Aktienneubewertung
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Das aktuelle Zinsumfeld ist historisches Neuland, denn noch nie waren die Zinsen so tief wie heute. Damit sind auch historische Bewertungsmaßstäbe für den Aktienmarkt obsolet.
Die aktuelle Korrektur an den Aktienmärkten hinterlässt erste Wirkungstreffer. Die Stimmung kühlt sich deutlich ab. Das war bereits Ende vergangenen Woche bei der in Deutschland erhobenen Sentix-ablesbar, in der die kurzfristige Einschätzung deutlich negativer wurde. Und ganz aktuelle zeigen das auch die Zahlen des Hulbert Stock Newsletter Sentiment Index (HSNSI) in den USA eine Stimmungseintrübung. So ist der Wert für Standardaktien von in der Spitze + 56,8 auf + 17,1 Prozent und der für Technologieaktien von in der Spitze + 75,0 auf + 29,4 Prozent abgerutscht. Das sind natürlich noch keine eindeutigen Kaufsignale, dafür müssten die Werte ins Negative drehen, es zeigt sich aber, dass die Euphorie zunehmend der Vorsicht weicht. Auch die Kommentare von der gesunden Korrektur, die als Einstiegsgelegenheit genutzt werden sollte, werden seltener. Das ist aus antizyklischer Sicht ein gutes Zeichen. Zwar halte ich immer noch eine ausgedehntere Konsolidierung für die wahrscheinlichste Variante, weil die französische Präsidentschaftswahl sich noch zu einem Belastungsfaktor entwickeln könnte, der Markt dürfte aber mit der schlechtere werdenden Stimmung immer besser nach unten abgestützt sein. Erste Käufe könnten für gänzlich unterinvestierte Anleger bereits jetzt ratsam sein, denn dass die Aktien ihren Aufwärtstrend fortsetzen werden, davon ich so stark überzeugt, wie seit langem nicht mehr. Der Grund liegt an der aktuellen Zinsentwicklung. Diese unterscheidet sich nämlich von der in vergangenen Aktienaufschwungsphasen.
Das stellte jüngst auch ein Analyst fest, der - als der DAX sich noch voll im Aufschwung befand - in einem Börsenkommentar sinngemäß so zitiert wurde, dass sich die Gesetzmäßigkeiten der Börse mit dem Aktienaufschwung seit Jahresbeginn verändert hätten. Sei es üblicherweise so, dass bei steigenden Aktienkursen die Anleihen fallen, und damit deren Rendite steigt, sei dies nun plötzlich nicht mehr der Fall. Trotz der stärksten Jahresanfangsrallye in der Geschichte des DAX seien die Renditen stabil geblieben.
Der mit dieser Aussage zitierte Analyst offenbarte damit wahrscheinlich vollkommen unbewusst seinen begrenzten Erfahrungshorizont. Denn tatsächlich ist in der längerfristigen Betrachtung die von ihm entdeckte Anomalie die Regel gewesen, zumindest bis zum Platz der Internetblase im Jahr 2000.
Bis in die späten 90er Jahre war es eine Gesetzmäßigkeit, dass steigende Anleihen und damit fallende Renditen, steigende Aktienkurse nach sich zogen. Häufig passierte dies mit etwas Zeitverzögerung, in der Regel drei bis sechs, in Ausnahmen auch mal bis zu zwölf Monate. Dann liefen beide Märkte eine Zeit lang parallel, bis die Renditen nach oben drehten und die Aktien den damit einhergehenden fallenden Anleihen wieder folgten. Hierauf konnte man sich blind verlassen und es eröffnete wunderbare Chancen, wenn der Anleihemarkt bereits voraus gelaufen war und man nur darauf warten musste, dass ihm die Aktien folgten.
Doch seit Beginn des neuen Jahrtausends gilt dies nicht mehr in dieser Reinform. Zwar folgen auf fallenden Renditen auch irgendwann wieder steigende Aktien, doch wegen der enorm aufgeblähten Liquidität und Verschuldung, wirken die Zinsveränderungen nicht mehr in der früher gültigen Zeitspanne.
In den vergangenen zwölf Jahren war es eher so, dass die Renditen schon zu steigen begannen, wenn die Aktien auf den vorherigen Zinsrückgang positiv reagierten. „Raus aus Sicherheit, rein in Risikopapiere“, lautete die Begründung in den Börsenkommentaren, als ob es schon immer so gewesen sei. Der damit einhergehende Zinsanstieg trug damit jedoch schon wieder den Keim dessen nächsten Aktieneibruchs.
Insofern ist die Aktienentwicklung seit Beginn des Jahres tatsächlich bemerkenswert. Denn obwohl Anleger in die Risikoanlage Aktien investieren, findet keine Flucht aus den Anleihen statt. Der Grund dürften auch die Liquiditätsspritzen der europäischen Zentralbank sein, jedoch nicht allein. Denn wäre dies so, müssten zumindest die Zinsen für Bundesanleihen steigen, und die der Peripherieländer fallen. Tatsächlich aber bleiben die deutschen Zinsen stabil, während sich der sogenannten PIIGS-Staaten fallen.
Es zwar richtig, dass Bundesanleihen extrem unattraktiv sind, weil sie weniger Rendite abwerfen als die Inflation aktuell an Kaufkraft vernichtet, doch irgendwo muss das Geld der Versicherungen und Pensionskassen ja hin, die selbst wenn sie es wollten, nicht einfach alles in Aktien oder Gold umschichten dürfen. Um ihre Schulden günstig finanzieren zu können, werden auch die Staaten, egal ob USA, Großbritannien oder der Euroraum, mit ihren bereits instrumentalisierten Notenbanken dafür sorgen, dass die Zinsen nachhaltig unten bleiben.
Trifft diese Annahme zu, dann ist meine Schlussfolgerung einfach: Aktien stehen vor einer Neubewertung. Denn ein Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) von zehn – demgemäß der DAX historisch ebenfalls unterbewertet ist – ist im aktuellen Zinsumfeld vollkommen anders zu bewerten, als bei einem langfristigen Zins von fünf Prozent und einer Inflation von 1,5 Prozent.
2012 könnte insofern ein Aktienjahr werden, das selbst noch die Optimisten überrascht.
Mehr von und über Stefan Riße erfahren Sie unter www.rissesblog.de
Stefan Riße, ist Portfolio Manager bei der HPM Hanseatischen Portfoliomanagement in Hamburg. Bekannt ist er durch seine jahrelange Tätigkeit als Börsenkorrespondent für den Nachrichtensender N-TV. Sein aktuelles Buch „Die Inflation kommt“, belegte 2010 erste und zweite Plätze auf den bekannten Wirtschaftsbuch-Bestsellerlisten.
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