Kommentar
00:06 Uhr, 15.10.2020

Der fundamentale Analyseansatz

Der fundamentale Betrachtungsrahmen gesamtwirtschaftlicher oder unternehmenswirtschaftlicher Entwicklungen gehört neben der technischen Analysetheorie zu den dominanten Bewertungs- und Beurteilungsansätzen in unseren Vermögensmärkten.

Der fundamentale Betrachtungsrahmen gesamtwirtschaftlicher oder unternehmenswirtschaftlicher Entwicklungen gehört neben der technischen Analysetheorie zu den dominanten Bewertungs- und Beurteilungsansätzen in unseren Vermögensmärkten. Die Zielstellung der Fundamentalanalyse besteht darin, aus vergangenen und gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklungen zukünftige Entwicklungstendenzen abzuleiten. Dabei wird das Zusammenwirken fundamentaler Bewertungsfaktoren und Kursentwicklungen von Vermögensgütern untersucht.

Im Mittelpunkt der fundamentalen Bewertung von Märkten und Marktzuständen stehen jene Daten, welche Einfluss auf das Geschehen an den Vermögensmärkten haben können. Unberücksichtigt bleiben die Ereignisse der Handlungen selbst. An dieser Stelle trennen sich fundamentale und technische Analyse, denn letztere fokussiert ja ausschließlich auf das Ereignis selbst ohne Untersuchung der ausschlaggebenden Ursache – während die fundamentale Analyse den Wirkungsaspekt auslässt.

Der fundamentale Ansatz bezieht in die Bewertung alle Daten mit ein, welche mit Themen der Entwicklung des Sozialproduktes zu tun haben, seiner Entstehung und seiner Verwendung, des Einflusses auf volks- und betriebswirtschaftliche Preiskomponenten. Der Fokus liegt auf nationaler Politik und der sogenannten Geopolitik, auf Beschäftigung, Sozialsystemen, Tarifverträgen, Auslandsentwicklungen, auf Informationen über Absatz, Kosten, Gewinnen, auf Produktion, Aufträgen, Kunden, Belegschaftsentwicklung von Unternehmen und ähnlichem.

Nicht berücksichtigt werden Zinsen selbst, Aktienkurse, Renditen, Bewertungen von Geld- und Sachvermögen und alle Vermögensmarktresultate.

Die Grundaussage der Fundamentalanalyse ist, dass jede Kurs- und Preisfeststellung an den Vermögensmärkten (Börsen) immer ein Reflex der Widerspieglung der Fundamentaldaten ist. Vermögenswerte sind dann fair bewertet, wenn alle Faktoren korrekt abgebildet sind.

Stimmen Kursbewegung und Bewertung nicht miteinander überein, sprechen wir von einer Über- oder Unterbewertung. Der Hintergrund dieser Überlegung ist, dass ein Vermögensmarkt langfristig betrachtet eine effiziente Widerspieglung der Fundamentalfaktoren darstellt. Da es kurzfristig immer wieder zu Abweichungen oder Marktineffizienzen kommt, lassen sich diese nach Ansicht der Anhänger der Fundamentalanalyse nutzen, um systematisch Gewinne zu erzielen.

Setzen der im Retail-Bereich sehr beliebte technische Analyseansatz und der im institutionell strategischen Investitionsvorgehen sehr stark beachtete fundamentale Ansatz von unterschiedlicher Seite in der Beurteilung und Bewertung von Kursentwicklungen an der Börse an, so sind dennoch beide Theorien in einem Aspekt gleich unzureichend: sie unterliegen dem Bestreben, die Stringenz und die Erfolge der Naturwissenschaft auch auf das Geschehen in der Wirtschaft und Börse anzuwenden. Bei diesem Versuch stehen beide Analysemethoden vor dem Problem, den Menschen als absolute Hauptursache einer Handelsentscheidung und damit einer Kursbewegung unbeachtet zu lassen. Beide Analyseformen unterstellen einen Menschen als rational handelndes Wirtschaftssubjekt. Demnach handeln Menschen angeblich so, dass sie unter den verfügbaren Alternativen stets die beste heraussuchen und danach vorgehen. Tatsächlich aber geht die Realität an dieser theoretischen Konstruktion vorbei, auch wenn diese durchaus eine große Eleganz aufweist und damit der Naturwissenschaft ähnelt.(1)

Menschen haben Motive für ihr Handeln, sie verfolgen eigene Ziele. Menschen haben aber auch unterschiedliche persönlich, individuelle Vorgehen beim Aufnehmen und Verarbeiten von Informationen. Heute ist anerkannt, dass wir nicht rational handeln, dass unser Denken und Schlussfolgern, unsere Fähigkeit Informationen zu verarbeiten und Schlüsse daraus zu ziehen, alles andere logisch und frei im Denken ist. Setzen wir streng rationale Maßstäbe bei der Bewertung menschlichen Handelns an, was wir in der Volks- und Betriebswirtschaft, in der Finanzmathematik und der Marktanalyse tun, besprechen wir Äpfel, meinen aber Birnen.

Die Fähigkeit der Selbstreflexion eines Menschen als Wirtschaftssubjekt ist strenggenommen die absolut entscheidende Komponente, welche dafür sorgt, dass wir an unseren Voraussagen scheitern, dass die zukünftigen Realitäten meist anders aussehen, als wir erwarten.

Welche Schwerpunkte setzt die fundamentale Analyse von Kapitalmärkten?

Die Fundamentale Analyse setzt auf zwei Schwerpunkte: (a) die Gesamt- oder volkswirtschaftliche Analyse und (b) die Unternehmensanalyse, wobei hier der Gesamt- oder volkswirtschaftliche Analyseansatz durchaus eine Inputfunktion hat (die Unternehmensanalyse werden wir im zweiten Teil besprechen). Der ursächliche Grundeinfluss wird aber dem Gesamt- oder volkswirtschaftlichen Analyseschwerpunkt zugerechnet.

Die Basiszusammenhänge unter (a) werden definiert nach (a-1) Wirtschaftswachstum, Unternehmensgewinne und Zinsniveau, (a-2) Wechselkurs und außenwirtschaftliche Positionen und (a-3) Geldmengenentwicklung und Liquiditätsausstattung der Wirtschaft.

Unter (a-1) wird hierbei untersucht, inwieweit sich starkes Wirtschaftswachstum auf Unternehmensgewinne auswirkt und welche Reflexionen sich daraus in den Kursen der Aktien widerspiegeln. Der erste grundsätzliche Schluss, der hier gezogen wird lautet:

Starkes Wirtschaftswachstum führen zu steigenden Unternehmensgewinnen, dies wiederum lässt die Aktienkurse steigen.

Doch ganz so einfach ist es nicht, denn es kann auch heißen:

Starkes Wirtschaftswachstum führt zu steigenden Zinsen, was das Wirtschaftswachstum, als auch die Unternehmensgewinne bremst, was schlussendlich zu fallenden Aktienkursen führt.

Es gibt folgende statische Faustregel:

Steigende Unternehmensgewinne bei gleichen Zinsen = steigende Aktien

Sinkende Unternehmensgewinne bei gleichen Zinsen = fallende Aktien

Gleichbleibende Unternehmensgewinne bei steigenden Zinsen = fallende Aktien

Gleichbleibende Unternehmensgewinne bei fallenden Zinsen = steigende Aktien

Diese Regeln setzen in der Theorie des fundamentalen Bewertungsansatzes jedoch immer wieder statische Grundbedingungen voraus. So werden faire Bewertungen angenommen. Der Theorie folgend wäre bei Abweichungen der Realität von der Theorie, eine Über- oder Unterbewertung gegenüber den Tabellenwerten anzunehmen und mittelfristig werden unter sonst gleichbleibenden Bedingungen schrittweise Annäherungen an die errechneten Tabellenwerte unterstellt.

Trifft das Erwartete jedoch auch unter diesen Annahmen nicht ein, gilt der „gesetzmäßige“ Mechanismus als falsch berechnet oder der Bewertungsmechanismus hat sich über den Zeitablauf hin verändert – oder aber der gesamte Ansatz stellt die falsche Herangehensweise dar.

Die Logik hinter den Faustregeln lautet: Unter einem fairen Wert oder Preis eines Unternehmens wird immer der Gegenwartswert aller zukünftigen Erträge verstanden. Steigen die Erträge, so muss auch der Börsenkurs steigen.

Sinken die Zinsen, dann müssen, - sofern sich keine Veränderung im Verhältnis der Bondrenditen zu den Aktienrenditen ergeben, - auch die Renditen der Aktien fallen. Das heißt konkret, die Kurse der Aktien müssen steigen, um wieder das vorherige Verhältnis / Gleichgewicht herzustellen.

Die Realität zeigt allerdings, dass die steigenden oder fallenden Aktienkurse nicht nur durch die Fundamentaldaten beeinflusst werden, sondern dass es auch entgegengesetzte Wechselwirkungen gibt (ein Phänomen, mit dem die Zentralbanken gerade seit 2008 bis heute zu kämpfen haben). Steigen Unternehmensgewinne nicht, reagiert die Geld- und Kapitalmarktsteuerung auf Zins und Wechselkurse, was strenggenommen also heißt, dass die Fundamentalanalyse damit ihren „fundamentalen Anker“ verliert.

Sehen wir uns (a-2) an, konkret den Einfluss der Wechselkurse. Auch hier werden Grundannahmen getroffen, welche wir in einem stark vereinfachten Beispiel am Währungspaar EUR/USD wie folgt diskutieren wollen:

Ein Anstieg des USD gegenüber dem EUR sollte zu einem Anstieg der „fairen Bewertung“ des DAX führen, denn der EUR verliert in diesem Falle an Wert gegenüber der US-Währung, was Importe aus den USA verteuert, Exporte dahin jedoch verbilligt. Die erwartete „normale“ Reaktion wäre demnach, dass unser Außenbeitrag (der Saldo der Handelsbilanz) zunimmt. Bezogen auf die Praxis bedeutet dies: der EUR-Raum wird mehr exportieren und weniger importieren, die Exportunternehmen sollten folglich mehr verdienen, woraus sich die Erwartung nährt, dass daraus Gewinnsteigerungen der Unternehmen folgen, welche wiederum positive Wirkungen auf den Aktienkurs haben.

Die Schlussfolgerung lautet somit, dass der Mengeneffekt des Mehrexports aufgrund der Verbilligung der Produkte aus dem EUR-Raum in den USA den Preiseffekt des Mindererlöses pro exportierter Einheit überkompensiert. Bei den Importen wird umgekehrt gerechnet: hier unterstellt man, dass die Effekte bei den Exportunternehmen gesamtwirtschaftlich diejenigen bei den Importunternehmen überlagern.

Für exportstarke Volkswirtschaften, wie Deutschland, ist diese Annahme durchaus zutreffend, zumindest logisch und sollte die fundamentale Annahme korrekt erscheinen lassen.

ABER: wir müssen uns folgende Frage stellen, welche einmal mehr die in den starren Theorien übersehene reflexive Komponente tangiert: hat eine solche Wechselkursänderung nicht auch Einfluss auf jene Vermögensanleger, welche ihre Anlagen in EUR halten, selbst aber nicht EUR Inländer sind? Wie werden US-Anleger auf ihre Währungsverluste reagieren? Diese können an ihren Anlagen ja nur festhalten, wenn sie unterstellen, dass der oben genannte Effekt zu stärkeren Wertzuwächsen in den Anlagen selbst führt (Kursanstiege bei den Aktien), als über den Wertverlust der Anlagewährung wieder verloren wird.

Wie könnten EUR-Inländer in ihren Anlageentscheidungen reagieren, die nunmehr mit einer weiteren Aufwertung des USD rechnen und somit Umschichtungen aus EUR Anlagen in USD Anlagen vornehmen? Dieser Effekt könnte z.B. den oben genannten fundamental positiven Effekt reflexiv ins Gegenteil umkehren. Völlig unberücksichtigt lassen wir hierbei den Einfluss dieser Vorgänge auf das Zinsniveau und auf die Frage, wie eine Zentralbank darauf reagiert.

Hier steigen jetzt die Komplexitäten der Betrachtung deutlich an. Die Fundamentalanalyse setzt hier mit ihrer traditionellen Sichtweise an und fixiert auf güterwirtschaftliche Beziehungen, womit Wechselkursbestimmungen ebenfalls aus Sicht der Güterbewegung angesehen werden müssen (das ist übrigens auch der Ansatz der EZB und der FED). Das bedeutet konkret: der Wechselkurs zwischen zwei Währungen spiegelt nach dieser Theorie immer das Verhältnis der Kaufkraft in diesen beiden Währungen wider. Konkret müssen dann die ursächlichen Bestimmungsfaktoren der Wechselkurse die güterwirtschaftlichen Beziehungen sein. Folgen wir dieser Logik hieße das, dass der Wechselkurs zweier Währungen zueinander immer dann im langfristigen Gleichgewicht ist, wenn vergleichbare Güter in beiden Ländern in den jeweiligen Währungen zu identischen Preisen gekauft werden können. Das nennt man auch Kaufkraftparitätentheorie.

Doch es gibt auch eine andere Sichtweise, welche wieder den eher reflexiven Aspekt mit berücksichtigt. Unter dieser Bewertung wäre die Übereinstimmung der Kaufkraftparitäten bestenfalls wieder nur Wirkung, aber niemals die Ursache (wie so oft in den klassischen Theorien). Rein reflexiv betrachtet, werden nämlich Wechselkurse auch oder erst recht über die Anlagemotive der Akteure bestimmt. Haben die Akteure die freie Wahl, in welcher Währung sie ihre Anlagen tätigen, werden sie naturgemäß jenen Währungsraum bevorzugen, welcher nach ihrer subjektiven Einschätzung in Hinsicht auf Sicherheit, Zinsertrag und Wechselkursstabilität ihre Zielerreichung am besten zu erfüllen in der Lage ist. Betrachten wir diesen Aspekt als Ursache möglicher Käufe und Verkäufe im Währungsmarkt hieße das nämlich, dass das internationale Anlagekapital die Zentralbanken unter Druck setzt und ein gleichgewichteter Wechselkurs erst zustande kommt, wenn ein Gleichgewicht der oben genannten Faktoren (Sicherheit, Zinsertrag und Wechselkursstabilität) entsteht. Als Schlussfolgerung hieße das, dass die von Menschen reflexiv und diskretionär getätigten Kapitalanlagetransaktionen die Wechselkurse bestimmen. Güterbewegungen sind immer erst die Folge derartiger Veränderungen.

Unter (a-3) führten wir als dritten Schwerpunkt der fundamentalen Analyse die Einflüsse von Geldmenge und „Liquiditätsausstattung“ der Wirtschaft an. Der Zusammenhang von Mittelzuflüssen und Kurszuwächsen an den Aktienmärkten wird besonders heute mit Blick auf die irrwitzige Flutung der Kapitalmärkte mit Kapital durch die Zentralbanken immer wieder bemüht. Somit fragen wir uns: „Wie kann es praktisch funktionieren, dass eine höhere Geldmenge auch zu steigenden Aktienkursen führt?“

Die immer wieder gegebene Standardantwort ist, dass durch ansteigende Geldmenge zunehmend Teile davon auch in die Aktienmärkte fließen werden. In der Konsequenz steigen gerade auch in rezessiven Wirtschaftsphasen die Aktienkurse, da Geld in der Wirtschaft dann weniger benötigt wird.

Dieses Thema ist ebenfalls sehr komplex und wird von unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Schulen unterschiedlich diskutiert, wobei die Grundfrage vor Beantwortung der eigentlichen Frage bereits an der Wurzel, nämlich der Klärung, was Geld eigentlich ist, kontrovers behandelt wird. Man wähnt sich mitunter wie in einem falschen Film, wenn man beim Studium der Vorgänge der Entscheidungen der Zentralbanken die Motivationen und Ausgangsüberlegungen mit denen der jeweiligen Kritiker dieser Entscheidungen vergleicht.

Die fundamental stark beachtete traditionelle Wirtschaftstheorie behauptet jedenfalls, dass Geldmengenänderungen zu gleichgerichteten Veränderungen des nominellen Sozialprodukts führen würden. Hier wirken die Zentralbanken über zwei mögliche Kanäle auf die Wirtschaft:

Die monetaristische Variante lautet, Mengenveränderungen wirken direkt durch. Der Neoliberalist Milton Friedman brachte dazu das „Helikoptergeld“ ins Gespräch. Er ging davon aus, dass Wirtschaftssubjekte, welche plötzlich zusätzliches Geld erhalten, dieses sofort verausgaben (alles stark vereinfacht dargestellt). Und folglich wird, weil die Menge an Gütern und Vermögen kurzfristig nicht vermehrbar ist, zunächst nur deren Preisniveau ansteigen. Und damit auch der Wert der Aktienkurse. Und damit müssten mittel- bis langfristig schließlich auch reale Wachstumseffekte auftreten. Dieses Vorgehen verfolgen bis jetzt (zumindest im Ansatz und mit bisher wenig Erfolg) die Zentralbanken, auch wenn das Geld den Wirtschaftssubjekten nicht direkt, sondern indirekt über Bankenkredite zur Verfügung gestellt werden soll, was ebenfalls noch nicht von Erfolg gekrönt ist.

Der zweite, ebenfalls von den Zentralbanken begangene Weg ist die Beeinflussung der Zinsveränderung durch Geldmengenveränderungen. In den 80ger und 90ger Jahren war dieses Vorgehen durchaus ein Steuerungsinstrument mit zum Teil gewünschten Richtungsvorgaben, heute in einer Zeit ungezügelter Anleihekaufprogramme stellt sich durchaus die berechtigte Frage nach Erfolg oder Misserfolg. Der Kerngedanke dahinter: die Zentralbanken verändern die Geldmenge, in dem sie Kapitalmarktpapiere kaufen oder verkaufen (heute kaufen sie mehr) und dadurch Einfluss auf die Zinslandschaft nehmen. Reduziert die Zentralbank die Geldmenge oder deren Zuwachs, steigen die Zinsen, was sich negativ auf Investitionen und Wirtschaftswachstum auswirkt. Ziel hierbei ist die Inflationsbekämpfung.

Werden durch Anleihekaufprogramme die Geldmengen erhöht, kann das zwei Effekte haben:

(a) im Normalfall sinkt das Zinsniveau, was einen positiven Einfluss auf das Investitionsklima und die Wirtschaft haben soll.

(b) bewirkt dieses Vorgehen allerdings eine Inflationsfurcht, kann dies dazu führen, dass der Markt die eigentliche Zinssenkung konterkariert und damit sogar eine Zinserhöhung am Markt bewirkt, entgegen den Bestrebungen der Zentralbanken.

Im Moment erleben wir in den USA einen gegenteiligen Effekt. Die US-Zentralbank hält an einer Aussicht auf weitere drei Zinserhöhungen bis Ende 2018 fest, der Markt konterkariert bisher die gewollte Marktzinsentwicklung jedoch und preist derzeit bis Ende 2018 nur noch eine „halbe“ Zinsanhebung ein (Stand August 2017).

In früheren Jahren funktionierten diese Vorgehen ganz gut, doch lässt deren Wirkung und Einfluss langsam nach. Mittlerweile müssen wir fragen, ob die Zentralbanken tatsächlich noch „Herr des Geschehens“ sind.

Die Zentralbanken steuern die Geldmenge über folgende Abgrenzungen:

M1 = Bargeldumlauf plus Sichteinlagen bei den Geschäftsbanken

M2 = M1 plus Termineinlagen bis zu 4 Jahren Laufzeit

M3 = M2 plus Spareinlagen mit gesetzlicher Kündigungsfrist.

(Interessant ist, dass die Anlagen in langlaufenden Investitionen wie 10 jährige Anleihen, welche Kernbestandteile der Anleihekaufprogramme sind, in den ausgewiesenen Geldmengen nicht aufgeführt werden.)

Vergleichen wir heute die Entwicklung der Zentralbankgeldmenge mit der realen Geldmenge, stellen wir jedoch fest, dass hier kein Gleichlauf besteht, sondern mitunter auffällig divergierende Entwicklungen entstehen. Vielmehr wird deutlich, dass die reale Geldmenge (Wachstum und Stagnation) von den Geschäftsbanken und den Anlegern selbst ausgehen. Und dies, weil die Geschäftsbanken aus dem Zentralbankgeld ein Vielfaches an Giralgeld schöpfen können (hier sehen viele Ökonomen das Grundübel unkontrollierbarer Blasen im Markt).

Dieser Tatbestand entspricht nun aber einer umgekehrten Kausalität einer von der Wirtschaft zur Geldmenge verlaufenden Gesetzmäßigkeit! Das heißt nämlich, dass anders als sie die klassische Wirtschaftstheorie unterstellt, die Geldmenge M1 eine endogene Größe ist. Übersetzt hieße das: die Wirtschaft schafft sich selbst jeweils die Geldmenge, die sie zur Finanzierung ihrer Transaktionen benötigt. Im Bezug auf den Aktienmarkt bedeutet dies folgerichtig: wenn sich die Geldmenge aus dem Wirtschaftsprozess heraus selbst verändert, dann kann sie nicht Ursache von dessen Schwankung sein und damit kann die Geldmenge selbst nicht Ursache von auffällig gleichgerichteten Bewegungen der Aktienmärkte sein.

Auch hier greift wieder der reflexive Ansatz, dass es der anlageentscheidende Mensch ist, wann und unter welchen Voraussetzungen er für sich die Entscheidung trifft, im Markt aktiv zu werden. Somit kann die Steuerung der Geldmenge durch die Zentralbanken kaum einen direkten Einfluss auf die Marktentwicklung haben, sondern nur die Bewegung des Zinses und der Wechselkurse geben in diesem Zusammenhang Aufschluss über die Stabilität einer Währung und die daraus resultierende, über die reflexive, mitunter verzerrte Bewertung der Vorgänge durch das Wirtschaftssubjekt Mensch über mögliche Auswirkungen auf die Aktienmärkte.

Ein Fazit möchte ich bereits ziehen. Sowohl im technischen, wie auch fundamentalen Analyseansatz (mehr noch im fundamentalen Ansatz) wird die Unwägbarkeit der Reflexivität aller beteiligten Wirtschaftssubjekte nicht berücksichtigt und ist hierbei doch die tragende und treibende Ursache schlechthin. Alle Wirtschaftssubjekte interagieren miteinander, direkt oder indirekt, was auf Grund folgender Tatsache die Schlussfolgerungen starrer Analysemodelle, wie die gängigen angewandten Analysetheorien nun mal sind, in Frage stellt: befinden sich im zu analysierenden Umfeld eines Wirtschaftssubjektes (A) noch andere Wirtschaftssubjekte (B), von den angenommen werden kann, dass sie sich ebenso wie (A) verhalten werden, ergibt sich daraus eine reflexive und zirkuläre Struktur, es bilden sich zwei diametral entgegengesetzte Einflussrichtungen.

Jede Aussage von (A) über (B) wird von (B) aufgenommen und verarbeitet. Das kann dazu führen, dass (B) aufgrund des Bekanntwerdens der Aussage von (A) sein Verhalten ändert. Damit wird die Wahrheit der Aussage von (A) durch die Reaktion von (B) rückbezüglich verändert. Die Aussage von (A) wird somit umso zutreffender, je mehr sich (B) ihr entsprechend verhält oder umso weniger zutreffend, je stärker sich (B) entgegengesetzt zu ihr verhalten wird.

An den Märkten wird somit immer das zur Realität, was dem Glauben der Mehrheit der Marktteilnehmer entspricht. Und dies muss nicht mit dem übereinstimmen, was hinter diesem Glauben an vermeintlichen Tatsachen steht. Besonders an den Finanzmärkten sind es nicht die Dinge an sich, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von ihnen haben.

Ihr Uwe Wagner

(1) Der US-Investor George Soros arbeitete in seinem 1987 erschienenen Werk „Die Alchemie der Finanzen“ heraus, dass die Naturwissenschaften Geschehnisse untersuchen, die aus einer Abfolge von Fakten bestehen. Die Kausalketten hangeln sich von Faktum zu Faktum, eine Tatsache, welche wir in der Wissenschaft mit dem Menschen als direkten Beteiligten so in der Realität eigentlich nicht vorfinden. Soros wies nach, dass Geschehnisse, an denen Menschen als beteiligte Subjekte teilnehmen die Kausalkette nun als Abfolge Faktum zu Wahrnehmung und dann von Wahrnehmung zu Faktum zu sehen ist. Wären Faktum und dessen Wahrnehmung durch den Menschen weitestgehend gleichwertig und übereinstimmend, könnten durchaus naturwissenschaftliche Vorgehen eingesetzt werden. Doch die Realität zeigt, dass dies nicht so ist. Die Wahrnehmung der Beteiligten richtet sich nicht auf Fakten, sondern auf Situationen, die von der eigenen Wahrnehmung abhängen und somit eigentlich nicht als Faktum behandelt werden können. Siehe dazu „Die Alchemie der Finanzen“ von George Soros, deutsche Ausgabe von 1994 vom Börsenbuch-Verlag, Hofmann & Förtsch KG, Seite 22.

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    Hallo Herr Wagner,

    danke für den Artikel und das Thema Erwartungshaltung. Wie Sie richtig beschreiben, kann ein Sachverhalt, wie z.b. starkes Wirtschaftswachstum, oder Berücksichtigung von Währungen zu unterschiedlichen Bewertungen von Vermögenswerten führen.

    Ergänzend hierzu noch weitere Möglichkeiten die zu unterschiedlichen Bewertungsansätzen führen können:

    1) Fundamentaldaten: hier hat der Analyst (soweit renommiert genug) die Macht Daten zu bewerten und den Kurs damit zu beeinflussen. Z.b. "Ergebnis X, Gewinn Y schlecht"- aber laut Analyst besser als erwartet und damit steigender Kurs. Oder eben vice versa...

    2) Charttechnik: egal ob es ein tech. Indikator, eine "Linie" oder was auch immer ist- viele sehen das Gleiche und damit entsteht eine Art "self fulfilling prophecy"

    3) Dark pools & Algo´s als Datenverarbeiter & Trendbeschleuniger. Ohne weitere Ausführungen

    14:09 Uhr, 15.10.2020

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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