Investoren sind sich des Ausgangs der US-Präsidentschaftswahlen zu sicher
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Nach der Markteffizienzhypothese spiegeln Aktien- und Anleihenkurse alle verfügbaren Informationen wider. Aber sie spiegeln Erwartungen, nicht Fakten, und geben daher nicht so sehr wieder, was die Marktteilnehmer wissen, sondern wie sie die Zukunft einschätzen. Das macht den Markt und die Kurse zum Spiegel eines Sammelsuriums von Möglichkeiten und verschiedenen Szenarien. In der Vergangenheit ist die Volatilität stark gestiegen, wenn sich Annahmen der Marktteilnehmer als falsch erwiesen haben. Beispielsweise waren beim Lockdown im März die steigenden Rezessionsrisiken in den Kursen nicht berücksichtigt. Das belegt der schrittweise Anstieg des CBOE Volatility Index (VIX) von einem nahezu historischen Tiefstand auf ein Rekordhoch innerhalb nur eines Monats. Normalerweise gehen die Risikoprämien zurück, wenn das Anlegervertrauen allmählich (oder, wie 2020, mit Rekordgeschwindigkeit) steigt, weil die Marktteilnehmer dann das Risiko-Ertrags-Verhältnis und die Wahrscheinlichkeiten wieder für angemessen halten.
Die US-Aktienkurse sind heute höher als vor der Krise, und die Credit Spreads sind fast so eng wie vor COVID-19. Mal ganz abgesehen von der Möglichkeit beziehungsweise unserem starken Verdacht, dass diese Erholung ein von den Zentralbanken finanziertes Scheinhoch ist, stellt sich die Frage: Was drücken die Investoren mit diesen hohen Kursen aus? Sicherheit. Daran besteht kein Zweifel. Ungeachtet meiner persönlichen Ansicht signalisieren die Investoren Überzeugung und Vertrauen in die Zukunft.
Wie steht es mit Ihnen angesichts all dessen, was uns 2020 bislang beschert hat? Fühlen Sie sich sicher?
Was sagen uns die Umfragen und Wettquoten über die zu erwartende Entscheidung der Wähler? Beide sprechen dem früheren Vizepräsidenten Joe Biden eine etwas größere Chance zu, die Wahlen zu gewinnen, als Präsident Trump. Aber auch der Markt wählt, und zwar jeden Tag. Mit jeder Transaktion gibt er seine Stimme ab. Sehen auch die Investoren Biden als Gewinner?
Um diese Frage zu beantworten, muss man sehr viele Faktoren berücksichtigen. Ich versuche, es einfach zu halten. Unter Biden dürften zwei Dinge passieren. Erstens ist die teilweise Rücknahme des Tax Cuts and Jobs Act (TCJA) von 2017 zu erwarten, durch den die US-Unternehmenssteuer von 35 % auf 21 % gesenkt wurde. Wenn diese Senkung auch nur zu 50 % rückg.ngig gemacht würde, würden die Nettogewinne über den Daumen gerechnet um mehrere Prozentpunkte sinken. Zweitens dürften die Mindestlöhne in den USA von zurzeit 7,25 auf etwa 15 US-Dollar pro Stunde angehoben werden. Beides würde die Gewinne belasten. Das gilt vor allem für Unternehmen mit einer niedrigeren Marktkapitalisierung, die einen geringeren Steuerspielraum haben, weil sie weniger Gewinne außerhalb der USA erzielen, oder deren Betriebskosten vor allem Arbeitskosten sind, sodass sie nur wenig Sparpotenzial haben. Die starke Performance von Small Caps und Anleihen ohne Investmentgrade-Rating in den letzten Wochen signalisiert aber, dass Präsident Trump die Nase vorn hat, weil bei ihnen die genannten Risiken höher sind.
Beide Kandidaten würden versuchen, mehr US-Produkte im Inland herstellen zu lassen und USUnternehmen zurück in die Vereinigten Staaten zu holen. Jahrelang haben US-Unternehmen mehr Wertschöpfung und höhere Kapitalrenditen erzielt, indem sie Lieferanten unter Druck setzten und ihre Lieferketten bis ans Ende der Welt verlängerten. Wenn man die nach einer Rückkehr in die USA höheren Kosten nicht durch höhere durchschnittliche Verkaufspreise oder Kostensenkungen an anderer Stelle ausgleichen kann, dürften die Margen unter Druck geraten.
Ich weiß nicht, wer der nächste US-Präsident sein wird, oder welche kurzfristigen Folgen diese Wahl für die Finanzmärkte hat. Als Investor mache ich mir mehr Gedanken über die langfristigen Auswirkungen auf die Gewinne im Verhältnis zu den Kursen. Mich interessiert, was die künftigen Cashflows heute kosten. Meine Aufgabe als Portfoliomanager und Stratege bei MFS versetzt mich in die Lage, den Markt mit den Augen von über 100 fundamentalen Aktien- und Credit-Analysten auf der ganzen Welt zu sehen. Und ich sehe Folgendes:
- Die Gewinne hatten bereits vor der Pandemie ihren Höhepunkt erreicht und waren bei ihrem Beginn bereits rückläufig.
- Durch die Reaktionen der Zentralbanken und Anleihenmärkte konnten Unternehmen enorme Umsatzlöcher mit zusätzlichen Krediten stopfen – und ihre Bilanzen belasten wie nie zuvor.
- Jedes Unternehmen hat Fixkosten, die gedeckt sein müssen, bevor es Gewinn erzielen kann, und diese Kosten sind gestiegen, weil die Unternehmen versuchen, Kunden und Mitarbeiter vor dem Coronavirus zu schützen. Insgesamt sind die Umsätze gefallen.
- Und: Die Investoren sind bereit, für die niedrigeren künftigen Gewinne höhere Preise zu zahlen als vor der Pandemie. Im Vergleich zu 2019 zahlen sie also heute viel mehr für viel weniger.
Aber zurück zu den Wahlen: Wir achten zwar erheblich mehr auf die langfristigen Fundamentaldaten als auf kurzfristige politische Ereignisse, aber wir sind nicht blind. Die Analysten von MFS haben ihre Modelle angepasst, um mehrere Szenarien für die Unternehmensgewinne bei einem Sieg von Biden oder von Trump zu erfassen. Bei einem Sieg Trumps steigt die Spanne der möglichen Auswirkungen für einige Assets, aber nicht für alle. Das Gleiche gilt, wenn Biden gewinnt. Außerdem betrachten wir die Folgen möglicher Veränderungen der Regierungspolitik langfristig. Eine politische Entscheidung kann kurzfristig die Rentabilität belasten, aber langfristig für tragfähige Gewinne sorgen. Einige Unternehmen finden vielleicht heraus, dass die Behandlung ihrer Mitarbeiter als Stakeholder Vorteile bringt, die sich nicht so leicht aus den Quartalszahlen herauslesen lassen. Auf der Grundlage von Gedanken wie diesen lassen wir das mit den Wahlen verbundene Risiko in unseren Investmentprozess einfließen.
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