Kommentar
07:20 Uhr, 12.06.2013

Tradingpsychologie: Traden ohne Ende

Zunächst möchte ich, dass Sie sich ein inneres Bild vor Ihrem geistigen Auge kommen lassen. Dadurch werden Sie besser verstehen und vor allem spüren, was Balance wirklich bedeutet. Sie werden die Wirkung dieses Begriffs von Ausgeglichenheit damit deutlich verstärken. Dazu brauchen Sie einfach nur Ihre Augen für einen Moment zu schließen und sich einen Artisten in großer Höhe auf einem Drahtseil vorzustellen, der sich mit einer Balancestange im Gleichgewicht hält. Sehen Sie zudem vor Ihrem geistigen Auge, wie er hoch oben auf dem Seil in unterschiedliche Situationen gerät: Sichere und unsichere. Den größten Nutzen von dem was gleich folgt haben Sie, wenn Sie diese Aufgabe für einen kurzen Moment tatsächlich machen und erst dann weiterlesen. Tun Sie es!

Vielleicht haben Sie es bemerkt: Es gibt unterschiedliche Auslöser, um den Drahtseilläufer aus seiner Komfortzone zu bringen. Mal ist es vielleicht das Seil, welches schwankt, oder das Gleichgewicht des Artisten, oder Einflüsse von außen, wie etwa starker Wind. Je größer die Disbalance ist, desto gefährlicher wird die Situation. Je ausgeglichener sie ist, umso mehr spürt man seine eigene Ruhe in der Mitte des Seins.

Wer an einer Sache zu sehr festhält, will damit etwas Wichtiges ausgleichen

Beim Traden kann uns Verschiedenes aus unserer Mitte reißen: das falsche Geldrisiko etwa, oder die Anzahl von Minustrades. Auch Irritationen durch einen plötzlichen Crash, oder, wie es mir kürzlich passierte, die Eingabe einer falschen Ordergröße. Es kann aber auch vorkommen, dass einen die Gesamtthematik Trading völlig überfordert. Meist jedoch geht es um unaufgearbeitete Lebensthemen, die uns beeinflussen. Denn Tradingaktivitäten sind nicht der Auslöser der Misere, sondern nur der Spiegel, auf dem wir das innere Thema erkennen können. Zum Beispiel, sich nicht abgrenzen zu können, nicht über ausreichend Selbststärke zu verfügen, zu glauben nicht NEIN sagen zu dürfen, sein Selbstbild aufwerten zu wollen usw. Wer innen ein Defizit verspürt, versucht es meist im Außen auszugleichen, das nennt man Kompensation.

Wer Stress hat, weil er nur noch an seine Handelsgeschäfte denkt und deshalb vielleicht mehr am PC sitzt, als es ihm eigentlich gut tut, der ist in Gefahr, seine Tradingmitte zu verlieren. Darunter leidet dann nicht selten auch das Privatleben. Weil der Partner und man selbst in solch einem Fall nicht ausreichend genug Aufmerksamkeit bekommen. Trading wird zum Mittelpunkt des Lebens, es gelingt einem nicht mehr, vom überpräsenten Gedanken an den Handel abzuschalten. Man wartet sehnsüchtig auf den nächsten Morgen, oder den neuen Start in die Woche. Ständig hat meine seine vergangenen Trades im Kopf, Strategien, Lösungsansätze, kann nicht mehr von all dem loslassen. Das ganze Leben scheint nur noch von einem beherrscht zu werden – TRADING!

Wer NEIN sagen kann, sagt JA zu sich

Das ist natürlich auch den Umständen eines privaten Traders geschuldet. Die meisten handeln zuhause und werden von niemandem kontrolliert. Selbst und ständig ist da das Motto. Man merkt erst gar nicht, wie aus ein bisschen Trading immer mehr eine zweite Vollzeitbeschäftigung wird. Vor allem im Geiste. Da braucht es viel Selbstkontrolle, von den Geschehnissen an der Börse nicht nur gedanklich loszulassen. Handy, iPad und Co tun hier ihr Übriges. Wer will, kann heutzutage bei jeder Kursbewegung live dabei sein. Und Anfängern ist das in der Regel ein großes Bedürfnis, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Wehe, der Kurs macht eine große Bewegung und man ist nicht dabei! Das geht gar nicht!

Auch unser Gehirn braucht einen Stopp

Besonders empfänglich sind wir für solche Grübelspiralen, wenn wir mit der Handlung selbst etwas ausgleichen wollen. Verluste zum Beispiel, Unzulänglichkeiten, oder das Erreichen eines dringlichen Ziels. Das Übermaß ist natürlich nicht gesund und führt meistens zum Gegenteil. In solchen Situationen fühlen wir uns wie Gefangene unserer selbst. Wir sehnen uns dann schnell nach einer Lösung von außen. Das Fatale ist: Den Schlüssel, um unser Gefängnis verlassen zu können, tragen wir in uns selbst! Er heißt freiwilliger Verzicht! Aber davor kommt die Erkenntnis. Selbstwahrnehmung ist dafür unerlässlich. Unseren Tradingplan diszipliniert zu managen ist genauso wichtig, wie sich dem Privatleben zu widmen. Der Tradingarbeit ein Ende zu setzen ist auch eine Kunst, die man erlernen muss. Von dieser Überzeugung sind wir natürlich weit entfernt, wenn uns erstmal die Begeisterung fürs Trading im Würgegriff hat. Denn als Privattrader ist der nächste Trade immer in greifbarer Nähe. Jeder der schon einmal für einige Zeit zuhause gearbeitet hat, weiß wovon ich rede. Der „Privat“-Computer ist gleich „Firmen“-Computer. Schalten wir ihn an, ist er in unserem Unbewussten sofort mit der Arbeitsaktivität verknüpft. Eine Lösung kann hier sein, sich einen zweiten Rechner zuzulegen – einen, mit dem man nur Privates erledigt, auf dem die Tradingplattform gar nicht erst installiert ist. Ein Freund von mir, er arbeitet als Drehbuchautor, handhabt es genau so. Sein Computer, auf dem er seine Drehbücher schreibt, hat keinen Internetanschluss. So fällt die Trennung zwischen Privat und geschäftlich leichter, weil die Aufgaben in unserem Gehirn unterschiedlich verknüpft werden. Sie kennen das Prinzip vielleicht vom Trading, wenn sie für jede Handelsstrategie ein anderes Handelskonto führen. Trennung schafft Freiheit und Konzentration. Um das zu erreichen muss man Trading als Arbeit sehen und ihr bei Übermaß bewusst ein Ende setzen. Denn dauerhafte Überforderung unterstützt Verluste und macht krank. Unser Gehirn braucht dringend einen Gedankenstopp, sonst unterdrücken wir damit das überaus wichtige Regenerationsprogramm unserer Nervenzellen. Wer mehr Informationen aufnimmt, als er verarbeiten kann, schadet als aktiver Trader damit seinem gesamten Tradingprozess! Oft bemerkt man das leider erst, wenn es zu spät ist.

Trading ohne Ende – das geht nicht

Wie viel Aufmerksamkeit widmen Sie Ihrem Trading – gedanklich und aktiv? Prüfen Sie neben Ihrem aktiven Handeln ständig welche Systeme andere handeln, checken wie Analysten die Märkte gerade einschätzen, lesen zig Mails in den Tradingpausen, erledigen noch ein paar Telefonate nebenbei, surfen durchs Internet? Ständige Überforderung ist Gift für unser Gehirn. Biochemische Prozesse sorgen in manchen Hirnarealen für eine Überstimulierung, andere verkümmern geradezu. Konzentrations- und Gedächtnisverlust ist die Folge. Wir sehen beim Trading dann nicht mehr was wir sehen sollten, sondern, was wir sehen wollen, weil unser unbewusstes Überlebensprogramm aktiviert wird. Minustrades sind so Tür und Tor weit geöffnet.

Prioritäten können hier eine gute Hilfe sein. Fragen Sie sich: „Was genau möchte ich heute schaffen?“. Wer keine Struktur hat, der befindet sich wie ein Autofahrer auf einer Autobahn ohne Abfahrtschilder. Er wird nie wissen, ob er schon zu weit gefahren ist, oder zu früh seinen Weg verlassen hat. Für die meisten ist Trading eine zusätzliche Belastung. Gerade deshalb braucht es feste Ablaufregeln mit einer zeitlichen und gedanklichen Beschränkung. Es wird immer einen profitablen Trade geben, bei dem wir nicht dabei sein werden. So ist das nun mal in diesem Geschäft. Sonst müsste man 24 Stunden traden, was natürlich keine Lösung ist. Haben Sie die Kraft, sich bewusst vom Trading zu lösen?

Entspannt Geld verdienen

Erzwungene Ablenkung ist eine andere Möglichkeit, Herr des Übermaßes zu werden. Wenn Kinder etwas zu sehr wollen, dann ist es ein guter Trick, sie emotional schnell mit etwas anderem zu verbinden. „Schau mal hier, das macht dir bestimmt auch richtig Spaß!“. Nutzen Sie diesen Weg der bewussten Ablenkung. Mein Trading-Ausbilder Christoph ging deshalb fast jeden Tag nach seiner ersten Tradingsession um 11:30 Uhr zum Sport. Danach machte er Mittag, trank gemütlich einen Kaffee und setzte sich zur Eröffnung der US-Märkte wieder an den Rechner. Sein Prinzip: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!

Wer für Sport keine Zeit hat, sollte es mit Meditation oder anderen Entspannungsmethoden versuchen. Es ist mittlerweile in zahlreichen Studien weltweit bewiesen worden, dass sie hochwirksam gegen mentale Überanstrengung wirken. Man muss es nur regelmäßig praktizieren. Jeden Tag eine halbe Stunde reicht schon. Wichtig ist, das man im Entspannungsmodus etwas praktiziert, was das Gegenteil von der Hauptaktion ist. Wer z.B. viel mit dem Kopf arbeitet, sollte aktiv seinen Geist beruhigen, oder sich moderat in der Natur bewegen.

Sind Sie beim Traden selbstbestimmt, oder fremdbestimmt? Fragen Sie sich, warum Sie es sich von sich selbst gefallen lassen, sich zu überanspruchen? Wenn Sie merken, dass Sie alleine nicht damit klar kommen, dann holen Sie sich Hilfe. Sonst könnte es passieren, dass nicht Sie die Aufgabe haben, sondern die Aufgabe Sie! Das nennt man dann Sucht. Und bei Sucht ist das Fatale, das über längere Zeit genau das Zentrum im Gehirn schaden nimmt, welches man zur Lösung des Problems benötigt! Seien Sie deshalb achtsam mit sich. Ein Falschfahrer ist anfangs auch davon überzeugt, dass er auf dem richtigen Weg ist. Selbstreflektion ist immer gut angelegtes Geld! Oder wie es kürzlich einer meiner Kunden, ein Hedgefondsmanager, der ein sehr großes Konto handelt, einmal so treffend auf den Punkt brachte: „Herr Welz, sie sind Teil meines Risikomanagements“.

Beim Trading brauchen wir einen seelischen Arbeitsschutz. Sonst können die enormen Anspannungen schnell zu einem unliebsamen Teufelskreis werden. Der achtsame Umgang mit seiner Aufgabe ist ebenso wichtig wie die Aufgabe selbst. Erst die gelungene Mischung aus beidem sorgt meist für den beständigen Erfolg.

Wer mehr zu diesen und anderen wichtigen Themen zur Tradingpsychologie erfahren möchte, dem empfehle ich auch meine zweiteilige Webinarreihe:http://www.godmode-training.de/event/id/9508

Mein Buch finden Sie hier: https://www.m-vg.de/finanzbuchverlag/shop/article/2970-tradingpsychologie-so-denken-und-handeln-die-profis/

Norman Welz

Angewandte Tradingpsychologie

www.bettermind.de

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Über den Experten

Norman Welz
Norman Welz
Experte für angewandte Tradingpsychologie

Norman Welz arbeitete 20 Jahre lang als Redakteur und Moderator für Rundfunk und Fernsehen. Die meiste Zeit war er beim NDR in Hamburg tätig. Hier moderierte er ca. 3000 Livesendungen im Bereich Unterhaltung und Talk.

Seine große Leidenschaft war immer der Mensch und die Börse. Zahlreiche Studien zum Thema „Sinn des Lebens“, „Neurowissenschaft“, „Erfolgs- und Motivationspsychologie“, „NLP“, „Hypnotherapie“ und zahlreiche Coachingverfahren mündeten in eine Privatpraxis für Psychotherapie in Hamburg.

Schwerpunkt seiner Arbeit sind Ängste. Er arbeitete diesbezüglich als Fachtherapeut in einem Fachinstitut für Angstüberwindung und Leistungsoptimierung. Hier wurden Angstpatienten ebenso betreut wie Leistungssportler auf dem Weg zur Weltmeisterschaft oder zum Olympiasieg.

Norman Welz beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Thema Börse. Was einst mit dem Kauf von VW-Aktien begann, mündete in eine Ausbildung zum Börsenhändler bei einem professionellen Futuretrader. Heute handelt er täglich selbst nach Markttechnik mit Hilfe von Technischer Analyse im Kurzfristbereich (1 Min. und 5 Min.). Seine Basiswerte sind Dax, EUR/USD, Dow, Öl, Bund, EuroStoxx sowie diverse Einzelwerte aus dem Aktienbereich.

Norman Welz arbeitet heute neben seiner Privatpraxis für Psychotherapie als Tradingpsychologe, Coach, Trainer und Vortragsredner. 2007 gründete er das bettermind-Institut für mentalen Erfolg (bettermind.de).

Sein Trading-Motto lautet: „Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht!“

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