Kommentar
15:59 Uhr, 17.08.2016

Marktüberhitzungen messen und profitabel handeln

Was sind Überhitzungen im Trendverlauf? Wie entstehen sie und wie und womit messen wir diese? Gibt es eine Möglichkeit, diese auch sinnvoll zu handeln? Ist die klassische Anwendung von Indikatoren dafür zweckmäßig oder lassen sich diese für unsere Zwecke optimieren?

Erwähnte Instrumente

  • DAX
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    Aktueller Kursstand:   (XETRA)

Eine der wohl wichtigsten Prämissen der Technischen Analyse ist die Annahme, dass sich Kurse in Trends bewegen.

Das heißt konkret: die Kursentwicklung von morgen steht in einer gewissen Beziehung oder Abhängigkeit zur Kursentwicklung von heute. Und diese wiederum hing ab von den gestrigen Kursbewegungen.

Diese unterstellte Abhängigkeit der Kurse untereinander steht diametral zu der Aussage, dass z.B. das Fallen einer Roulettekugel jedes Mal ein für sich gesehen unabhängiges Ereignis ist. Nur wenn wir diese Prämisse als RICHTIG akzeptieren, macht die Anwendung der Technischen Analyse Sinn!

Würden wir dagegen postulieren, dass der Kurs von heute in keinerlei Abhängigkeit zum Kurs von gestern steht und der Kurs von morgen völlig losgelöst von den Entwicklungen von heute generiert wird (dies ist übrigens die Argumentationsgrundlage der Random-Walk-Anhänger), würde die Suche nach möglichen Trends, würden Kurs-Zielbestimmungen und statistische Bewertungen von Kursmustern, ja – es würde selbst die Definitionen von Kursformationen, das Anlegen von Signal-Linien und das Auffinden möglicher Widerstands- oder Unterstützungsniveaus keinen Sinn machen. Und dann hätte auch die Suche nach Marktüberhitzungen keinen Nutzen, da eine profitable Handelbarkeit auf Grund der Unberechenbarkeit des Folgekurses unmöglich wäre.

Wir als technisch orientierte Marktteilnehmer gehen folglich von der Gültigkeit oben genannter Prämisse aus.

Kurse stehen in einer Abhängigkeit bzw. Wechselwirkung zu einander, sie bilden in ihrem Entwicklungsverhalten sogenannte Trends, deren Zuverlässigkeit (bei allen Zufälligkeiten, welche man „Rauschen“ nennt) zumindest insoweit akzeptabel hoch ist, als dass wir mit den gängigen Instrumenten der Technischen Analyse Marktdiagnosen durchführen und sinnvolle Szenariodiskussionen führen können.

Was wir allerdings auch als „Techniker“ akzeptieren müssen, ist die Tatsache, dass Bewegungstrends eines Kursverlaufes nur Tendenzen widerspiegeln. Innerhalb einer Trendbewegung ist eine gewisse Zufallskomponente selbstverständlich enthalten und nicht im Vorfeld exakt definierbar. Je kürzer das Betrachtungszeitfenster wird, wenn wir uns also in die Intraday-Kursanalyse hineinbegeben, steigt der Einfluss der Zufallskomponente an, was folglich Konsequenzen für die Vorgehensweise des jeweiligen Analysten / Marktbeobachter haben muss.

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In den letzten 100 Jahren und besonders in den letzten vierzig Jahren, ist ein ganz gewaltiges Sammelsurium an „Arbeitsinstrumenten“ geschaffen worden, um sich genau dieser Herausforderung zu stellen, nämlich das Herausfiltern der wirklich nützlichen, verwertbaren Information aus dem „Nebel der Zufälligkeiten“, wie es Statistiker gerne nennen.

Ihre Raffinesse stieg mit den Fortschritten der Hilfsmittel: solange nur Bleistift und Lineal zur Verfüg standen, fokussierte man sich auf das Anlegen von Trend-, Widerstands- und Unterstützungslinien, klassifizierte auffällige und scheinbar immer wieder auftretende Kursmuster (was man später in der klassischen Formationslehre zusammenfasste) und zog zunächst ungetestete, nicht belegte und somit diskretionäre Schlüsse über die zu erwartenden Folgebewegungen der Kursverläufe. Mit Einführung der Personal-Computer erlebte die sogenannte Markttechnik ihren Höhepunkt. Jetzt wurden Kursverläufe nicht mehr als das gesehen, was sie originär sind, sondern diese wurden mathematisch zerlegt. Jetzt ging es darum, Besonderheiten des Kursverlaufes herauszufiltern und diese wiederum zur Szenariodiskussion heranzuziehen.

Doch es kam noch eine weitere, zusätzliche Komponente hinzu: jetzt war man erstmals in der Lage, mögliche zukünftige Bewegungstendenzen auf der Grundlage vorangegangener „Kurskonstellationen“ tatsächlich einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit zuordnen. Es wurde möglich, filigraner an die Analyse, Bewertung und Beurteilung von Kursverläufen heranzugehen und die oben noch plump als Prämisse titulierte Unterstellung der Trendfähigkeit von Kursen, als Tatsache zu belegen.

Über die Jahre teilten sich die Lager der markttechnischen Arbeitsinstrumente untereinander auf...

...wobei wir zwei Schwerpunktfelder der markttechnischen Kursbeurteilung definieren wollen: nämlich die Instrumente, welche die mögliche Trendrichtung in jedem unterlegten Zeitfenster „suchen“ und „definieren“ und jene, welche die „Qualität“ einer Trendbewegung, aber auch eines Kursimpulses im kürzesten sinnvollen Zeitfenster bewerten. Dieser „Qualitätsbewertung“ eines Trends oder auch Bewegungsimpulses kommt eine hohe Bedeutung zu. Erstmals versuchte man damit, in das „Rauschen der Zufälligkeiten“ einzudringen um zumindest früher erkennen zu wollen, wann der untersuchte Bewegungsimpuls kippen könnte. Warum tun wir das?

Trends, egal in welchem Zeitfenster beurteilt, verlaufen nicht schnurgerade. Das hat ein jeder, der sich schon einmal Kursverläufe angesehen hat, bereits erkannt. Wir können die Zeitfenster beliebig herunterbrechen oder erweitern, das Verlaufsmuster ist immer das gleiche: es gibt übergeordnete Bewegungstendenzen, geprägt von Impuls und Reaktion.

Jede Impuls- oder Reaktionsbewegung für sich genommen ist in dem nächst kleineren Beurteilungsfenster wiederum geprägt von Impuls- und Reaktionsbewegungen und so können wir uns vom Monat- bis zum Minutenchart hinunterhangeln, wir finden zumindest in diesem Aspekt eine immer wiederkehrende Konstante. Da Trends in allen Zeitfenstern auch nicht „ewig“ laufen, sondern je nach Lage der Stimmung am Markt, beeinflusst durch wirtschaftspolitische, monetäre u.ä. Einflussfaktoren, ihre Bewegung beschleunigen, verlangsamen oder die Richtung ganz ändern, ging das Bestreben der Experten dahin, möglichst frühzeitig Indikationen zu erfassen, welche auf eine jeweilige Entwicklungsmöglichkeit verweisen.

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In den seltesten Fällen reißen Trendbewegungen einfach ab. So etwas geschieht nur bei außergewöhnlichen Ereignissen. Im überwiegenden Falle kündigen sich solche Richtungswechsel an. Deren Vorwarnzeit baut sich hierbei kaskadenförmig vom kürzesten Zeitfenster jeweils zum nächst höheren Zeitfenster auf, was auch als „fraktale Entwicklung“ bezeichnet wird.

Der Grund dafür, warum sich solche Prozesse in der Regel nicht schlagartig durchsetzen, sondern „ihre Zeit“ brauchen ist, dass Kurse nicht von einzelnen Akteuren gemacht werden, sondern eine „kollektive“ Gesamtheit der Marktteilnehmer dahintersteht, die mit ihren unterschiedlichsten Anlagestrategien und Anlageinteressen unterschiedlich rasch auf bestimmte Ereignisse, Meinungen und Geschehnisse reagieren. Folglich können auch nur „große“ Ereignisse kollektive Schockreaktionen erzeugen, welche sich schlagartig in einem gemeinsamen Handeln auswirken.

Wenn wir also unterstellen, dass die Millionen von Akteuren an den Märkten nicht wie eine Armee auf einen Wink hin ihre Meinung und damit Ausrichtung ändern, sondern vielfältigste Interessen erst einen Umdenkungsprozess in Gang setzen müssen, kommt der Richtungsmessung eines Trends eine sehr hohe Bedeutung zu, der Bestimmung der Qualität des Trends aber mindestens die gleiche Bedeutung, wenn nicht sogar eine noch höhere. Wir können aber zumindest mit Sicherheit aussagen, dass mit abnehmendem Zeitfenster der Beurteilung, somit z.B. der Wechsel vom Tages- in den Intraday-Bereich, bzw. der Wechsel vom Stunden in den 30 Minuten-Chart und dann gar in den 3 Minuten-Chart, die Bedeutung der Qualitätsbeurteilung deutlich ansteigt.

Und jetzt kommen wir unserem eigentlichen Thema näher: wir wollen uns der Qualitätsmessung eines Trends oder Bewegungsimpulses zuwenden und damit Überhitzungen herausfiltern.

Wie entstehen Überhitzungen und womit messen wir diese?

Jede der beiden Hauptgruppen, in welche die Markttechnik unterteilt wird (also Richtungsbestimmung und Qualitätsbewertung), hat ihren eigenen, jeweiligen Mutter-Indikator. Bei der Richtungsbestimmung ist es der gleitende Durchschnitt, bei der Qualitätsbewertung ist es das Momentum. Sie können sich nahezu jeden Indikator ansehen, dessen Zielsetzung darin besteht, auf die eine oder andere Art Richtung oder Qualität zu bewerten, am Ende des Zerlegungsprozesses kommen Sie entweder bei einer Form irgendeines gleitenden Durchschnitts oder der Momentumbestimmung an.

Alle Indikatoren, welche der Ermittlung der Richtung eines Trend- oder Impulsverlaufes dienen, nennen wir „Trendfolger“, alle Indikatoren, welche der Qualitätsbestimmung eines Bewegungsablaufes dienen, nennen wir „Oszillatoren“.

In der Theorie ist der Einsatzgedanke beider Indikatorgruppen einfach genial: man nehme einen Trendfolger, welcher uns eine Idee der Richtung des Hauptimpulses gibt und ergänzen diesen durch einen Oszillator, welcher uns aufzeigt, ob der Trend oder Bewegungsimpuls kraftvoll oder erschöpft ist, „jung und dynamisch“ oder bereits in seiner überalterten Schlussphase.

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Um sich eine solche Indikation anzeigen zu lassen, wurde die Terminologie der „Überhitzung“ eingeführt. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass Handlungsaktivitäten an der Börse (also verstärkte Käufe oder verstärkte Verkäufe) nicht „der Reihe“ nach abgearbeitet werden, sondern in Schüben auftreten. Wie eine Lawine werden plötzlich mehr als üblich aktive Marktteilnehmer in der gleichen Zeiteinheit in den Markt gesogen, was sprunghaft zu „unnormalen“ oder „abweichenden“ Beschleunigungen vom „Normal“ führt.

Es treten folglich Kursbewegungen auf, welche die Notierungen von ihrem „geraden“ Wege, welcher über den geglätteten Durchschnitt symbolisiert wird, kurzzeitig „wegschieben“. Ist diese Kauf- oder Verkaufswelle dann jedoch wieder im Abebben, nähert sich der Kurs dem eigentlichen Richtungsweg wieder an.

Der amerikanische Markttechniker Martin Pring brachte einmal das Beispiel auf, dass der Kurs eines Börsenwertes wie ein Hund an der Leine um sein Frauchen / Herrchen herumspringt, am Ende aber dem Hundeführer folgt. Nur wenn der Hund „dauerhaft“ in eine Richtung zieht, wechselt der Hundeführer die Richtung.

Was ist nun eine „Überhitzung“?

Um die Theorie der „Überhitzung“ besser zu verstehen und zu verinnerlichen, macht es Sinn, sich eine solche Phase einmal zu visualisieren. Stellen Sie sich vor, eine Vielzahl von Akteuren möchte auf steigende Kurse setzen, zögert aber noch, da der Kurs momentan noch seitwärts tendiert und man nicht zu früh in den Markt springen will, man könnte sich ja in seiner Einschätzung und der Erwartung auf steigende Kurse irren.

Eine andere Gruppe von Akteuren hat den gleichen Wert bereits verkauft, da diese mit fallenden Kursen rechnen und nun darauf warten, tiefer wieder eindecken zu können. Folglich sind diese ebenfalls potenzielle Käufer. Jetzt kommt Bewegung in den Markt. Erste Käufer greifen zu, weitere Akteure fühlen sich bestätigt in ihrer optimistischen Einschätzung und werden als Käufer ebenfalls aktiv. Der Kurs steigt und erreicht erste Stopp-Orders, welche nun zu beschleunigten Ausführungen auf der Kaufseite führen.

Jetzt wird die breite Masse der potenziellen Käufer wach und springt auf. Folgerichtig beschleunigt sich die Aufwärtsbewegung, da die Nachfrage aggressiver in den Markt drängt. Nun werden auch die letzten Zweifler mutig und kaufen und wer im Vorfeld auf fallende Kurse gesetzt hatte, muss ebenfalls schleunigst kaufen, um die aus dem Short entstehenden Verluste einzugrenzen. Der Kursanstieg beschleunigt sich pro Zeiteinheit. Sind alle Orders abgearbeitet, verringert sich das Anstiegstempo des Kurses. Jetzt kommen die Notierungen an einen Punkt, wo verstärkt Angebot in den Markt drängt, was den Anstieg völlig zum Erliegen bringt und temporär sogar wieder Kursrücksetzer verursacht.

Sehen wir uns jetzt das Ganze einmal unter „mathematischen“ Gesichtspunkten an, was hier passiert ist. Dazu wenden wir uns der einfachsten Formel der Momentum-Berechnung zu. Das Momentum bildet im Grunde nur grafisch ab, wie sich der Abstand des letzten Bezugskurses (sagen wir der Schlusskurs einer Zeiteinheit – wie in einem drei Minuten-Chart, oder Stunden-Chart) zum Bezugskurs von vor X Zeiteinheiten verändert.

Konkret: Sehen wir uns für den Intraday-Handel relevant, einen 10 Minuten-Chart im FDAX an, mit Kursen vom 21. März (2014). Wir „greifen“ zur Illustration des Gesagten einmal mitten hinein. Um 15:10 Uhr schloss die Kerze mit einem Kurs bei 9.330,50 Punkten. Zehn Zeiteinheiten weiter, also 10 x 10 Minuten bzw. 10 Kerzen weiter, also um 16:50 Uhr, lag der Kerzenschlusskurs bei 9.380 Punkten.

Zur Errechnung eines 10er Momentums, würden wir jetzt die Differenz zwischen dem letzt gemessenen Schlusskurs bei 9.380 und dem Schlusskurs von vor 10 Zeiteinheiten bei 9.330,50 ermitteln und kämen auf einen Wert von 49,50 Punkten.

In der darauffolgenden Messung sehen wir uns die Differenz zwischen dem nächsten Kerzen-Schlusskurs (jetzt bei 9.379,50) und dem nächsten Schlusskurs an, welcher der 9.330,50 folgte, in diesem Falle die 9.334,50. Diese Differenz beträgt jetzt 45 Punkte. Der Abstand dieser beiden Schlusskurse hat sich folglich verringert, nämlich um 4 Punkte. Würden wir jetzt diese beiden Punkte in einem Zeit / Preisdifferenz-Diagramm abtragen und miteinander verbinden, hätten wir eine erste fallende Linie. Auf diese Weise rechnen wir jetzt immer weiter, d.h. es wird immer der nächste neu generierte Schlusskurs mit dem von vor 10 x 10 Minuten subtrahiert, so dass sich eine richtige Kurve in genanntem Zeit / Preisdifferenz-Diagramm abtragen lässt.

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Was können wir bereits ableiten?

Würde ein Markt auf der Stelle treten und der Kurs sich z.B. nicht bewegen – jeder Schlusskurs pro Zeiteinheit wäre immer wieder identisch zu dem Kurs von vor 10 x 10 Minuten, läge ein 10er Momentum „auf der Seite“. Die Kurve wäre keine Kurve, sondern eine Gerade auf der Nulllinie. Wenn der Kurs dann endlich anspringt und sich immer mehr Käufer gleichzeitig entschließen, immer aggressiver zu kaufen, beschleunigt sich der Kursanstieg, was naturgemäß den Abstand des jeweils letzten Kerzen-Schlusskurses zu dem von vor 10 x 10 Kerzen-Schlusskurses davor vergrößert. Was passiert? Die Kurve schnellt in die Höhe. Jetzt erreicht der Kurs seine Plateauebene und geht in eine Konsolidierung über.

Rein mathematisch gesehen werden sich jetzt zunächst die Abstände zwischen die jeweils um 10 Kerzen auseinanderliegenden Schlusskursen nicht mehr vergrößern, so dass die Momentumkurve ebenfalls in die Seitwärtsphase mündet und dann, mit fortschreitender Konsolidierung, schmilzt der Abstand der Schlusskurse zueinander wieder zusammen, was die Momentum-Kurve fallen lässt.

Die nachfolgende Kurve demonstriert genau diese Entwicklung sehr gut:

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Mit dieser einfachen Herangehensweise war der Analyst / Händler / Marktbeobachter plötzlich in der Lage, unabhängig vom Kursverlauf selbst feststellen zu können, dass der Kursverlauf in einer Bewegungsphase Schwungkraft aufbaute und diese auch irgendwann wieder verlor. Und da sich der Analyst / Händler / Marktbeobachter über die Berechnungsmethode des Momentums im Klaren war, wusste er, was gerade mit den Kursen geschieht und konnte sich seine Schlüsse daraus ziehen.

Aber: eine richtige Bewertung, welche eventuell sinnvoll in eine Handelsstrategie umgesetzt werden könnte, lag noch immer nicht vor. Der Amerikaner Welles Wilder nahm sich diesem Problem an und nutzte das Konzept des Momentums, um 1978 daraus den Relative Stärke Index (das RSI) zu entwickeln, welcher bis heute einer der am meisten eingesetzten Indikatoren ist. Um es ganz platt zu sagen: das RSI ist im Grunde ein „indexiertes Momentum“. Durch das „ins Verhältnis setzen“ der durchschnittlichen aufwärts ausgerichteten Kursveränderung mit der durchschnittlichen abwärts ausgerichteten Kursveränderung, erhielt er einen Index, welcher sich jetzt in einer Werteskala von 0 und 100 bewegt. Jetzt konnte man erstmalig Bereiche bestimmen, in denen der Kaufdruck und das Tempo des Kursanstieges oder auch der Verkaufsdruck und das Tempo des Kursrückganges Niveaus erreichte, in denen man von einer Überhitzung sprechen konnte. Es entwickelte sich die Faustregel, wonach ein RSI über 70 eine überkaufte bzw. eine nach oben hin überhitzte Marktphase signalisierte und ein RSI unter 30 eine überverkaufte bzw. nach unten hin überhitzte Marktphase anzeigte.

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Erstmals war man jetzt auch in der Lage, klare statistische Bewertungen durchzuführen, in wieweit eine definierte überhitzte Marktphase tatsächlich zu einer gewinnbringenden Impulsumkehr führte. Dazu wurden Regelwerke entwickelt, welche auch heute noch eine weit verbreitete Anwendung finden. Extremzustände wurden signalisiert, wenn die RSI Kurve in den definierten Extrembereich (über 70 oder 80 auf der Oberseite oder 30 oder 20 auf der Unterseite (je nach Adjustierung)) eindrang, eine Handlungsaktivität wurde in der Regel ausgelöst, wenn der Kurs den entsprechenden Extrembereich wieder verließ.

Im Zuge der Arbeiten mit diesem Indikator wurde noch eine dritte interessante Eigenschaft des Indikatorverlaufes deutlich: das Aufspüren von Divergenzen. Da die RSI Kurve die Schwungkraft, mit der eine Trendentfaltung vor sich geht misst, wird eine nachlassende Kraft, mit der sich ein Trend in der erwarteten Schlussphase fortsetzt, durch immer geringer werdende Ausschläge der RSI Kurve signalisiert.

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Liest man die entsprechende Fachliteratur zum RSI, könnte man in Verzückung geraten, da dieser Indikator wahre Kunststücke vollbringen müsste. Doch kommt er in seiner klassischen Herangehensweise zum realen Einsatz, ist die Enttäuschung nicht weit.

Der RSI im Praxistest

In einem Praxistest zum Auffinden und Handeln von Überhitzungen nutzten wir einen Tageschart (dort hat der Indikator die häufigsten Anwendungen) und wir setzten zudem die von Wilder vorgegebene Standardeinstellung von 14 Zeiteinheiten ein – in diesem Falle somit von 14 Tagen. Diese Vorgehensweise lässt sich auch in kürzeren Zeiteinheiten anwenden, heruntergebrochen bis in den intraday-Bereich. Hierbei definierten wir jetzt folgende zu messende Kriterien:

- der FDAX-Kursverlauf gilt als überkauft, wenn die RSI-Kurve in ihrer Skala von 0 bis 100 Prozent über 70 steigt;

- der FDAX-Kursverlauf gilt als überverkauft, wenn die RSI-Kurve in ihrer Skala von 0 bis 100 Prozent unter 30 fällt;

- wir würden eine Long-Position aufbauen, wenn die RSI-Kurve ihren überverkauften Bereich von unten nach oben hin verlässt, d.h. konkret, wenn die 30 Prozentlinie überwunden wird und halten diese Position, bis die RSI-Kurve ihre Mittellinie bei 50 Prozent übersteigt;

- wir würden eine Short-Position aufbauen, wenn die RSI-Kurve ihren überkauften Bereich von oben nach unten hin verlässt, d.h. konkret, wenn die 70 Prozentlinie unterschritten wird und halten diese Position, bis die RSI-Kurve ihre Mittellinie bei 50 Prozent unterschreitet;

- einen Stop-Kurs wollten wir für die Bewertung zunächst nicht verwenden;

Das Ergebnis fiel über alle Maße enttäuschend aus. Wäre man diesem klassischen Regelwerk gefolgt, hätte man sich in der gemessenen Zeit 40 Mal eine Überhitzung erfasst und uns dem Regelwerk nach positioniert, wovon 23 Geschäfte im Minus geschlossen worden wären, was insgesamt zu einem Negativergebnis führte. Es wurde ein Profit-Faktor von 0,31 ausgewiesen und sah man sich die Ertragskurve an, dann zeigte diese steil nach unten.

Während meiner Zeit in einem großen deutschen Kreditinstitut, in der ich den technisch orientierten Handel mit verantwortete, fanden wir uns jedoch mit solchen Ergebnissen nicht ab, da uns die Idee, welche hinter dem RSI-Konzept steht, als schlüssig erschien. Wir änderten die Regeln nun dahingehend, dass wir uns in Trendrichtung positionieren, wenn die RSI Kurve in einen Extrembereich eindringt und stellten glatt, wenn diese schließlich wieder fällt und die Mittellinie ihrer Skale entgegengesetzt der Impulsrichtung über- / unterschreitet. Damit „handelten“ wir entgegen der klassischen Ausgangsregel. Wir wollten jetzt mit beginnender Überhitzung kaufen (oder verkaufen auf der Unterseite) und mit „Normalisierung“ der Entwicklung glattstellen. Das Ergebnis verbesserte sich schlagartig:

Im gleichen Zeitraum wurden nun zwar nur 38 Trades generiert, das Gesamtergebnis war jetzt allerdings positiv. Der Profit-Faktor schnellte auf 1,45 hoch, die Trefferquote allgemein erreichte die 60,53 Prozent. Die Ertragskurve selbst zeigte sich jedoch überaus volatil, was die berechtigte Frage aufwarf, ob man diesen Ansatz in dieser Form hätte handeln können. Wahrscheinlich wohl nicht, es sah sogar so aus, dass wir nur deshalb mit einem Gewinn abschnitten, weil die Messreihe gerade zu diesem Zeitpunkt endete. Aber: im Gegensatz zum Originaleinsatz, konnte zumindest temporär Geld verdient werden, während in der Ursprungsversion das Geld stetig und sehr konsequent vernichtet worden wäre.

Ist demnach die Theorie der Überhitzungen nicht handelbar?

Wir fragten uns: sind die Überhitzungen, welche wir in Anlehnung an die in sich logische Auslegung herausfiltern nicht sinnvoll handelbar? Doch wenn es so wäre, hätte der gesamte Ansatz keinen Sinn. Wozu Überhitzungen suchen, wenn man diese nicht wirklich gewinnbringend im Handel ausnutzen kann?

Dennoch, das Konzept, die Idee des RSI gefiel uns weiterhin. Es war reizvoll, einen Indikator zum Einsatz zu bringen, welcher uns eine handelbare Indikation liefert, wann ein Markt WIRKLICH überhitzt, also überkauft oder überverkauft ist und auf dessen Grundlage sinnvolle Positionierungen denkbar sind.

Wir stellten uns die Frage: was müssten wir ändern? Was gefällt uns an der bisherigen RSI Definition und was sollten wir vielleicht anders machen? Interessant blieb die Idee, eine flexible Darstellung der sich verändernden Beschleunigung einer Kursbewegung aufzuzeigen, somit die Berechnung der RSI-Linie selbst.

Als weniger optimal sahen wir den starren Rahmen an, innerhalb dessen sich die RSI-Kurve bewegt. Im Grunde versucht man hier mit einem starren Lineal einen sich flexibel bewegenden Markt zu bewerten. Das ist vergleichbar, als wenn Sie ein lebendes Tier mit seinen geschmeidigen Konturen mit starren Linien zeichnen wollen.

Das Hauptproblem wurde folglich in den Extremzonen identifiziert. Wir wollten uns folglich etwas einfallen lassen, um diese starren Extremzonen ebenfalls „flexibel“ zu machen. In der klassisch gültigen Version, bewegt sich ein Kurs in einem intakten, hochdynamisch verlaufenden Trend in einen starr ausgewiesenen Extrembereich hinein, obwohl der Markt selbst vielleicht noch gar nicht wirklich bereits „überhitzt“ ist. Geht der Kurs dann in eine Reaktion über, rutscht die RSI-Kurve im klassischen Messverfahren bestenfalls in den neutralen Bereich zurück, obwohl er vielleicht bereits jetzt schon in einem neuen, entgegengesetzten Extremniveau sein könnte, welches ein Ende der Reaktion anzeigen sollte.

Etwas Neues musste her…

Wir zogen aus unseren Überlegungen folgende Konsequenzen:

Unser Ziel war es nun, den RSI-Indikator in der Form anzupassen, dass wir die „bewegliche“ RSI-Kurve beibehalten und das starre Bewertungsgerüst flexibel gestallten konnten. Das hieß konkret, wir wollten, dass sich die Bewertungsskalierung um die sich bewegende RSI-Kurve „hüllt“ und somit der Situation entsprechend definiert, welches Skala-Niveau ein überkauftes bzw. überverkauftes Moment darstellt, also die Frage flexibel klärt, wann ein Kurs überhitzt ist.

Dieses Problem lösten wir über ein Bollinger-Band.

Ein Bollinger-Band ist ein Hüllband, welches zunächst einen gleitenden Durchschnitt auf einen zu Grunde liegenden Kurvenverlauf berechnet und diesen Durchschnitt dann nach oben und unten verschiebt, so das ein Hüllband um den errechneten Ursprungsdurchschnitt entsteht. Im Unterschied zu „normalen“ Verschiebungen zu einem Durchschnitt um einen festen Prozentsatz nach oben und unten, wird in einem Bollinger-Band die Volatilität mit berücksichtigt. Steigt die Volatilität, dehnt sich das Hüllband aus, sinkt die Volatilität, zieht sich das Hüllband zusammen.

Wir legten also ein Bollinger-Band als Bewertungsmarkierung für Extrembereiche über eine klassische RSI-Kurve und erhielten folgende Vorteile gegenüber der ursprünglichen / klassischen Version:

  1. die Extrembereiche schmiegten sich nun an den Verlauf der RSI-Kurve an und folgten ihr auch über den klassisch überhitzten Bereich hinaus, ohne bereits eine tatsächliche Überhitzung anzuzeigen. Es konnte jetzt also passieren, dass in einem hochdynamischen Aufwärtstrend die RSI-Kurve bereits im 80er Bereich verläuft, die tatsächliche „Überkauftzone“ durch die obere Bollinger-Band-Begrenzung jedoch erst bei 90 liegt. Auf der Unterseite verlief in dieser Phase die untere Bollinger-Band-Begrenzung, welche ein „überverkauftes“ Niveau anzeigte, vielleicht bereits schon bei 60.
  1. wir brauchten jetzt keinen Dynamik-messenden Indikator mehr, um die Phasen herauszufiltern, in denen starke Trendschübe den Einsatz eines Oszillators unmöglich machen. Durch die flexible Anpassung der Extrembereiche, wurde jetzt ein Oszillatoreinsatz auch in hochdynamischen Marktphasen möglich.
  1. die Filterung von Divergenzen zum Kursverlauf blieb auch in dieser RSI-Version weiterhin möglich, da die Kurve in ihrer Berechnung nicht verändert wurde.

Eine erneute statistische Auswertung dieses Indikators, bei gleichen Rahmenbedingungen wie im obigen ersten Test der klassischen Standardversion (welche das negative Handelsergebnis auswies) und einem Bollinger-Band mit Standardabweichung von Zwei, beeindruckte uns. Die neue Version des RSI, ergab folgende Ergebnisse: es wurden 38 Trades generiert, der Profit-Faktor erreichte die 2,63, die Ertragskurve stieg steil an und konsolidierte auf hohem Niveau, bei einem drastisch reduzierten drawdown. Hervorzuheben war hier, dass bei gleicher Handelsanweisung und nur einer geringen Reduzierung der Trade-Anzahl eine drastische Ergebnisverbessrung erreicht wurde.

Die Wiederholung der zweiten Testreihe bei gleicher Handelsanweisung und einem entsprechend veränderten RSI erbrachte ebenfalls ein positives Ergebnis. Hier lag zwar der Absolut-Gewinn unter dem der zweiten Messreihe mit dem Einsatz des „Original RSI“, jedoch wurde die Ertragskurve drastisch geglättet, was eine deutliche Reduzierung der Ertragsvolatilität mit sich brachte.

Schlussfolgerung

Überhitzungen sind ein fester Bestandteil von Trendverläufen in allen Zeitfenstern. Sowohl die statistischen Auswertungen solcher Phasen, auch unsere realen Handelsergebnisse bestätigen, dass diese Extremsituationen (welche in unterschiedlichen Zeitfenstern unterschiedlich oft und ausgeprägt auftreten), durchaus sinnvolle und vor allem messbare Indikationen für Impulserschöpfungen sind und damit profitabel gehandelt werden können. Einmal mehr ereilte uns aber die Erkenntnis, dass eine ungefilterte Übernahme von angeblich „altem Wissen“ (wie in diesem Falle die Übernahme der klassischen RSI Regeln) nicht immer zum Erfolg führt. Jeder Indikator muss vor seinem Einsatz in der echten Praxis mit echtem Geld geprüft werden auf die Klärung der Fragen: wozu soll der Indikator dienen? Erfüllt er diese Anforderungen wirklich (verinnerlichen Sie die Berechnungslogik)? Was ist optimal, was ist grenzwertig?

Kann man „Mängel“, welche nicht zum eigenen Ansatz passen, durch eine Modifizierung, Hinzufügung oder durch einen Austausch eines Indikators oder eines Elementes daraus, beheben? Erst dann, wenn Sie diese Fragen beantworten können, wird ein Indikatoreinsatz sinnvoll.

Uwe Wagner

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1 Kommentar

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  • Balance
    Balance

    Guter Artikel, würde ich gerne mal testen.

    Zitat: "Wir legten also ein Bollinger-Band als Bewertungsmarkierung für Extrembereiche über eine klassische RSI-Kurve"

    Wie setzt man dies in der Praxis um? Es gelang mir weder bei guidance (Charttool) noch beim Active-Trader (Software der Consors) diese Einstellung vorzunehmen. Muss das BB in das RSI-Fenster gezogen werden oder stellt man es klassisch im Chart ein?

    Würde mich über einen Praxistipp freuen.

    12:43 Uhr, 19.08. 2016

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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