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12:00 Uhr, 09.06.2017

Großbritannien nach der Wahl: Was wird aus dem Brexit?

UK hat gewählt: Herausgekommen ist kein starkes Mandat für Theresa May, sondern ein "Hung Parliament", keine der Parteien kommt auf ausreichend Sitze, um eine Mehrheit zu stellen. Was bedeutet die Wahl nun für die Börsen, die verschiedenen Asset-Klassen und die Brexit-Verhandlungen? Eine Übersicht der Einschätzungen.

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Bei der Parlamentswahl in Großbritannien haben die Konservativen unter der Führung von Premierministerin Theresa May ihre absolute Mehrheit im Unterhaus verloren. Nach der Auszählung fast aller Stimmen am Freitagvormittag haben weder die Konservativen noch die Labour Party eine Chance, die Mehrheit der 650 Wahlkreise für sich zu gewinnen. Die Konservative Partei verlor laut jüngsten Hochrechnungen der BBC mit nur noch 315 Sitzen die Mehrheit im Parlament. Bisher hatten die Konservativen eine eher dünne Mehrheit, die die Durchsetzung der politischen Ziele bereits erschwerte, weil Rücksicht auf etwaige Abweichler in den eigenen Reihen genommen werden musste. Nun ist aber auch diese Situation Geschichte.

Der Plan von May ist fehlgeschlagen. Sie wollte mit Neuwahlen erreichen, ein eigenes Mandat zu erhalten, was ihre Position in den Brexit-Verhandlungen mit Brüssel gestärkt hätte. Freilich war das für die Tories so desaströse Ergebnis bei Ausrufung der Wahlen im Frühling noch keineswegs abzusehen. May hat quasi erst auf den letzten Metern dramatisch an Zustimmung verloren. „Der Ausgang der britischen Parlamentswahlen zeigt, wie schnell sich Erwartungen ändern können. Der höhere Zuspruch für Labour auf Kosten der Konservativen bestätigt weitgehend den Umfragetrend der letzten Tage – im Vergleich zur Stimmung noch vor wenigen Wochen kommt er jedoch eindeutig als Überraschung“, kommentierte Steven Andrew, Fondsmanager bei M&G Investments.

Der Zustimmungsschwund am Ende mag auch an den jüngsten furchtbaren Terroranschlägen gelegen haben, warfen diese doch ein Schlaglicht auf die siebenjährige Amtsinhaberschaft Mays als Innenministerin, als sie aus Spargründen etwa 20.000 Polizeistellen abbaute. Das Thema ’Innere Sicherheit’ spielte im Wahlkampf bedrohungsbedingt nun aber eine übergeordnete Rolle. May nur konnte damit wahrlich nicht punkten, ihr wurde sogar die Authentizität abgesprochen. Auch bei den von ihr nun als Regierungschefin forcierten Themen Einwanderung und EU-Freizügigkeit ist die Bilanz für sie als ehemalige zuständige Ressortchefin euphemistisch gesprochen durchwachsen.

Wurde der "harte Brexit" abgewählt?

May wird nun nicht gestärkt in die komplizierten Brexit-Verhandlungen gehen können. Noch ist sogar unklar, ob sie überhaupt als Regierungschefin im Amt bleiben kann, auch wenn sie selbst nicht zurücktreten will, sondern mit Plänen einer Regierungsbildung auf Angriff schaltet. Was bedeutet das Wahlergebnis nun für die Verhandlungsbasis und Flexibilität der Briten gegenüber der EU? „Was das Ergebnis für die Brexit-Verhandlungen bedeutet, ist schwer abzuschätzen“, sagt Michael Hewson von CMC Markets. „Da aber die Schottische Nationalpartei und die Liberaldemokraten im Binnenmarkt bleiben wollen, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es gar nicht zum Brexit kommt“. Ähnlich sieht dies Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer. „Der harte Brexit wurde gestern abgewählt, sagte er am Freitag. Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise ergänzt: „Das Positive an dem Wahlausgang ist, dass es kein Mandat für einen harten Brexit gibt, der für die britische und die Wirtschaft der EU sehr nachteilig gewesen wäre."

Paul Hatfield, Global Chief Investment Officer bei Alcentra, einer Boutique von BNY Mellon IM befand: „Der Umstand, dass es im Parlament nun keine klaren Mehrheitsverhältnisse mehr gibt, dürfte die sowieso bereits schwierigen Brexit-Verhandlungen noch zusätzlich erschweren, und die daraus resultierende Unsicherheit ist für die Märkte nicht gerade förderlich. Angesichts des unklaren politischen Umfelds, in dem konkrete Veränderungen nur schwer umzusetzen sein werden, gehe ich davon aus, dass die Märkte langsam abwärts tendieren werden. Derweil dürfte das Pfund Sterling von der gerade aktuellen Nachrichtenlage bestimmt werden – je nachdem, mit welchem Ausgang man bei den Verhandlungen über die zukünftigen Handelsbeziehungen rechnet.“

Was für Anleger nun wichtig ist

Am Freitag präsentiert sich der Finanzmarkt zweigeteilt. Während sich der britische Aktienmarkt unbeeindruckt zeigt und zulegt, steht das Pfund Sterling unter Beschuss. „Das Ergebnis der Wahl im Vereinigten Königreich ist sicher nicht das, was der Markt erwartet hat. Aber auch die ersten Marktreaktionen auf das EU-Referendum und die US-Wahl waren nur von kurzer Dauer“ betont Richard Colwell, Leiter für britische Aktien bei der Fondsgesellschaft Columbia Threadneedle Investments. „Wenn der Druck auf das Pfund Sterling nicht abnimmt und die Währung wieder an der Untergrenze ihrer aktuellen Spanne gehandelt würde, dürfte das den Dollar-Erträgen multinationaler Unternehmen, die im Vereinigten Königreich gelistet sind, aber Rückenwind verleihen“, so Colwell. Der britische Aktienmarkt sei inzwischen weniger von der Binnenwirtschaft abhängig als in früheren Marktzyklen.

Laut Steven Andrew, Fondsmanager im Multi-Asset-Team von M&G Investments sind für Anleger nun drei Dinge wichtig: die kurzfristigen Reaktionen der Finanzmärkte, die Folgen der Wahl für die Brexit-Verhandlungen und die längerfristigen Auswirkungen der neuen politischen Gewichtung für die Wirtschaft. Kurzfristig hätten die Märkte das Wahlergebnis gelassen hingenommen. Die sichtbarste Reaktion bislang sei die weitere Abschwächung des Pfund Sterling. Hinsichtlich der Brexit-Verhandlungen steht auch laut Andrew die Schlussfolgerung im Raum, dass ein „harter Brexit“ nun weniger wahrscheinlich wird. „Das halten wir allerdings für voreilig. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es unmöglich vorherzusagen, zu welchem Ergebnis und welchen Handelsvereinbarungen die Gespräche mit der EU führen werden, vor allem, wenn man dabei die Haltung der anderen Verhandlungsseite außer acht lässt“. Mit der Zeit werde sich die Aufmerksamkeit der Märkte wieder auf die fundamentalen Stärken und Schwächen der Wirtschaft konzentrieren. Diese hätten sich nach der Wahl nicht geändert. Er gehe weiter von einer robusten britischen Konjunktur und guten Perspektiven für die Weltwirtschaft aus, so M&G Investments-Manager Andrew.

Auch nach Ansicht von Mark Phelps, Portfolio Manager bei AllianceBernstein sollten Anleger nicht den Fehler machen, politische Situationen zu überwerten: „Trotz der Bedeutung dieser Entwicklungen verbessert sich die europäische Konjunktur bereits, und die Anleger sollten die Politik nicht als Maßstab für ihre Investitionsentscheidungen sehen. Stattdessen sollten sie sich jenseits der Schlagzeilen auf die wirtschaftlichen Fundamentaldaten fokussieren und nach Unternehmen suchen, die unabhängig von politischen Ereignissen ein konstantes Ertragswachstum erzielen“, betont Phelps.

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1 Kommentar

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  • Peter Zumdeick
    Peter Zumdeick

    Ich befürchte auch, dass es nun zu gar keinem BREXIT mehr kommen wird. Das wäre fatal ... würde der europäische Einigungsprozess dadurch doch wieder gestärkt werden.

    15:00 Uhr, 09.06.2017

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Über den Experten

Bernd Lammert
Bernd Lammert
Finanzredakteur

Bernd Lammert arbeitet als Redakteur seit 2010 bei der BörseGo AG. Er ist studierter Wirtschafts- und Medienjurist sowie ausgebildeter Journalist. Das Volontariat absolvierte er noch beim Radio, beruflich fand er dann aber schnell den Weg in andere Medien und arbeitete u. a. beim Börsen-TV in Kulmbach und Frankfurt sowie als Printredakteur bei der Financial Times Deutschland in Berlin. In seinen täglichen Online-Berichten bietet er Nachrichten und Informationen rund um die Finanzmärkte. Darüber hinaus analysiert er wirtschaftsrelevante Entscheidungen der obersten deutschen Gerichte für eine Finanzagentur. Grundsätzlich ist Bernd Lammert der Ansicht, dass aktuelle Kenntnisse über die Märkte sowie deren immanente Risiken einem keine Erfolge schlechthin garantieren, aber die Erfolgschancen deutlich erhöhen können.

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