldung als Hebel indirekt unterlegt sind) nichts verstehen und den Begriff „Derivat“ nur aus dem Finanzlexikon her kennen oder (b) ganz einfach lügen. Die wichtigsten Zentralbanken der Welt haben ihr Pulver verschossen, einzig die US-amerikanische Fed bemüht sich krampfhaft, „Normalität“ herzustellen.
  • Wir leben zum Jahreswechsel von 2018 zu 2019 in einer Zeit, in der das westliche, kapitalistische, marktwirtschaftliche System unverändert ohne seinem wichtigsten Steuerungsinstrument unterwegs ist: dem Zins. Nach dem Manipulieren der Zinssätze in den Jahren bis 2015 hinein, gibt es jetzt fast nichts mehr, was noch manipuliert werden könnte. Dieser Zustand, enthält nach innen hin eine Sprengkraft bereit, die jenseits irgendeiner Vorstellungskraft liegt.
  • Politiker und Aufsichtsbehörden weisen uns daraufhin, dass es den Banken und dem Bankensystem wieder besser geht und diese(s) für eine neue Krise gewappnet wäre. Das ist aber eine Frage des gewollt gewählten Blickwinkels. „Halte das Fieberthermometer einfach weiter weg vom Patienten und die zu messende Temperatur ist niedriger.“ Tatsächlich ist das tiefliegende Problem nicht bekämpft, es konnte noch gar nicht bekämpft werden, da auf der einen Seite die toxischen Viren noch gar nicht technisch beseitigt werden konnten (es ist alles noch da, nur ein bisschen umverteilt) und auf der anderen Seite ist die dafür vergebene Medizin mit der Zeit ebenfalls giftig geworden. Zudem gehen uns die Mittel zur Heilung aus. Die Zentralbanken könnten nicht mehr in gleicher Form und Umfang einspringen, wie bei einer im Vergleich dazu „Krise Light“ aus 2007. Das Pulver ist verschossen, jetzt müssten die ultimativen Abschlusswaffen IWF und Weltbank ran, zumindest ist das der im Markt verbreitete Konsens.

Was unser System jetzt benötigt, ist Stabilität und Wachstum, nur so ließen sich die gewaltig gehebelten Leichen aus den Kellern langsam abbauen. Aber es sieht aktuell nicht realistisch danach aus, dass die Konjunktur diese Richtung einschlagen wird. Politisch motivierte Handelskonflikte zwischen den Wirtschaftsblöcken würgen die Konjunktur immer mehr ab, politische Wahlgeschenke populistischer Strömungen in Europa und den USA treiben die belastenden Überschuldungen weiter in astronomische, niemals zuvor gesehene Höhen – eine Tendenz, welche sich 2019 wahrscheinlich noch schneller entwickeln wird.

Die USA erhöhen ihre Zinsen im verzweifelten Bemühen, irgendwie das Finanzsystem mit seinem wichtigsten Steuerungsinstrument wieder zu „normalisieren“, um der Zombie-Falle zu entrinnen.[7] Europa rast mit Lichtgeschwindigkeit genau in diese hinein. Niedrige Zinsen oder gar Negativ-Zinsen sind nicht nur Ausdruck fehlender Risikobewertungs- und Risikosteuerungsparameter, sie tragen auch den Keim in sich, welcher dem europäischen Bankensystem den Todesstoß verpassen wird. Alte, langlaufende Kredite mit vergleichsweise hohen Zinsen, welche die Zinsseinnahmeseite der Banken bisher noch ganz akzeptabel aussehen lässt, laufen aus. Neue vergebene Kredite bringen aber nur noch niedrigste Cash-flow-Raten. Banken leihen sich aktuell Kapital kurzfristig zu niedrigen Kosten und vergeben dieses langfristig zu etwas höheren, aber noch immer dramatisch niedrigen Zinssätzen. Erhöht jetzt die EZB ebenfalls den Zinssatz, wie es die Fed bereits seit zwei Jahren mit Unterbrechung tut, geht die Bombe hoch (im Kleinen hat genau dieser Effekt die Immobilienmärkte 2006 / 2008 in den USA zum Einsturz gebracht und die Kettenreaktion ausgelöst, welche das westliche Finanzsystem durch fällig werdende, gehebelte und nur mit minimalem Kapital unterlegte Besicherungs-Derivate als Brandbeschleuniger fast bis zur Kernschmelze geführt hätte). Jetzt müssten die Banken höhere Zinsen auf selbst geliehenes Kapital zahlen, bei niedrig bleibenden Zinseinnahmen. Die „Goldene Bankregel“, nämlich langfristig ausgegebene Kredite durch langfristige Gelder zu finanzieren, wird täglich, aus der Not heraus gebrochen. Experten sind sich sicher: je länger die Niedrigphase andauert, desto schneller wird man dann die Zinsen anheben müssen, um nicht aus der Kurve getragen zu werden, denn Inflation hat nun mal den berühmten Ketchup-Effekt.

Und ist diese tatsächliche (nicht theoretische) Katastrophe nicht schon schlimm genug, kommt auch eine gewaltige Kreditausfallwelle auf Europas Banken zu, wenn die Zombie-Unternehmen, welche aktuell noch am Leben sind, weil das Geld keine Kosten hat, pleite gehen.

Draghi und seine Mannschaft sind sich dieses Problems sehr wohl bewusst, doch gibt es aktuell keine Alternative, auch 2019 nicht. Die EZB hat der europäischen Politik bereits über alle Maßen und auch am äußersten Rand der Legalität Zeit erkauft, um strukturelle Reformmaßnahmen durchzuführen. Doch geschehen ist nichts, im Gegenteil.

Wir alle haben die Weltwirtschaftskrise 1929 / 1932 nicht miterlebt, wir kennen diese nur aus den Lehr- und Fachbüchern. Wir lesen darüber wie in einer Gruselgeschichte. Ich denke mal, die erste echte Börsenkrise, die wir bewusst durchlebten (zumindest war das bei mir so), war die Krise 1987. Doch dies war eine produkttechnisch verstärkte Börsenkrise und im Vergleich zum jetzigen Krisenpotential ein Witz. Asien- und Russlandkrise in den Ende 90gern und Anfang 2000ern, waren Vorboten dessen, was 2005 den Experten bereits die Schweißperlen auf die Stirn trieb und was bis 2007 / 2008 in den Investmentbanken weltweit so einiges aus dem Ruder laufen ließ. Zu diesem Zeitpunkt hing bereits einmal alles am seidenen Faden und wenn nicht nahezu unendliche Mittel zur Lebenserhaltung auf Pump in das fragile System hineingepumpt worden wären, dann hätte es unser aller Leben dramatisch verändert[8].

Wahrscheinlich schleppen wir uns auch 2019 noch durch. Wahrscheinlich wird die fortgesetzte Weiterverschuldung die sich immer weiter verschärfenden Symptome überkleistern, die Musik wird hektischer, unser Leben wird noch schneller und wir alle spielen „Reise nach Jerusalem“, wobei die Stühle bereits aus dem Feld genommen wurden. Die Haupteigenschaft eines nichtlinearen Systems ist, dass Risiken und Reaktionen ineinandergreifen, sich gegenseitig verstärken oder absorbieren, auf jeden Fall ein unkalkulierbares Systemverhalten bewirken. Dieser Situation stehen wir gegenüber. Das ist nicht schwarzgemalt, das ist nicht pessimistisch. Das ist Realität und vor dieser stehen wir im Jahre 2019, ob wir es wahr haben wollen oder nicht.

Im Trading werden wir uns auch weiterhin täglich im Kurzfristhandel auf das Hier und Jetzt fokussieren.

Es sieht einfach nicht gut aus, ich wünsche Ihnen dennoch einen guten Rutsch.

Uwe Wagner

[1] Die bisher nie dagewesene Kommunikationsintensität, welche zu einer deutlichen Beschleunigung unseres Lebens geführt hat, lässt den falschen Eindruck entstehen, dass es am Ende doch immer so weiter geht wie bisher. Das große Problem und die wohl größte Gefahr, der wir erliegen, ist die Unterschätzung der Zeitkomponente, wie es der ehemalige amtlich vereidigte Kursmakler und Skontoführer an der Frankfurter Wertpapierbörse (Dirk Müller) ausdrückte. „Man sieht die Zusammenhänge, schreibt die derzeitige Entwicklung linear fort und kommt zu klaren Ergebnissen, wie die Zukunft aussehen wird. Doch das beinhaltet zwei gefährliche Irrtümer: ... Im eigenen Gehirn laufen diese erwarteten Entwicklungen in extremer Zeitraffer ab, und man glaubt, die daraus resultierenden Ergebnisse müssten in wenigen Wochen zutage treten. Tatsächlich sind es oft Jahre, in denen diese Ereignisse sich langsam und keineswegs geradlinig entwickeln. In dieser angenommenen Gradlinigkeit steckt auch schon der zweite Fehler. In den seltensten Fällen lässt sich die gerade stattfindende Entwicklung linear fortschreiben.“ Siehe dazu: Machtbeben, von Dirk Müller, Heyne Verlag 2018, Seite 17

[2] Konkret verweise ich auf die Drohungen der USA gegenüber Deutschland, das Erdgaspipeline-Projekt Nord Stream 2 mit Russland zu beenden und stattdessen das teurere US-Gas zu importieren. Zum Durchsetzen dieser Forderung, wird nun bereits ganz offen mit Sanktionen gegen beteiligte Unternehmen gedroht. Siehe dazu auch das jüngste Interview des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ mit dem ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin.

[3] China führte einseitig Lockerungsmaßnahmen im Sinne der US-Administrationen durch (Rücknahme der Strafzölle auf Autoimporte aus den USA ab Januar 2019, Wiederaufnahme der Soja-Importe, Bereitschaft der Kooperation im Technologiesektor). Die dortige Regierung geht diesen Weg nicht aus „Einsicht in die Notwendigkeit“, China leidet, die jüngsten Zahlen zeigen eine gewaltige Fragilität dieses Wirtschaftsriesen, Hauptabnehmer und Verbraucher an Rohstoffen weltweit und derzeit noch immer einziger wirklicher globaler Konjunkturmotor. Kommt es hier zum Stottern, dann sind die Auswirkungen auf alle anderen Konjunkturentwicklungen derzeit kaum wirklich abzuschätzen.

[4] Fragt man ausgemachte Experten zu den Konsequenzen, welche nach einem ungeordneten Brexit zu erwarten sind, sieht man nur „dicke Backen“. Auch hier wird der oben angesprochene Seneca-Effekt deutlich. Haben Experten ein Scheitern bis vor einem Monat noch immer gut begründet mit nur 10 Prozent Eintrittswahrscheinlichkeit angegeben, liegen wir jetzt wohl deutlich darüber. Ein britischer Historiker, befragt vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, wies auch auf folgende Konsequenzen hin, welche ein ungeordneter Brexit für Europa und EU haben wird. „Wenn eine Nation einen Alleingang bewerkstelligen kann, dann ist es Großbritannien“, sagte er sinngemäß und vertrat die Ansicht, dass nach einem anfänglichen gemeinsamen Absturz in Chaos und Verwirrung, die EU länger in dieser Situation verharren wird, als Großbritannien für sich. Mittlerweile setzen sich allerdings beide Seiten bereits die Schutzhelme auf und ziehen sich in ihre Unterstände zurück, auch wenn man offiziell noch immer krampfhaft nach Lösungen sucht.

[5] Das gewaltige Problem ist hier: wir sitzen mit in diesem Zug, das ganze europäische Währungssystem ist an diesen rasenden Zug gekettet. Italien verfügt über keine eigene Zentralbank, welche im Notfall die Pleite abwenden und eigene Währung drucken könnte. Selbst wenn Italien aus dem Euro-System aussteigen sollte, die Lira wieder einführt und dann bis zum Glühen der Druckerpresse Lira in den Umlauf werfen würde – die Schulden notieren in Euro und die drückt nun mal nur die EZB auf den Markt. Die Situation ist aber bereits so zerfahren, dass ein völlig inakzeptables Entgegenkommen der italienischen Regierung, den Brüsseler Forderungen nach Verringerung der geplanten Neuverschuldung dahingehend nachzukommen, diese jetzt nur um 2,04 % statt 2,40 % zu erhöhen (damit liegt die Planung noch immer Lichtjahre über der Vorgabe der EU), in Brüssel als großer Erfolg gefeiert wird. Die angedrohten Sanktionen der EU wird es jetzt gegen Italien nicht geben, somit zeigt die EU nach außen hin im Jahr der Europawahlen wieder Einigkeit – da, wo keine ist. Aber wenigstens muss sich jetzt Brüssel gegenüber EU-Kritikern nicht mehr wegen neuer, anstehender Sanktionen gegen ein (abtrünniges?) Mitglied rechtfertigen. Dafür riskiert man schon mal die Pleite der drittgrößten Wirtschaftsnation innerhalb der EU. Halten wir fest: es sind Milliarden, welche Italien 2019 am Markt durch Neuemissionen umschulden muss. Verweigert dieser die Anleihe-Angebote Italiens, wegen zu hoher Risiken, stehen Brüssel und die Gesamt-EU mit dem Rücken an der Wand.

[6] Diese unterstreichen, dass Märkte komplexe und nichtlineare Systeme, mit all ihren Eigenschaften sind, auch wenn es kaum jemand hören will. Wir erklären noch immer bevorzugt alles mit wenigen Aussagen, malen unsere Linien und Grafiken und sind uns sicher zu wissen, was geschehen wird. Die Dramatik dieser Systeme ist aber, dass wir auf Grund ihres nichtlinearen Verhaltens keine konkreten Stellschrauben definieren können, deren Betätigung berechenbare Folgewirkungen auf das System haben. Wir können noch nicht einmal die feinen Verästelungen und Abhängigkeiten jedes einzelnen System-Akteurs zu anderen System-Akteuren definieren, geschweige denn nachvollziehen.

[7] Die Notenbank der USA erhöhte im Dezember zum vierten Mal in 2018 den Zinssatz um 25 Basispunkte. Und sie stellt mindestens zwei weitere Zinsanhebungen in 2019 in Aussicht. Für amerikanische Händler (oder in Amerika handelnde Händler und Investoren) drängt sich die Sorge auf, dass dieser Schritt zum Abwürgen der Konjunktur führt. Selbst die Fed rechnet bereits für das kommende Jahr für sich genommen mit einer konjunkturellen Abkühlung, jetzt könnte sie diese beschleunigen durch Verteuerung des Geldes. Denn jetzt stehen immer weniger Mittel für Investitionen zur Verfügung, die allein in die Zinstilgung fließen müssen. Und damit könnte eine Falle zuschnappen, in der wir auch in Europa stecken, in die wir uns hier auf dem alten Kontinent zur Zeit immer tiefer einwühlen. Die mittlerweile auffällige Zinsdifferenz zwischen den USA und Europa führt zu einer Situation, in der ein deutscher, italienischer, griechischer – kurz europäischer – Mittelständler eine höhere Kredit-Bonität zu haben scheint, als die USA-Wirtschaft, welche auf Grund der Fähigkeit ihrer Zentralbank niemals bankrott und zahlungsunfähig gehen / werden kann. Warum? Weil selbst der kleinste Kreditnehmer in Europa niedrigere Zinsen zahlen muss, als die noch gewaltige Wirtschaftsmacht USA. Alan Greenspan ist mal gefragt worden, ob es denn noch sicher sei, in US-Staatsanleihen zu investieren. Oben bereits einmal genannter Müller zitierte die absolut entwaffnende Antwort: „Diese Frage stellt sich nicht. Die USA können jederzeit jede beliebige Menge Geld drucken, die wir brauchen!“[7] Was das Geld am Ende noch wert ist, steht hier nicht zur Diskussion.

[8] Ich habe einmal in einem Buch gelesen, dass ein Wissenschaftler auf die Frage, warum wir bisher nichts von außerirdischen Zivilisationen gehört haben, wenn es davon doch Millionen allein in unserer Galaxie geben soll, antwortete: „Wahrscheinlich sind sie alle am evolutionären Flaschenhals gescheitert“. Wir stehen aktuell ebenfalls an diesem Flaschenhals.

3 Kommentare

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  • Tizian11
    Tizian11

    Sehr interessante, sachliche und unaufgeregte Analyse!

    17:50 Uhr, 06.01.2019
  • dieter22
    dieter22

    Hallo Herr Wagner . Prosit Neujahr und ein Gesundes . Schade das wir sie nicht mehr haben ;-)) In der Meinung zu diesem Bericht waren wir uns ja einig . Nur ich kann es nicht so schreiben . Danke

    16:31 Uhr, 02.01.2019
  • wizardmw
    wizardmw

    Sehr guter Beitrag....

    12:09 Uhr, 27.12.2018

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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