Kommentar
16:38 Uhr, 17.10.2014

Ekstase oder Schmerz? Zwei Erzählweisen von der Insel der tiefen Zinsen

Die Engländer sind ganz aus dem Häuschen. Das Wachstum ist mit über 3% im G7-Vergleich fantastisch, und wird höchstwahrscheinlich sogar das durchschnittliche weltweite Wachstum hinter sich lassen.

Investitionen wachsen im zweistelligen Bereich und haben seit der Finanzkrise zu über einem Drittel die Erholung unterstützt – so sieht kein Strohfeuer aus.

Die Inflation ist mit nur 1,2% niedrig und reduziert damit die Belastung für die Reallöhne, während die Zinskosten sich in einer Range von attraktiven 3-6% bewegen.

Auch die Assetpreise haben sich vor diesem positiven Hintergrund wunderbar entwickelt, und so steht der Immobilienmarkt mittlerweile 20% höher als noch vor wenigen Jahren, während der Aktienmarkt sogar ein Plus von 50% verbuchen kann.

Das Beste an der grandiosen Situation ist dabei wohl der Arbeitsmarkt. Insgesamt wurden seit der Krise 1,8 Millionen neue Stellen geschaffen, davon allein 750.000 im letzten Jahr.

Um dieses makroökonomische Paradies auch für den Chartisten nachvollziehbar zu beschreiben, hat Andrew Haldane, seines Zeichens Chefökonom der BoE einen außergewöhnlichen Index erstellt, welchen er heute in einer lesenswerten Rede präsentieren konnte.

Haldane mixt dazu die Arbeitslosenrate mit der Inflation und dem Wirtschaftswachstum. Je höher also das Wachstum und je niedriger Preisdruck sowie die Zahl der Beschäftigungslosen, desto höher tickt der sogenannte „Ecstasy Index“.

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Wie man aus dem Chart schön erkennen kann, ist die Situation im (weiterhin) Vereinigten Königreich im Vergleich zur Vergangenheit mit dem Adjektiv „rosig“ recht gut beschrieben.

Alles in Butter also, was will man eigentlich mehr? Nun leider gibt eine alternative Erzählweise..

Die Reallöhne in Großbritannien schrumpfen mit einer Geschwindigkeit von derzeit 1% im Jahresvergleich und konnten in den letzten 74 Monaten lediglich über 3 Monate leicht zulegen. Kumulativ wurde den Briten das Einkommen seit der Krise um 10% gekürzt. Für diesen dramatischen Wohlstandverlust ist in diesem und im letzten Jahrhundert kein entsprechendes Beispiel zu finden.

Die Produktivität befindet sich weiterhin 15% unter Vorkrisenniveau und niemals seit 1880 war eine ähnliche Stagnation feststellbar.

Die Realzinsen sind seit 4 Jahren bei Null. Sparen ist unmöglich. Für eine vergleichbare Situation muss man die 70er Jahre bemühen, als die Inflation im zweistelligen Bereich notierte.

Haldane stellt auch diese Narrative grafisch dar und hat dazu den „Agony Index“ entwickelt, der die Reallöhne, die Realzinsen und die Produktivität miteinander verquirlt.

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Die Anzeige des „Schmerz-Index“ gibt einen Wert wieder, der rund 5% unter dem Durchschnitt der Jahre 1970-2014 liegt, und damit wird die Namensgebung plötzlich plausibel.

Welche Beschreibung der Gegenwart trifft nun den Kern besser? Ekstase oder Schmerz?

Die Beantwortung dieser Frage hängt auch davon ab, ob man die gegenwärtigen Negativentwicklungen als temporär-zyklisches Problem, oder als eine für Generationen nicht mehr verziehende strukturelle Eintrübung einstuft.

Haldane hat in diesem Zusammenhang unter anderem die implizierten Realzinsen vorgestellt, die laut Investorenmeinung über die nächsten Jahrzehnte negativ bleiben werden. Sollte diese Einschätzung der Märkte sich als richtig erweise, dann dürfte es laut dem Notenbanker so schnell keine Zinswende mehr geben.

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Die Konklusion seiner Rede klingt dann auch relativ negativ.

„And recent evidence, in the UK and globally, has shifted my probability distribution towards the lower tail. Put in rather plainer English, I am gloomier.

Was so viel heißt, dass sich die Erwartungen, des meiner Meinung nach, sympathischen und fähigen Ökonomen über die letzten Monate ziemlich eingetrübt haben und sich die Akteure vielleicht doch eher auf längere Tiefzinsen einstellen sollten:

„Taken together, this implies interest rates could remain lower for longer, certainly than I had expected three months ago, without endangering the inflation target.“

(„Zusammenfassend impliziert dies, dass die Zinsen, ohne das Inflationsziel zu gefährden, noch länger niedriger bleiben könnten, wie ich noch vor 3 Monaten angenommen hatte.“)

Persönlich bekräftigt mich diese Rede in meiner Haltung, die ich in den letzten Tagen entwickelt habe, dass man der Wirtschaft seitens der Zentralbanker und Ökonomen so schnell nicht mehr zutraut, auf eigenen Beinen zu stehen.

Frei heraus: Wenn man nicht in der Lage gewesen ist, bei der (im Falle von Großbritannien) nominal „bombigen“ Entwicklung von Gas zu gehen, dann wird man dies niemals mehr freiwillig schaffen – außer man wird vom Markt schlussendlich davon gezwungen werden. Und dieser Fall wird zumindest für die Zentralbanken dann spätestens kommen, wenn die Liquidität am Anleihenmarkt komplett versiegt ist. Siehe Japan.

19 Kommentare

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  • Simon Hauser
    Simon Hauser Redakteur

    ​Hallo Investor. George Magnus ist der gleichen Ansicht wie du, dass die Mittelkklasse überflüssig wird:

    http://www.georgemagnus.com/market-mayhem-globally...

    Dieser Link ist übrigens m.M. die absolute Leseempfehlung für heute morgen. Magnus stellt in Auszügen eine China-Studie von Jon Anderson vor, der bei den Asiaten einen riesigen Kreditschwindel vermutet.

    Ich habe auf meinem Blog die Auszüge zusammengefasst und einen interessanten Chart beigefügt:

    http://go.guidants.com/start/?strm1=21621

    14:11 Uhr, 20.10. 2014
    1 Antwort anzeigen
  • 280a
    280a

    ​@CHRISS1, student: Ohne eure Kommentare hätte diese Seite von GMT nur mehr 20% ihres Wertes. Ich könnte euch Tag und Nacht lesen. Macht bitte weiter so! Vielen Dank!

    @Investor: Auch deine Kommentare lese ich mit Genuss, auch wenn ich nicht immer deiner Meinung bin ;-) Wir brauchen nicht mehr Ausbildung in den richtigen Fächern, wir brauchen endlich einmal einen vernünftigen Mindestlohn und eine Arbeitszeitverkürzung!

    23:32 Uhr, 19.10. 2014
    1 Antwort anzeigen
  • Cristian Struy
    Cristian Struy

    ​uk statistiken im beitrag erinnert mich an euro Einführung und agenda 2010 von Schröder. Euro zu dm wurde 1: 2 getauscht und heute alle waren in euro so teuer wie in dm. Fazit: 100% inflation in 20 jahren= geldentwertung per excellence, obwohl offizielle gefakede stats was andres sagen. Agenda 2010 hat dis Reallöhne brutal zbgesenkt, so dass wir heute in relation ein billiglohnland sind. Wir exportieren nach griechenland und andere schwache euro Länder, und auch in die usa, die noch nicht mal die bisher gelieferten waren bezahlt haben und borgen denen auch auch neues Geld, damit sie nochmehr waren von uns" kaufen" koennen ohne je dafür bezahlen zu müssen. Dazu müsste das aussenhandelsdefizit dieser laender sich umdrehen, so dass wir nicht mehr exportweltmeister (warenverschenker), sondern Import weltmeister wuerden, bis wir mal unsere verschenkten Werte wieder erhalten haben. Krank diese welt und wir freuen uns auch noch uber die Exporte! Da kuerzen wir due exporte nach russland, die uns als einige der wenigen wenigstens echte werte (oel/gas) dafür geben.

    Uk scheint den gleichen Weg wie deutschland

    eingeschlagen zu haben und freut sich nun auch zu den billiglohnlaendern zu gehören.

    Aber was hilfts, so funktioniert nunmal Kapitalismus und ihr und ich koennen nicht dagegen anstinken.

    16:09 Uhr, 19.10. 2014
    2 Antworten anzeigen
  • student
    student

    ​Die FED dient nicht den Interessen des amerikanischen Volkes oder der Wirtschaft, sondern nur dem Interesse ihrer Eigentümer. Wenn man nur die letzten 30 Jahre nimmt, dann hat mit Thatcherism und Reaganomics ein bewusster Abbau des vermögenden Mittelstands begonnen, der sich mit dem Fall der Berliner Mauer noch eher beschleunigt hat. Denn mit der Wiedervereinigung war die Furcht der alliierten Eliten groß, dass sich der Wohlstand des deutschen Volkes quasi verdoppelt, und damit ihr Einfluss auf Deutschland weiter abnimmt.

    Deshalb hat der frz. Präsident Mitterrand dem dt. Bundeskanzler Kohl mit der Reaktivierung der Triple-Entente USA, Frankreich und Großbritannien gedroht, sollte er seine Zustimmung zum Euro verweigern. Der Euro und der Dollar nunmehr in privaten Händen war nie dazu gedacht, Wohlstand für die europäische und amerikanische Bevölkerung zu bringen, sondern die Macht der Banken mit den Jahren langsam wachsen zu lassen, um das Vermögen von unten nach oben durch steigende Verschuldung umzuverteilen und das arbeitende Volk für sich zu kontrollieren. Und das nur mit Zinsen auf FiatMoney! Unsere Regierung benimmt sich wie ein Lakai der US-Elite. Dabei muss man nur das Gesetz ändern, dass der Staat selbst wieder die eigene Währung durch eine unabhängige nationale Notenbank kontrolliert und private Notenbanken verbietet!

    Damit kontrolliert und bewertet das Volk seine eigene Arbeitsleistung, mit eigenem Geld.

    Wie man heute sieht, arbeiten die private FED und die EZB mithilfe einer inszenierten Geldkrise zusammen, um die USA und die EU zusammenzuführen und sich gleichzeitig geopolitisch von Rußland und China abzugrenzen.

    Schöne, neue Welt von 1984.

    12:28 Uhr, 19.10. 2014
    1 Antwort anzeigen
  • Humpty
    Humpty

    ​Inzwischen spielen Fundamentaldaten an den Börsen sowieso kaum noch eine Rolle sondern nur noch die Frage, welche Folgen sie für das Handeln der Zentralbanken haben könnten. Haldane gibt ein schönes Beispiel, wie groß der Spielraum bei der Interpretation dieser Daten ist.

    Heute wissen wir, dass die USA seit 12/2007 in einer Rezession waren - gemerkt hat es die FED erst viel später. Derzeit ist das Glas halbleer und dementsprechend werden auch die Zinsen nicht erhöht.

    10:42 Uhr, 19.10. 2014
  • student
    student

    ​Ein besserer Index wäre es, anzuzeigen, was sich die Arbeiter und Angestellten, die nicht als Führungskräfte angestellt sind, sich vom Warenkorb leisten können. Es ist der Konsum der breiten Bevölkerung, die den (End-)Verbrauch von Waren sicherstellt.

    Die Messung der Arbeitslosenrate ist ein Witz, wenn der Anteil an Aufstocker und Leiharbeiter ständig wächst. Zusätzlich müssen Rentner weiter hinzuverdienen da die staatliche Grundrente mit der kümmerlichen Privatrente in Britannien nicht zum Leben reicht.

    Dasselbe System wird jetzt bei uns von unseren lobby-getunten Spitzenpolitikern wie Merkel und Gabriel vorangetrieben.

    Die Umverteilung des Geldes von unten nach oben durch die wirtschaftsfeindlichen neoliberalen Parolen und der damit einhergehende Machtzuwachs trocknet mehr und mehr die Kreisläufe von Produktion und Verbrauch aus und führt zu einem langanhaltenden wirtschaftlichen Niedergang. Das Geld floß seit 1989 zunehmend in die Finanzindustrie und die Spekulation.

    Die Lösung ist die Abkehr vom neoliberalen Freihandelsmodell (früher im 18. und 19 Jhd.war Freihandel gleichbedeutend mit Sklaverei!).

    19:22 Uhr, 17.10. 2014
    2 Antworten anzeigen

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Über den Experten

Simon Hauser
Simon Hauser
Redakteur

Simon Hauser hält für Guidants News die Stellung in North Carolina und sendet aus sicherer Entfernung zur Wall Street Echtzeitnachrichten in die Welt. Leider spielen die Kennzahlen der Wirtschaftsteilnehmer oft nur eine untergeordnete Rolle und werden dominiert von einem hysterischen Medienzirkus, punktundkommalosem Zentralbank-Blubber, und mysteriösen Algo-Kreaturen. Simon Hauser hat über die Jahre als aktiver Börsenteilnehmer ein krudes Interesse für diese Dinge, welche in einer perfekten Welt eigentlich keine Rolle spielen sollten entwickelt, und versucht (mit wechselndem Erfolg) zu ergründen was die Kurse wirklich treibt.

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