Kommentar
16:24 Uhr, 20.12.2015

Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Wechsel von Simulation hin zum Echtgeldhandel?

Eine der wohl bedeutungsschwersten Fragen, welche einen angehenden Trader im kurzfristig ausgerichteten scalping-lastigen Handel umtreibt, ist die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Wechsels vom simulierten Handel hin zum Handel in Echtgeld.

Erwähnte Instrumente

Kaum ein anderes Thema wirft seine Schatten so weit voraus wie dieses und bildet so ausgeprägt die Grenze zwischen „vorher“ und „nachher“. Auch wenn dieses Thema bereits immer wieder Gegenstand der Diskussionen war, möchte ich im Folgenden dennoch den Faden erneut aufnehmen und einige Aspekte dazu diskutieren.

Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass diesem Thema emotional eine höhere Bedeutung beigemessen wird, als ihm tatsächlich zukommt. Der „große Schritt“, den man in seiner Trader-Entwicklung meist dem Wechsel von Simulation in Echtgeld zurechnet, erfolgt tatsächlich viel früher, nur wird dieser dann tatsächlich „große Schritt“ für gewöhnlich nicht als ein solcher empfunden. Aber dennoch ist Fakt, dass gerade dann, wenn der Wechsel in den „echten“ Handel erfolgt, die größten Probleme, Rückschritte und Fehler auftreten – was beweist, dass es nicht konkrete fundamentale Faktoren sind, welche den natürlichen Übergang erschweren, sondern nur und einzig und allein der „eigene Kopf“. Für gewöhnlich wird diese Diskussion sehr emotionsgeladen geführt - ich möchte versuchen, dieser Diskussion etwas Sachlichkeit gegenüberstellen. Ich möchte dazu zunächst die einzelnen Bausteine betrachten, mit denen wir uns zu Beginn unserer Trader-Entwicklung auseinandersetzen müssen, versuche diese dann in eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge zu bringen und dann suchen wir die wirklichen Stellschrauben, denen die eigentliche große Bedeutung zukommt. Der Wechsel von Simulation zu Echtgeld ist es jedenfalls nicht.

Beginnen wir mit unserer Aktivitätsfläche, dem Markt. Auf den dort stattfindenden Kursentwicklungen liegt ja unser Hauptfokus. Hier handeln wir in der Simulation, hier handeln wir irgendwann auch in Echtgeld. Aber dieser Markt ist immer gleich. Der Markt verändert sich nicht, wenn wir in Simulation oder real handeln – er bleibt so wie er immer ist: gleiches Tempo, gleiche Volatilität, gleiche Marktteilnehmer, gleiches Bewegungsverhalten. Da wir beim Übergang von Simulation hin zum Echtgeldhandel weder den Markt, noch das Zeitfenster, noch die Instrumente und auch nicht die Regelwerke verändern, sondern andersherum uns sogar „verbessern“, da die mitunter simulationstypischen und teilweise utopischen Slippage-Ausführungen dann so nicht mehr auftreten, wird deutlich, dass der Markt von Beginn an und dann über die gesamte Zeit unseres Handels eine gleichbleibende Bedeutung für uns hat.

Wenn wir den Markt selbst aber als unveränderliche Arbeits- und Projektionsfläche verstehen, müssen wir den Kern des Problems, nämlich den Krampf beim Umlegen des Schalters, woanders suchen, nämlich bei uns selbst. Ich möchte dazu etwas ausholen:

Der 1996 verstorbene US-amerikanische Experimentalpsychologe Robert Nisbett befasste sich viele Jahre seiner Forschung mit der Frage, wie der kulturelle Hintergrund unser Denken prägt. Auch wenn hier kein Bezug zum erfolgreichen Handel an der Börse gezogen werden sollte, lassen sich aus den Ergebnissen dieser Forschung interessante Erkenntnisse für unser Problem ableiten. Ein für ihn überaus interessantes Ergebnis seiner Befragungen und Experimente ergab, dass wir Menschen in der westlichen Welt sehr deterministisch denken. Wir glauben, Ereignisse steuern zu können, wenn wir die Gesetze kennen, welche das Verhalten dieser Subjekte bestimmen[1]. Diese Denkweise erfährt bereits ihre erste Weichenstellung im Kleinstkinderalter. So verwenden seiner Beobachtung nach amerikanische Mütter über das Füttern, dem Spielen, bis hin zur allgemeinen Umgangssprache etwa doppelt so viele Hauptwörter (was übrigens auch für Europäer gilt), als z.B. japanische Mütter, welche beispielgebend für einen Kulturkreis stehen, der sich durch relativ komplexe soziale Netze mit vorbestimmten Rollen auszeichnet. Japanische Mütter betonen dagegen Beziehungen, was sich in ihrer Wortwahl niederschlägt. Daraus ergibt sich übrigens ein interessanter Nebeneffekt: ostasiatische Kinder lernen fast doppelt so schnell neue Verben als Hauptwörter und auch schneller als westeuropäische bzw. amerikanische Kinder. Diese wiederum sind darauf geprägt, Hauptwörter zu erlernen.

Weitergehende Experimente, welche ich jetzt hier nicht auflisten möchte, um den Rahmen nicht zu sprengen, welche aber im angegebenen Buch nachgelesen werden können[2], zeigten eine Vertiefung dieser Denkweise, nämlich dass wir sowohl bei der Betrachtung von Bildern, als auch von Prozessen und Entwicklungen den Kontext zu Gunsten des darin stehenden Subjekts vernachlässigen. Das heißt konkret: wir neigen dazu, drei Viertel eines Bildes einer sich rasch verändernden Welt zu ignorieren, um uns auf das Subjekt zu fokussieren. Dabei verlieren wir die „unkontrollierbare Energie“ ihrer Umgebung aus dem Blick, was dann eben zu einem ziemlich verengten bzw. verzerrten Bild führt. Um es noch konkreter zu machen und auf einen Punkt hinzuführen, der dann wieder den Bogen hin zu unserem Handel und die Schnittstelle bringen soll, welche den eigentlichen großen Schritt manifestiert, möchte ich noch auf eine im gleichen Buch erwähnte Studie einer japanischen Historikerin hinweisen, welche methodische Unterschiede im Geschichtsunterricht westlicher und japanischer Lehrer untersucht hatte. Dabei wurde aufgezeigt, dass Amerikaner (und das gilt auch für uns Westeuropäer) dazu neigen, mit dem Ergebnis zu beginnen. Wir reduzieren damit z.B. Geschichte, aber auch andere Aspekte, wie z.B. das, was an der Börse geschieht, auf eine Art Kuchenrezept. So formulieren wir beispielsweise: „Nennen Sie fünf Gründe, warum Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hat“. Wir reduzieren unsere Herangehensweise auf „drei Teelöffel Revolution und eine Tasse religiöser Wahnsinn“, ohne die enorme Komplexität des Themas wirklich zu durchdringen. Wir neigen ja für gewöhnlich auch an der Börse dazu: einige „Experten“ versuchen ihr „Spezialgebiet“ völlig zu „durchdringen“ und streben nach einem vollkommen abgeschlossenen Verständnis. Diese Denkweise ist aber falsch, sie führt uns immer wieder in die Sackgasse. Sei es in der Politik, sei es in der Wirtschaft, sei es bei der Beurteilung der Kursverläufe an der Börse, sei es beim Übergang vom Simulationshandel, hin zum Echtgeldhandel.

Auswertungen vom Vorgehen wirtschaftlich erfolgreicher Unternehmenslenker, erfolgreicher Militärstrategen oder aber auch erfolgreichen Geheimdienstorganisationen, bis hin zum Verstehen funktionierender Terrorstrukturen oder aber auch profitablen Börsenhändlern zeigen eine sehr auffällige gemeinsame Schnittmenge – das Fehlen punktueller, isoliert betrachteter Vorgehensweisen, sondern das Akzeptieren und Verstehen aller Puzzlesteinchen im Gesamtkontext. Kein einzelnes Betrachten eines vom Rest getrennten Bausteins führt zum Erfolg, sondern die möglichst vollständige Einbeziehung aller Teilchen und die Bereitschaft, die Gewichtungen dieser Bausteine permanent verändern zu können, je nachdem, wo Handlungsbedarf vorurteilsfrei erkannt wird.

Kommen wir auf unser Thema zurück. Das Hinarbeiten auf eine vermeintliche Schallmauer, nämlich der Sprung aus der Simulation in das Handeln echten Geldes, wird durch unser punktiertes Denken zu einem Ereignis aufgeblasen, welches uns erschauern lässt, ohne dass wir die angebliche schwere Bedeutung wirklich belegen können.

Die wirklichen Weichenstellungen erfolgen tatsächlich früher. Und ich rede bewusst von mehreren Weichenstellungen und nicht einer einzigen. Ein Quantensprung erfolgt, wenn man seine Handelsoberfläche sicher beherrscht. Ein zweiter Baustein ergänzt das Fundament, wenn man versteht, was und vor allem warum etwas an der Börse geschiert. Hier ist gemeint zu wissen, welche Akteure am Markt tätig sind und was diese da eigentlich machen. Damit meine ich: WIRKLICH machen und nicht vermeintlich machen könnten. Besonders in unserem Handelszeitfenster, dem scalping-lastigen Kurzfristhandel kommt diesem Verständnis eine substanzielle Bedeutung zu. Dieses Verständnis wird umso wichtiger, als dass man verstehen muss, dass etwa 90 Prozent aller marktbewegenden Handelsteilnehmer ganz konkrete, klar definierte und streng abgegrenzte Arbeitsbereiche haben. Es sind also nicht die großen Visionäre, die langfristigen Investoren oder die weitsehenden Analysten, welche den Markt und damit den Kursverlauf dominieren, sondern es sind die Akteure, welche zur Umsetzung eben dieser Visionen, Investments oder Markteinschätzungen ihre tagtägliche Arbeit am Markt durchführen. Es sind die Kommissionshändler, welche Orders abarbeiten, es sind die Arbitrageure, welche Marktungleichgewichte ausnutzen und es sind die Optionshändler, welche die Kasse mit dem derivaten Markt verknüpfen. Es sind aber auch die täglich im Markt aktiven kurzfristig ausgerichteten Händler, welche initiierte Kursbewegungen der umsatzstärkeren Marktteilnehmer ausnutzen und damit verstärken. Diese Akteure arbeiten sehr effektiv und sehr stringent in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet und setzen dabei auf jeweils bewährte und effiziente, damit auch antrainierte Vorgehens- und Umsetzungsweisen. Jede mehr oder weniger marktbewegende Gruppe hinterlässt durch ihr entsprechendes Vorgehen im Markt eine spezielle Spur im Kursverlauf. Da diese Gruppen auch nicht beliebig auf verschiedene Märkte aufteilbar sind, sondern auch hier spezialisiert arbeiten, sollte ein jeder Trader auch seinen konkreten einen Markt bearbeiten und sich in das Verstehen und Durchdringen der jeweiligen Arbeitsweisen der Gruppen vertiefen und damit das Lesen und Ausnutzen der Spuren erlernen.

Der dritte, ebenso wichtige Baustein ist das Verstehen des Ineinandergreifens der wenigen, klar definierten Handelsregeln, welche wir nutzen. Das schöne und damit eigentlich auch langweilige ist doch, dass wir jeden Tag, aber auch wirklich jeden Tag das gleiche tun.

Damit sind die drei grundlegenden Fundamentbestandteile beschrieben. Hier entscheidet sich bereits, aber im Grunde auch endgültig, ob wir diese drei komplexen, aber doch überschaubaren Bausteine jeden Tag so ineinanderlegen können, damit sich daraus ein effektiver und ertragssicherer Handel ergibt.

Ich hatte einmal im Zusammenhang mit dem Übergang vom Ausbruchs- und Wiedereinstiegs-Trading hin zum Contra-Handel gesagt / geschrieben, dass dieser Wechsel nicht punktuell angestrebt werden kann, sondern sich mit zunehmendem Verständnis dessen, was im Markt passiert und mit wachsender Fähigkeit, die Bücher der anderen lesen zu können von allein ergibt. Der erste erfolgreiche Contra erwächst aus dem Bedürfnis heraus, dass Gelernte und Verinnerlichte und das daraus resultierende Verständnis dessen, was als nächstes passieren sollte praktisch ausnutzen zu wollen. Und so, genauso muss der Wechsel von Simulation in Echtgeldhandel erfolgen. Sie haben alle Bausteine in der Hand und Sie haben Ihren Markt, in dem Sie sich jeden Tag bewegen. Der Markt ist gleich, alle Akteure machen jeden Tag das Gleiche, die Produkte funktionieren jeden Tag gleich, die Handelsoberfläche ist jeden Tag gleich, das Regelwerk ist unverändert. Sie haben Ihr Auswertungs-Tool, welches wie ein Autopilot jeden Ihrer Schritte aufzeichnet. Die Zielstellung muss nicht sein, auf den Punkt des Wechsels von Simulation hin zu Echtgeld hinzuarbeiten, sondern dieser Wechsel ist die natürliche Konsequenz aus einer nüchternen, realistischen Einschätzung, inwieweit Sie Ihr Fundament stabil, sicher und trocken haben. Der richtige Zeitpunkt ist gekommen, wenn Sie sich als Händler und Ihren erlernten Fertigkeiten vertrauen. Der richtige Zeitpunkt ist gekommen, wenn Sie sich wie einen Außenstehenden beurteilen und sagen können: „der ist gut und er wird immer besser, dem würde ich jetzt mein Geld anvertrauen“.


[1] Wer sich mit diesem Thema weiter beschäftigen möchte, findet interessante Abhandlungen dazu unter „Das Zeitalter des Undenkbaren“ von Joshua Cooper Ramo, erschienen 2009 im Riemann Verlag München. Konkret auf die Forschungsergebnisse von Nisbett wird ab Seite 178 eingegangen, wo er eine Gegenüberstellung asiatischer und westlich amerikanischer Denkweisen beschreibt und bewertet.

[2] „Das Zeitalter des Undenkbaren“ von Joshua Cooper Ramo, erschienen 2009 im Riemann Verlag München

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1 Kommentar

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  • rktrader
    rktrader

    Sehr, sehr guter Beitrag - für alle die etwas mehr wünschen als nur "geht der Kurs rauf oder runter".

    Lesenswert da weitergehende Aspekte ausserhalb der reinen Börse angesprochen werden - die Literaturempfehlung finde ich top - herzlichen Dank Herr Wagner !

    12:11 Uhr, 21.12. 2015

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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