Kommentar
13:59 Uhr, 26.07.2016

Die Muster-Visualisierung ist das Kernstück einer Händlerausbildung

Dem Thema der Visualisierung räumen wir eine sehr umfassende Bedeutung in der Handelsausbildung und im späteren praktischen Handel ein. Einige Händler vertreten sogar die Ansicht, dass die richtige Anwendung der Visualisierung der Schlüssel zum erfolgreichen Futures-Trading ist.

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Unter Visualisierung verstehen wir im Allgemeinen die Fähigkeit, Informationen in kürzester Zeit aufzunehmen, diese richtig zu verstehen, sie richtig zu interpretieren und zu ordnen, um sie analysieren zu können und schlussendlich um diese Informationen im Gedächtnis zu behalten und richtige, zielführende Entscheidungen zu treffen. Wir als Futures-Händler fokussieren uns auf die Visualisierung von Spuren im Kursverlauf und richten unsere Handelsaktivitäten danach aus. Doch um die Bedeutung der Visualisierung auch richtig wertschätzen zu können, wollen wir uns im Folgenden zunächst mit dem Thema der Visualisierung grundsätzlich beschäftigen.

Die Visualisierung erlaubt es uns, innerhalb von Informationsmengen für uns verwertbare Muster zu identifizieren. Ein in der Psychologie oft genutztes Beispiel für die Erklärung der Funktionsweise einer Visualisierung ist das Lesen. Lesen ist für unser Gehirn keine typische Arbeitsmethodik, wir sind eher auf Bildfolgen spezialisiert, somit ist Lesen ein sehr einprägsamer Prozess, der die Wirkungsweise der Visualisierung erläutern kann.

Vielleicht können Sie sich nicht mehr erinnern, wie Sie Lesen gelernt haben, aber wer Kinder im schulpflichtigen Alter hat, sollte diesen beginnenden Lernprozess der Sprösslinge noch vor Augen haben. Wir können das Erlernen des Lesens in 6 Schritte unterteilen:

Im ersten Schritt erlernten wir recht mühsam den Zusammenhang zwischen dem Erkennen eines Buchstaben und dessen Klang. Dem schloss sich im zweiten Lernschritt das Zusammenziehen und Aussprechen der Buchstabenketten an. Aus „A-U-T-O“ wurde schließlich „Auto“ und wir begannen die Codierung dieser Buchstabenkette zu begreifen als ein Wort in Verbindung mit seinem typischen Wortklang und der daran gekoppelten Vorstellung des entsprechenden Gegenstandes. Einzelne, sinngebende Worte lernten wir zu ganzen sinngebenden Sätzen zusammenzufügen (was als „Chunks“ bezeichnet wird) und wir begriffen in Schritt drei den Anfang eines Satzes zu erkennen und dessen Ende. Ab Schritt vier setzten weitere Spezialisierungen ein. Nicht alle Zeichen bzw. Muster, welche normalerweise für das Beenden eines Satzes eingesetzt werden, beenden einen Satz tatsächlich. So steht der Punkt einmal als Satzzeichen für die Beendigung eines Satzes, er kann aber auch zur Abkürzung eines Begriffes genutzt werden, ohne den Satz zu beenden. Hier sei zu denken an „Herr“ bzw. „Frau“ und an deren Abkürzung „Hr.“ bzw. „Fr.“. Das gleiche gilt für „Prof.“, „Dr.“ und weitere gängige Begriffe.

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Schritt fünf wurde richtig herausfordernd: hier lernten wir die Bedeutung verschiedener Muster, welche Schlussfolgerungen auf den Sinn von Wörtern zulassen. So können wir auch falsch geschriebene Wörter sinngemäß identifizieren bzw. den Sinn eines Wortes aus dem Gesamtzusammenhang heraus erschließen, selbst wenn wir das konkrete Wort nicht kennen sollten. Diese Fähigkeit macht es uns aber auch möglich, den Sinn eines Satzes (einer ganzen Informationseinheit – eines Chunks) zu entschlüsseln, selbst wenn ganze Wörter fehlen sollten.

Dieser Lernteil lässt sich noch deutlich weiter ausdehnen. Unsere Mustervisualisierung im Zusammenhang mit dem Prozess, den wir als „Lesen“ bezeichnen, kann den Sinn der Chunks sogar herstellen, wenn „die Bchusatben der Wröter nchit in der rchitgien Rehienfogle“ stehen. Wichtig ist lediglich, dass Anfangs- und Endbuchstabe des Wortes korrekt sind. Ebenso können Sie einen geschriebenen Satz einmal mittig längs durchschneiden und sich nur die untere Hälfte des Satzes ansehen. Sie werden in der Lage sein, die vollständige Visualisierung herzustellen. Der Informationsgehalt der oberen Hälfte des geschriebenen Satzes reicht dagegen nicht mehr aus, eine sinnvolle Visualisierung herstellen zu können, was schlussfolgern lässt, dass der größere Informationsgehalt im lateinischen Alphabet wohl im unteren Teil der Buchstabendarstellung liegt.

Schritt sechs ist ein Lernabschnitt, den wir heute noch durchlaufen, selbst nach Jahrzenten an Leseerfahrung, nämlich die Frage ob wir den Inhalt dessen verstehen, was wir lesen? Hier stellte man fest, dass uns Inhalte besser und vor allem länger im Gehirn haften bleiben, je mehr wir mit der Materie vertraut sind. Lesen wir einen Fachartikel über die Funktionsweise eines Quantencomputers, werden wir einen inhaltlich größeren Informationsnutzen aus diesem Ziehen, wenn wir uns mit dem Thema der Quantenphysik auskennen, als wenn wir völlig unbedarft an dieses Thema herangehen.

Wir können diese sechs Lernschritte auf alle Bereiche ausdehnen, der Ablauf ist immer der gleiche.

Das Vorgehen der Visualisierung erlaubt es uns, eine deutlich größere Menge an Informationen gleichzeitig und damit in dramatisch kürzerer Zeit zu verarbeiten, als ohne Visualisierung. Unser Kurzzeitgedächtnis kann rund sieben Informationseinheiten gleichzeitig aufnehmen, das entspricht meist der Länge einer Telefonnummer (ohne Vorwahl). Das gleiche gilt für eine wahllose Buchstabenreihe und andere Informationseinheiten.

Bei Experimenten mit Psychologiestudenten wurde getestet, wie viele Zahlen sich ein Student in der richtigen Reihenfolge abrufbereit merken konnte, wenn man ihm diese im Vorfeld im Abstand von einer Sekunde vorlas. Zum Beispiel lautete eine Zahlenfolge: „Fünf... drei ... neun ... eins .... sieben ...“ und so weiter. Diese Untersuchungen wurden über mehrere Monate jeweils für eine Stunde täglich durchgeführt. Die Ergebnisse waren zu Beginn der Experimentalreihe im Großen und Ganzen sehr ähnlich. Nach vier Einzelstunden konnten sich die Studenten zuverlässig an siebenstellige Zahlenfolgen erinnern, bei achtstelligen Zahlenfolgen waren sie meist erfolgreich, bei neunstelligen Zahlenreihen ging es schon in den zufälligen Erfolgsbereich hinein, zehnstellige Zahlenreihen wurden bis dahin nie absolut fehlerfrei wiedergegeben. Die Ergebnisse verbesserten sich aber zunehmend. Nach sechzig Sitzungen konnten sich die meisten Studenten bereits 20 Ziffernfolgen zuverlässig merken, nach knapp 100 Sitzungen lag der Durchschnitt der fehlerfrei wiedergegebenen Zahlenfolgen bei 40 Zahlen und nach 200 Sitzungen schaffte es der beste Student auf sichere 82 Zahlen, die er fehlerfrei aus dem Gedächtnis heraus wiederholen konnte.

Da sich das Kurzzeitgedächtnis dieser Teilnehmer jedoch nicht so grundlegend veränderte, dass es diese herausragenden Leistungen nun auf allen Gebieten erreichte, ließen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: (1) wir können tatsächlich nur spezielle, deutlich abgegrenzte Themenbereiche bis zur Spitzenleistung beherrschen und bauen leistungsmäßig rasch wieder ab, wenn wir das „Training“ wieder absetzen. Es gibt somit kein „allgemeines Talent“. Man trainiert sein Gedächtnis auf Zahlen oder Wortreihen oder Fakten oder aber Kursmuster und Spurenfindung im Markt. Auch im Sport ist es vergleichbar: man trainiert nicht, um Sportler zu werden, sondern man trainiert für den Marathon, für den Sprint, man trainiert schwimmen oder Stabhochsprung. Ebenso wird man nicht Arzt, sondern Diagnosearzt, Pathologe, Neurochirurg usw.. Auch im Handel gibt es diese Unterteilungen, welche wir nach Zeitfenstern, Produkte und Vorgehen klassifizieren um in einem dieser Einteilungen, in einem Markt, in einem einzigen Produkt die Meisterschaft zu erreichen. Darüber hinaus zeigen alle Untersuchungen, dass wir wieder abbauen, wenn wir unsere erworbenen Fähig- und Fertigkeiten nicht länger intensiv nutzen (uns also in unserer Komfortzone wieder einrichten). (2) Die zweite Schlussfolgerung war die Frage nach der Methodik. Was ermöglicht es, im Rahmen unserer organischen, natürlichen Grenzen dennoch über die erwarteten Hürden hinauszuschießen? Es sind Visualisierungen (in der Psychologie werden diese Vorgehen auch „Repräsentationen“ genannt), welche es uns erlauben, im Langzeitgedächtnis sogenannte präexistente Informationsmuster – Tatsachen, Bilder, Regeln, Beziehungen – abzulegen, welche es uns bei Eintreten einer entsprechenden Situation erlauben, rasch und effektiv, eben komplex zu reagieren. In der Psychologie heißt es, Visualisierungen (mentale Repräsentationen) ermöglichen trotz der Grenzen des Kurzzeitgedächtnisses (sieben Informationseinheiten als Kapazitätsobergrenze) die schnelle Verarbeitung großer Informationsmengen. „So könnte man“, heißt es in einer Studie des Psychologie-Professors der Florida State University, Ericsson, „eine mentale Repräsentation (Visualisierung) als konzeptionelle Struktur definieren, die dazu dient, die üblichen Beschränkungen, die das Kurzzeitgedächtnis der mentalen Verarbeitung auferlegt, zu umgehen.“ Bei der Frage, wie die erfolgreichen Studenten über 80 Ziffern in der richtigen Reihenfolge im Kopf behalten konnten, wurden auch hier Visualisierungsmethodiken sichtbar. So berichteten Studenten, dass sie die gehörten Zahlen zu Gruppen (Dreier- und Vierer-Zahlengruppen) zusammenfassten, deren Klangmelodie sie sich einprägten und anschließend mit einer Abrufstruktur assoziierten. Das heißt, hier wurden nicht nur die Zahlengruppen visualisiert, sondern auch die Abrufstruktur selbst, nämlich in Form eines zweidimensionalen Baumes mit jeweils am Ende der einzelnen Äste sitzenden Dreier- und Vierer-Zahlengruppen.

Wenden wir uns jetzt der Visualisierung in unserer Arbeit zu, dem Futures-Handel im kurzen Zeitfenster. Die hier angewandte Methodik ist dem Erlernen des Lesens sehr ähnlich, die Lernschritte sind von ihrem Wesen her nahezu gleich. Der Hintergrund hierfür ist folgender: Lesen erfordert das rasche Erfassen von visualisierten Einzelmustern (Buchstaben) zu einem sinnvollen Wort und eine sich dem anschließende Zusammenführung der Einzelwörter zu einem logischen Satz (woraus sich ein Chunk ergibt). Das Lesen der Spuren im Markt beansprucht die gleichen Hirnareale, welche wir zum Lesen eines Textes beanspruchen. Und die sich im Anschluss daran ergebenden Folgekonsequenzen, nämlich einen Sinn daraus zu ermitteln, der wiederum zu einer sinnvollen Aktivität führt (wie bremsen oder stehenbleiben beim Aufleuchten einer roten Ampel oder dem Klicken mit der Maus in ein Funktionsfeld, wenn man dazu über einen Anzeigetext im Computer aufgefordert wird), ist ebenfalls ein von uns tagtäglich in Anspruch genommenes Verhaltensmuster.

Beim Lesen erlernen wir, wie bereits gesagt, zunächst den Zusammenhang zwischen dem Buchstaben als visuellen Eindruck und dessen Klang. Danach lernen wir, jeden Buchstaben zu Informationseinheiten zusammenzuziehen (Wortbildung) und vollziehen eine überaus beeindruckende komplexe Höchstleistung, nämlich die Verschmelzung des geschriebenen Wortes mit dem sich einprägenden Klang in seiner Aussprache plus der Vorstellung dessen, welchen Gegenstand dieses Wort manifestiert. Hier fließen mehrere Informationsstränge zusammen, was unser Gehirn „im Verborgenen“ meisterhaft absolviert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Die dauerhafte Mustervisualisierung eines Future-Traders in seinem Handelszeitfenster ist eine vergleichbare Leistung, zumindest im mentalen Ablauf. So wie wir jedem vordefinierten Muster (Buchstaben) einen bestimmten Klang zuordnen, ordnen wir jedem Bewegungsablauf eine zu Grunde liegende Ursache zu. Auch wenn wir uns den Themen „Zeitfenster“, „Komplexität“ und „Reflexivität“ noch gesondert und intensiv zuwenden werden, möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf die Bedeutung der Fokussierung auf den Kurzfristhandel verweisen. Durch die Reduzierung der nicht zu beherrschenden Komplexitäten einer Marktentwicklung, die besonders bei längerfristigen Positionierungen das dominante Problem schlechthin sind, und durch die Reduzierung der reflexiven Einflüsse auf ein steuerbares Niveau, wird es dem Kurzfristhändler gerade in seinem Zeitfenster möglich, eine recht genaue Zuordnung der Bewegungsursache durchzuführen. Im Unterschied zum Erlernen des Lesens beschränkt sich hier jedoch die Verbindung des visuellen Eindruckes nicht auf einen einfachen Klang, sondern setzt bereits eine fundierte Kenntnis der Ursachenmöglichkeiten voraus. Das heißt, wir verbinden nicht einen Buchstaben mit einem Klangmuster, sondern ein (typisches) Kursverlaufsmuster mit einer klaren Vorstellung seiner Ursache, die wiederum aus purem Erlernen der grundlegenden Fakten resultiert: nämlich – welche Akteure gibt es? Welches sind ihre typischen Verhaltensweisen? Woran erkenne ich wessen Dominanz? Was darf, kann und wird er tun? und so weiter. Das Zusammenführen der einzelnen Informationen und das Verbinden dieser zu einer Informationseinheit ist das Kernstück jeder Mustervisualisierung im Handel.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Notwendigkeit der Einhaltung der Reihenfolge im Lernprozess verweisen: eine sattelfeste theoretische Basis ist das Fundament, auf dem eine sichere Visualisierung steht. Wer den richtigen Klang eines einzelnen Buchstabens nicht beherrscht und auch Schwierigkeiten bei dem richtigen Zusammenfügen der einzelnen Klanglaute zu einem Wort und später zu einem ganzen Satz hat, wird enorme Verständnisschwierigkeiten beim sicheren Lesen haben. In einem solchen Falle müssen andere, aber in ihrer Art (Grundmethodik) ähnliche Vorgehen zum Erlernen des Lesens angewandt werden. Somit soll noch einmal die unbedingte Notwendigkeit des Erlernens der Theorie im Zusammenhang mit allem Wissenswerten der im Markt involvierten Akteuren unterstrichen werden.

Der im Vorfeld beschriebene Schritt fünf im Zusammenhang mit dem Erlernen des Lesens ist besonders spannend, zeigt er doch die unglaubliche Überlegenheit des menschlichen Geistes. Hier lernen wir das Erkennen des Sinnes eines Wortes oder Satzes, selbst wenn Wörter (Informationseinheiten) auftreten, die wir nicht kennen, Wörter (Informationseinheiten) falsch geschrieben sind oder ganz fehlen. Wir sind bereits in der Lage, das ganz große Bild zu erkennen und zu überblicken. An dieser Stelle beginnt die „Meisterschaft“ eines wirklichen Experten in seinem Bereich.

Ein interessantes Experiment wurde dazu an der Florida State University durchgeführt. Man stellte die Frage, ob sich Schachexperten die Position einer jeden einzelnen Figur merken oder die gesamte Konstellation, in denen sie die einzelnen Figuren als Teil eines größeren Ganzen betrachten. Hierzu wurden drei Gruppen gebildet: eine Gruppe bestand aus Schachmeistern, also Teilnehmern aus nationalen Wettkämpfen. Die zweite Gruppe wurde aus Schachspielern mit durchschnittlich mittlerem Niveau gebildet und die dritte Gruppe bestand aus Anfängern im Schachspiel. Den Gruppen wurden je zwei Schachbretter vorgelegt, wobei auf dem einen die Figuren in Positionen standen, wie sie bei einem echten Spiel vorkommen können, auf dem zweiten Brett standen die Figuren zufällig und völlig wirr. „Bei einem Schachbrett mit ein oder zwei Dutzend Figuren in Konstellationen, wie sie üblicherweise in der Mitte oder am Ende eines Spieles auftauchen, konnten sich die Meister nach fünf Sekunden Betrachtung an etwa zwei Drittel der Positionen erinnern, die Gruppe der Anfänger an etwa vier und die durchschnittlichen Spieler an eine Zahl, die etwa in der Mitte der beiden anderen (Gruppen) lag. Bei den nach dem reinen Zufallsprinzip aufgestellten Figuren schnitten die Anfänger noch schlechter ab – nur zwei der von ihnen genannten Positionen waren korrekt. So weit nicht überraschend. Verblüffend hingegen war, dass weder die Fortgeschrittenen, als auch die Meister besser als die Novizen abschnitten. Auch sie konnten nur zwei oder drei Positionen korrekt nennen. Der Vorteil der erfahrenen Spieler fiel nicht mehr ins Gewicht.“ Im Anschluss oder später durchgeführte, vergleichbare Studien bestätigten das Ergebnis.

Eine Auswertung der Ergebnisse kam zu dem Schluss, dass die Fähigkeit, sinnvolle Muster zu erkennen und sich an diese zu erinnern und daraus kommende Aktivitäten abzuleiten darauf beruht, wie man sich das Lesen der Muster aneignet. Ein Schachspieler, der wirklich Erfolg haben will, verbringt in der Regel zahllose Stunden mit dem Studium von hochkarätigen Spielen. Man wird jede Position gründlich analysieren, man versucht Züge vorauszusagen und wenn man sich irrt, geht man wieder einen Schritt zurück und versucht herauszufinden, was man übersehen hat. „Studien haben gezeigt, dass die Menge an Zeit, die für diese Art von Analyse aufgewendet wird – nicht die Zeit, die man dem Spiel mit anderen widmet - , der wichtigste Prädikator für die Fähigkeit des Schachspielers ist“.[1]

Dieser Sachverhalt unterstreicht die Notwendigkeit und Bedeutung, welche der täglichen Nachbereitung der Handelsaktivitäten zukommt. Diese Zeit des Trainings bzw. der richtigen Handelsnachbereitung lehrt dem Händler / Schachspieler, im Chart oder auf dem Brett mit einem Blick Muster zu erkennen, die über den einfachen Kursverlauf oder Stand der einzelnen Figuren hinaus gehen – nämlich die Interaktion der Akteure bzw. der Schachfiguren miteinander. Diese komplexe Interaktion entspricht einem „Chunk“, einer großen Informationseinheit, welche einem Satz, der aus einzelnen Wörtern und somit aus einfachen Buchstaben besteht entspricht.

Das Verstehen der Interaktion der Marktakteure und deren korrekte Interpretation ist es, was wiederum zielgerichtetes und risikoarmes Reagieren des Kurzfristhändlers erst möglich macht. Aus „Stochern im Nebel“ wird klares, konzeptionelles Arbeiten. Auch hier möchte ich ein Beispiel einer Studie zum Thema „Visualisierung“ bemühen, um die Möglichkeiten, welche richtiges Visualisieren bietet, deutlich zu machen. Hierzu wurde der Nutzen der Visualisierung im Zusammenhang mit treffsicheren Vorhersagen überprüft. Die Psychologen Paul Ward und Mark Williams wollten auswerten, wie gut Fußballspieler vorhersagen können, was nach dem, was auf dem Feld geschieht, als nächstes kommen wird[2].

Hierzu wurden den Spielern Videos von echten Fußballspielen gezeigt. Diese Videos wurden an entscheidenden Stellen plötzlich gestoppt – immer dann, wenn ein Spieler einen Ball angenommen hatte. Die anschließende Frage lautete: was würde der Spieler jetzt mit dem Ball tun: ihn halten, auf das gegnerische Tor schießen oder ihn an einen anderen Spieler abgeben? Das Ergebnis war offensichtlich. Besonders erfahrene Spieler hatten sehr hohe Trefferquoten mit ihren Vorhersagen. Auch das Testen des Erinnerungsvermögens, nämlich zu beschreiben, wo sich relevante Fußballkollegen zu diesem Zeitpunkt befanden und in welche Richtung sie liefen, bzw. weitere Einzelheiten aus dem Video heraus zu beschreiben zeigte, dass erfahrene und gute Spieler besser abschnitten als die schwächeren Kollegen. Die Schlussfolgerungen lauteten: „Daraus schlossen wir, dass das bessere Abschneiden der qualifizierteren Spieler bei der Vorhersage zukünftiger Ereignisse mit ihrer Fähigkeit in Zusammenhang stand, sich mehr mögliche Verläufe vorzustellen, sie in kürzester Zeit durchzuchecken und das meistversprechende Vorgehen zu nennen. Aufgrund dieser Fähigkeit konnten sie erkennen, welche Bewegungen und Interaktionen welcher Spieler in der entsprechenden Spielphase am meisten ins Gewicht fielen, so dass sie besser in der Lage waren zu entscheiden, wohin sie sich auf dem Spielfeld begeben sollten, wann und an wen sie den Ball weitergeben sollten und so weiter.“[3]

Die Schulung eines kurzfristig orientierten Futures-Trader geht genau in diese Richtung. Das erkennen der Interaktionen aller im Markt agierenden Teilnehmer, das Herausfinden der jeweiligen Dominanz und das richtige Schlussfolgern des nächsten Schrittes des tragenden Wirtes ist der Schlüssel für die richtige Handelsaktivität und ganz besonders: für das richtige Timing.

Welches sind folglich die notwendigen Schritte, um das auf Handelsbausteinen basierende Handeln erfolgreich, bei möglichst niedrigstem Risiko durchführen zu können? Dreh- und Angelpunkt ist die Beherrschung der Spuren-Visualisierung, so wie das Lesen (die Visualisierung der Muster innerhalb eines Buches oder Artikels) notwendige Voraussetzung ist, um sich Wissen aus gedruckten / geschriebenen Drittquellen aneignen zu können.

Hierbei gilt folgendes zu beachten: so wie man im Trading den Fokus überwiegend auf kurze Zeitfenster beschränkt, um eben die Risiken der Komplexität und Reflexivität dramatisch zu reduzieren, genauso ist es wichtig, sich sehr diszipliniert an die Lernschritte zu halten. Das immer wieder auftretende Springen zwischen den Mustern und der Rückfall in die Nutzung von Indikatoren oder anderer Hilfsmittel klassischer Analysemethoden in diesem Zeitfenster ist vergleichbar mit dem Springen in das kyrillische Alphabet, wenn es mit dem lateinischen Alphabet nicht sofort klappt.

Dem Erlernen der Spuren-Visualisierung im echten Markt muss zunächst das Erlernen des Aktivitätsmusters der im Markt dominanten Akteursgruppen vorausgehen. Das ist vergleichbar dem Erlernen der richtigen Klangfarbe eines jeden Buchstabens bzw. einer Buchstabenkombination.

Im Anschluss daran folgt das Erlernen der definierten Spurenmuster, das Verstehen der Ursache und der Hintergründe des jeweiligen Musters und die Verschmelzung dieser Wissensstränge zu einer einzigen Informationseinheit (so wie wir irgendwann in der Lage sind, ein Wort zu lesen, es richtig auszusprechen und auch dessen Sinn verstehen).

So wie wir uns im Laufe der Entwicklung unserer Lesefähigkeiten an immer komplexere Texte heranwagen und diese auch zunehmend verstehen, so rückt auch für den Händler der Zusammenhang dessen, was im Markt geschieht und was die richtige Reaktion darauf ist, immer stärker in den Fokus. Hierzu ist es notwendig, dass sein theoretisch fundiertes Hintergrundwissen zum Markt selbst und dessen dominante Akteure wächst, aber auch sein Verständnis für die im Markt eingesetzten Handelsprodukte und deren Einfluss auf den allgemeinen Kursverlauf. Das Lernen muss sich entfalten wie die Form eines Schneckenhauses, der Händler lernt immer um sein bereits bestehendes Wissen herum, immer knapp über dem Leistungsniveau, welches eine Homöostase des Gehirns schon nicht mehr zulässt.

Ein Kennzeichen für Expertise auf einem Gebiet ist schließlich die Fähigkeit, in einer Ansammlung von Informationen ein Muster zu erkennen, die Menschen mit weniger gut entwickelten mentalen Repräsentationen zufällig oder verwirrend erscheinen. Wir wollen dort den Wald sehen, wo andere nur Bäume sehen.


[1] TOP, K. Andreas Ericsson und Robert Pool, deutsche Ausgabe, Pattloch Verlag, 2016, Seite 96 

[2] Paul Ward, K. Anders Ericsson uns A. Mark Williams, „Complex perceptual-cognitive expertise in a simulated task environment“, Journal of Cognitive Engineering an Decision Making z (2013) S. 231-254.

[3] ebenda

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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