Analyse
17:10 Uhr, 27.04.2019

„Und wir tanzen weiter, solange die Musik noch spielt“

In den letzten Wochen machten wir ein Hauptargument aus, welches für die erneut beschleunigten Kursanstiege, besonders an den europäischen Börsen verantwortlich sein soll: die Umschichtungen in großen Aktienportfolios auf finaler Seite, ...

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  • DAX
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    Kursstand: 12.315,18 Pkt (XETRA) - Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung

... nämlich raus aus defensiven Werten und rein in konjunkturabhängige Unternehmensanteilen. Den Impuls lieferten plötzlich unerwartet gute Konjunkturzahlen (zuerst aus China), parallel dazu eine überraschend taubenhafte Rhetorik der großen Zentralbanken und eine darauf nicht optimal ausgerichtete Investitionsstruktur in den großen Fondsdepots. Diese waren im Vorfeld vorwiegend den Empfehlungen der Analystenindustrie folgend in eher konjunkturunabhängigen Werten übergewichtet worden und nun ging es an die Umschichtung. Fast in Serie folgende gute Konjunkturdaten im Anschluss befeuerten die Umschichtungen und eine nach oben hin zunehmende Gamma-Verzerrung in der Optionsseite (mit ebenfalls immer dramatischerem Delta-Anpassungs- und Antizipationsbedarf) trug ihr Übriges mit dazu bei.

Auch in der letzten Woche setzte sich diese Tendenz fort, jetzt auch mit Einwirkung der Bilanzzahlen europäischer / deutscher Unternehmen. Gehen wir aber etwas tiefer in die Anatomie des Kursanstieges, fallen jetzt zwei Aspekte auf: (1) zunächst noch ein „alter“ Punkt: die markttechnische Überhitzung als allgemeines, klassisches Indiz ansteigender Reaktionsrisiken (das hatten wir in der letzten Woche im Monday Spot und in den täglichen Marktbesprechungen bereits thematisiert) und (2) die auffällige Tatsache, dass die aktuelle Anstiegsentwicklung nicht mehr auf breiter Basis getragen wird, sondern hier die Front der Kurstreiber zu bröckeln beginnt und es auffällig Einzelwerte (mit entsprechender Gewichtung) sind, welche den allgemeinen Index-Kursanstieg noch zu verantworten haben.

Konkret auf den DAX / FDAX bezogen würde ich sogar so weit gehen, dass die letzte Handelswoche ohne den ausgeprägt starken Kurszuwachs der SAP Aktie, per Saldo wahrscheinlich in einer reinen Konsolidierung verblieben wäre (aber das nur am Rande).

Das Konjunkturbild ist weiterhin zweigeteilt und die Investoren springen unverändert im Dreieck, welcher Entwicklung sie folgen sollen. Die global agierenden Institutionen zeichnen weiterhin ein eher kritisches Konjunkturbild, allen voran die Zentralbanken. Immer wieder geistern Interpretationen durch den Markt, wonach Zinsanhebungen in absehbarer Zeit unwahrscheinlich sind und sogar Zinssenkungen angedacht werden könnten. Südkorea lieferte in der letzten Woche enttäuschende BIP Zahlen, Japan reduzierte seine Wachstumsaussichten. Die kanadische Zentralbank äußerte sich kritisch zur in- und ausländischen Wirtschaftsentwicklung. Das passt nicht zu teils aggressiven Käufen in konjunktursensitiven Aktien.

Auf der anderen Seite haben die jüngsten konjunkturellen, als auch protektionistischen Themen die Unternehmen weit weniger belastet, als ursprünglich befürchtet. Ja, man hatte vorsorglich im Vorfeld die Erwartungen an die Unternehmensergebnisse und an deren Ausblick heruntergenommen, mitunter sogar recht heftig. Aber dennoch, die tatsächlichen Ergebnisse liegen jetzt zum Teil deutlich über den Erwartungen und das ist für Kurs und Stimmung pauschal gesehen in der Regel gut.

In den USA hatten allein bis zur Wochenmitte 104 der im S&P500 gelisteten Gesellschaften ihre Geschäftsberichte vorgelegt, von denen 78 % die Markterwartungen übertroffen haben. Noch im vierten Quartal 2018 hatten nur 65 % der Unternehmen die Analystenschätzungen übertroffen und ich erinnere mich noch, wie wir auch diese Zahl zu diesem Zeitpunkt als beeindruckend feierten.

Und auch in Europa überwiegen bisher gute Quartalszahlen, was den Konjunktursorgen entgegensteht. Folglich zieht man sich als Investor punktuell auf Einzelwerte zurück, was sich in der Vorwoche darin manifestierte, dass wir kaum (eigentlich fast überhaupt nicht) breite Marktorders sahen. Einzig am Donnerstagnachmittag traten einige Hedges im deutschen Aktienmarkt auf, welche vorwiegend über den Futures abgewickelt wurden (einschließlich folgender Eindeckungen, nachdem die US-Indizes Stärke zeigten).

Und dann gibt es da auch noch die US-Wirtschaft, die neben dem Hervorbringen guter Unternehmenszahlen auch allgemein „nicht übel“ dasteht. Am Freitag wurde das US-BIP für das erste Quartal 2019 in seiner ersten Lesung veröffentlicht und beeindruckte annualisiert mit einem Zuwachs um 3,2 %. Damit wurde die Prognose einer Zunahme um 2,2 bis 2,5 % klar übertroffen und kompensierte zum Wochenende hin manch eher enttäuschende Bilanzzahl.

Laut Einschätzung von Analystenseite, wurde das Wachstum vor allem von Exporten und Lagerinvestitionen gestützt, während es bei Konsum und Investitionen zu einer Wachstumsabschwächung kam. Die Nachrichtenagenturen schrieben unmittelbar nach der Veröffentlichung der Daten, dass die Zahlen von den Anlegern als weiteres Indiz dafür gesehen werden dürften, dass Sorgen um den Zustand der US-Wirtschaft übertrieben sein.

Der von der US-Notenbank als Inflationsmaß favorisierte Deflator für die persönlichen Konsumausgaben (PCE) stieg zwar nur um 0,6 % und auch die privaten Konsumausgaben stiegen nur noch um 1,2 % - der schwächste Wachstumswert seit einem Jahr, doch sagte dazu eine Marktanalystin gegenüber Reuters: „Nach einigen starken Quartalen kann das verkraftet werden“.

„Wir tanzen, solange die Musik spielt“ …

… ist derzeit das Motto an den Aktienmärkten. Und wenn wir nach Indizien suchen, welche auf die Lautstärke der Musik verweisen, können wir sicher Argumente finden, weshalb die Musik mittlerweile leiser ist (Überhitzung – was reflexiv von jedem im Markt nun schon wahrgenommen wird – und nachlassende Marktdichte), aber noch scheint sie laut genug wahrgenommen zu werden, so dass noch immer dominant das „Tanzbein“ geschwungen wird.

„Was nützen Warnsignale, wenn diese sich über Wochen hinziehen und sich mitunter wieder in Wohlgefallen auflösen?“, fragte ein Händler letzte Woche und hat im Grunde recht. Auch hier wird deutlich, wie Reflexivität wirkt. Weder rechnerische Überhitzungen, noch Warnungen anderer Art, führen zu Impulswechseln, sondern erst die jeweils individuelle Entscheidung eines großen Investors, der persönlich der Meinung ist, „er hätte genug“ und die von ihm persönlich empfundenen Risiken seien jetzt an einem Punkt angekommen, ab dem er diese nicht mehr tragen will. Erst wenn dieser Investor seine ganz persönliche Reißleine zieht und entsprechende Orders aufgibt – seien es Verkäufe oder Hedges, aggressiv oder zurückhaltend – wird es Auswirkungen geben (Outputs), welche von anderen Akteuren reflektiert werden (in Form von geregelten oder spontanen Feedbacks) und dann entweder aufgefangen oder in dessen Handelsrichtung verstärkt werden.

Wir müssen also zuhören, was geredet wird, wir müssen am Puls derer bleiben, die mit ihren Entscheidungen die Richtung bestimmen. Oft glorifizieren wir diese Akteure: „Oh, diese Big Boys“. Doch auch hier ist die Realität eine andere als man denkt. Die „Big Boys“ sind Sklaven ihrer Vorgaben, des „good will´s“ ihrer Kunden und der Größe ihrer Positionen. „Einfluss auf den Markt“ zu haben, ist hier meist ein Fluch, denn hat man sich und seine Interessen erst einmal kund getan, in dem man seine eigene, auffällige Spur in einem abwartend aufgeheizten Markt hinterlässt, arbeiten andere Akteure unter vergleichbarem Druck gegen die Interessen des Spurenlegers und damit kämpft dieser gegen die Zeit und die Liquidität im Markt.

Wie ist die Stimmung?

Spricht man mit Marktbeobachtern, heißt es, die Stimmung sei noch überwiegend gut, allerdings auch angeschlagen. Wenn man sich dann fragt, was diese „sagt alles aber auch nichts“ Aussage nun bedeuten soll, dann spiegelt sich das wohl am deutlichsten in der aktuellen Marktbreite wider.

Die Tatsache, dass aktuell selektiver gekauft wird, aber da, wo gekauft wird, dies sehr aggressiv und zum Teil konsequent geschieht zeigt, dass der bereits im Vorfeld beobachtete Umbau der Portfolios noch immer nicht abgeschlossen scheint. Ein gewisser Grundoptimismus aus strategischer Sicht ist ungebrochen – ganz offensichtlich. Also kein (auf absehbare Zeit) erwarteter Mega Crash, kein Weltuntergang.

Aber die Investoren scheinen sich der kurzfristig überhitzten Situation bewusst zu sein. Damit meine ich nicht das Notieren von irgendwelchen Indikatorlinien in irgendwelchen als „überhitzt“ definierten Bereichen einer x-beliebigen Skala. Ich meine, dass man aktuell für sein Geld zu schnell nach oben hin weglaufende Mischkurse bekommt. Es sind derzeit vermeintlich zu viele Nachfrageinteressen im Markt (eben auch durch die Optionsseite gespeist), so dass Reaktionen wünschenswert wären, wie die Bauern jetzt auf Regen warten. Denn kommen Reaktionen, kommen die Käufer zumindest bisher immer wieder rasch.

Das heißt: ernste, wirklich ernstzunehmende Warnschüsse, welche einen wirklichen, echten Stimmungsumschwung anzeigen, haben wir, wenn Abschläge nicht mehr aufgekauft werden.

Machen wir uns nichts vor: die Wahrscheinlichkeit, einen nachhaltigen Richtungswechsel zeitnah zu erwischen ist so hoch, wie die Wahrscheinlichkeit vorhersagen zu können, wie viele Menschen am Morgen im Bus blaue Socken tragen. Fahren wir jeden Tag zur gleichen Zeit, steigt allerdings die Chance, jeden Tag mit den gleichen Leuten zu fahren und sind wir aufmerksam, fallen uns an ihnen geregelte Feedbacks auf (umso eher, wenn wir wissen, auf was wir achten müssen). Dann steigen unsere Vorhersagewahrscheinlichkeiten, besonders wenn wir dabei Umfeld und Akteur (Wetter, Alter der Fahrgäste, Gruppenzugehörigkeit) im Blick haben.

Die Rahmenbedingungen sind derzeit noch immer pro Aktie – deshalb gibt es derzeit noch keine Verkäufe / Hedges auf breiter Front. Die Geldpolitik ist taubenhaft, Zinsanhebungen sehen wir vorerst nicht. Aber auch hier gab es letzte Woche Veränderungen im Umfeld: es fing Ostermontag an. Die US-Regierung will noch massiver als bisher gegen das iranische Ölgeschäft vorgehen, folglich werden Ausnahmeregelungen, die einigen Ländern bislang weiterhin den Import iranischen Öls erlaubten, Anfang Mai beendet. An den Finanzmärkten wurde zu Wochenbeginn eine weitere Verknappung des Öl-Angebots befürchtet, was den Öl-Preis nach oben katapultierte. Öl / Energie ist (wie die jüngsten Inflationszahlen allerdings zeigten) der Inflationstreiber Nummer Eins. Allein über diesen Faktor kamen Inflationssorgen und damit ein mögliches vorzeitiges Umdenken der Notenbanken wieder auf den Tisch. Begleitet von schwachen Wirtschaftseinschätzungen durch die EZB, schob sich der USD beschleunigt aufwärts, der Euro fiel auf Kursniveaus, welche im Juni 2017 letztmals gesehen wurden.

Ein zweites Thema wurde damit angeschnitten – im Markt wenig diskutiert, aber jedem Akteur als Risiko bewusst: wie wird China reagieren? Wird die aufstrebende und immer selbstbewusster werdende Wirtschaftsnation den USA Folge leisten und die Käufe von iranischem Öl einstellen? In einer ersten Reaktion hatte China das bereits zurückgewiesen und ob die USA tatsächlich so weit gehen und Sanktionen gegen China verhängen würden, ist auch im Hinblick auf die laufenden Handelsgespräche unsicher. Doch könnten die USA mit verschiedenen Ländern unterschiedlich umgehen? Den einen nehmen sie in den Schwitzkasten, den anderen nicht? Kaum vorstellbar. Im Markt wirkt sich das Thema bisher kaum aus.

Zum Wochenende hin beruhigte sich das Thema wieder. Zum einen dämpfte eine überraschend deutliche Zunahme der US-Öllagerdaten die Sorgen vor einer Unterversorgung. Aber auch andere Meinungen schwelgen im Markt. So hieß es am Donnerstag, Investoren wägten derzeit die Wahrscheinlichkeit ab, ob die großen Ölförderländer als Reaktion auf die härteren US-Sanktionen gegen den Iran tatsächlich mit einer höheren Förderung reagieren. In der Presse hieß es dazu, es gebe hierzu Zweifel, da derzeit zwei der drei wichtigsten Förderländer aktiv versuchen würden, die Produktion zu drosseln, um „das Marktgleichgewicht wiederherzustellen“ und „zudem die Preise anzuheben“, heißt es weiter. Es bleibt spannend am Öl-Markt und sein Einfluss auf uns ist höher als manch einer denken mag.

Die Warnungen im Bezug auf mögliche konjunkturelle Abschwächungen sind präsent, aber aktuell können wir feststellen, dass die Zahlen nicht das Stimmungsbild widerspiegeln. Nun ja, die Zahlen zeigen das was WAR und das was IST, die Warnungen betreffen das WAS KOMMEN SOLL. Und bekanntlich fokussiert die Börse auf Letzteres, aber dennoch: die Empfehlungen der Analystengilde bis vor drei / vier Wochen, sich bevorzugt in konjunkturunabhängigen Werten zu positionieren zielte ja auf zukünftige Entwicklungen. Die dann eingesetzten und noch immer laufenden Umschichtungen erhielten ihren Anstoß über rückwirkende Zahlen.

Noch ist die Stimmung gut, noch ist das charttechnische Bild der meisten Werte gut oder neutral. Noch ist Kaufwille da – gibt es Abschläge, steht Liquiditätsnachschub wieder rasch „auf der Matte“. Folglich spielt die Musik noch oder wir glauben es zumindest, und zwar wir alle. Aber sie ist leiser geworden. Ich persönlich gehe davon aus, dass wir im letzten Fünftel des aktuell laufenden Aufwärtsimpulses sind, vor einer Reaktion. Ausmaß und Dauer einer möglichen Reaktion kann ich nicht abschätzen, weil ich nicht weiß, wie jeder einzelne Akteur reagieren wird, auf was immer jetzt kommt. Somit bleibt jeder Tag spannend und wir halten das Ohr weiterhin an die Gleise.

Ich wünsche uns allen eine erfolgreiche Handelswoche

Uwe Wagner

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2 Kommentare

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  • trend-x
    trend-x

    Entgegen vieler anderer Beiträge hier, sind Ihre Analysen sehr fundiert, umfassend strategisch, reflektierend und von hohem Nutzwert! Es ehrt Sie, nicht vorzugeben eine Glaskugel zu besitzen, sondern die Zusammenhänge nüchtern und sachlich zu durchleuchten. Immer interessant zu Lesen, insbesondere in Zeiten, in denen die konjunkturelle Datenflut nicht einfach einzuordnen ist! 👍🏼

    09:22 Uhr, 29.04.2019
  • Generik
    Generik

    Herr Wagner,

    wie immer aufschlußreich, einfach brilliant. Sie sind ein Meister der Marktanalyse! Schwer zu lesen, perfect in der Auffassung. Danke

    08:26 Uhr, 29.04.2019

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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