Kommentar
07:30 Uhr, 23.11.2024

Wie Du Deinen langfristigen Aktienanteil bestimmst

In einschlägigen Ratgebern werden immer wieder Faustformeln für den Aktienanteil in einem Langfristdepot genannt, z.B. „Aktienanteil in Prozent = 100 – Lebensalter“. Demnach dürften schon 40-Jährige nur mit 60 % Aktienanteil unterwegs sein. Geht das nicht genau? Die Antwort ist: Ja!

Dass Steuern auf Dividenden fällig werden, ist nicht nur in Deutschland so. Und es will nicht nur der Fiskus aus dem eigenen Land einen Anteil, sondern auch die ausländische Finanzbehörde.

Wissenschaft statt Faustformeln!

Angesichts der immer noch geringen Renditen scheuen sich viele, einen bedeutenden Teil ihres Vermögens in Anleihen zu stecken, die real – also nach Abzug der Inflation – kaum Ertrag bringen. Zumal angesichts der heutigen Lebenserwartung selbst 50-Jährige noch Jahrzehnte Zeit haben, um noch erfolgreich in Aktien anzulegen!

"Rein gefühlsmäßig" ist die Sache klar: Je langfristiger mein Anlagehorizont ist, desto mehr kann ich in Aktien investieren. Schließlich wächst mit der Zeit die Wahrscheinlichkeit, dass ich die entsprechend höhere Rendite bei Aktien tatsächlich erhalte – Crash hin und Baisse her. Aber wie lange ist "langfristig" und wie viel ist "mehr"?

Erfreulicherweise hat die Statistik dieses Problem schon gelöst, wenn auch nicht speziell für die Aktienanlage. Doch die passende Formel können wir mit geringem Aufwand auch für unser Problem anpassen.

Welche Spiele sich lohnen – und welche nicht

Ursprünglich wurde in der Statistik eine Antwort auf folgende Frage gesucht: "Wie hoch ist der optimale Anteil, den man in einer Wette mit positiver Gewinnerwartung setzen sollte?" Das klingt zunächst akademisch ist aber ein leicht verständliches Problem. Beim Münzwurf beträgt die Wahrscheinlichkeit für Wappen bzw. Zahl bekanntlich jeweils 50 %. Wenn du also z.B. 1.000 Mal eine Münze wirfst, sollten beide Seiten ca. 500 Mal gefallen sein.

Wenn Dir nun jemand vorschlägt, dass Du beim Münzwurf – je nach Ausgang – Deinen Einsatz im Gewinnfall verdoppelst, aber im Verlustfall komplett verlierst, dann wirst Du sicher dankend abwinken: Du würdest (bei jeweils konstantem Einsatz) zwar rund 500 Mal gewinnen und damit Deinen Einsatz verdoppeln, aber eben auch rund 500 Mal diesen Einsatz wieder verlieren. Das Spiel wäre also sinnlos – Du hättest also am Ende bestenfalls so viel wie am Anfang. Deine Gewinnerwartung wäre also Null.

Mathematisch drückt man das so aus:

Gewinnerwartung = Gewinnwahrscheinlichkeit ∙ Gewinn – Verlustwahrscheinlichkeit ∙ Verlust

Gewinn- und Verlustwahrscheinlichkeit sind jeweils gleich (50 % = 0,5), Gewinn und Verlust ebenfalls (jeweils der Betrag des Einsatzes E). Es ergibt sich also: 0,5 ∙ 1∙E – 0,5 ∙ 1∙E = 0.

Aussichtsreicher wäre es dagegen, wenn du als Gewinn das Doppelte deines Einsatzes erhieltest (dein Einsatz wird also verdreifacht), während der Verlust weiterhin auf den einfachen Einsatz begrenzt bleibt.

Dann sieht die Rechnung schon ganz anders aus! Gewinn- und Verlustwahrscheinlichkeit sind natürlich unverändert, aber der Gewinn beträgt nun das Zweifache des Einsatzes. In der Formel sieht das dann so aus: 0,5 ∙ 2∙E – 0,5 ∙ 1∙E = +0,5 E. Jetzt ist die Gewinnerwartung positiv; das Spiel "lohnt" sich also in jedem Fall, weil am Ende theoretisch stets ein Gewinn übrigbleibt.

Wie bestimmt man den optimalen Einsatz?

Nun könntest Du einerseits diesen Gewinn dadurch maximieren, indem Du einen möglichst hohen Einsatz pro Durchgang wählst. Andererseits darfst Du aber den pro Durchgang eingesetzten Anteil deines Kapitals auch nicht zu hoch wählen – Du kannst schließlich auch verlieren! Wenn du im Extremfall bereits im ersten Durchgang dein gesamtes Kapital setzt und verlierst, ist schließlich alles weg und das Spiel zu Ende. Wenn du dagegen zu wenig setzt, lässt du einen Teil des möglichen Gewinns liegen.

Das Problem ist also nicht ganz trivial, aber erfreulicherweise gibt es auch eine Formel zur Berechnung des optimalen Anteils, den du setzen solltest. Sie lautet:

Rückzahlungsquote ∙ Gewinnwahrscheinlichkeit - 1
eingesetzter Anteil des Kapitals = E = ----------------------------------------------------------------------
Rückzahlungsquote - 1

Die Gewinnwahrscheinlichkeit kennen wir schon, und die Rückzahlungsquote ist das Vielfache des Einsatzes, das man bei Gewinn zurückerhält. Im Fall unserer ersten Spielvariante ist es das Doppelte des Einsatzes E: (2∙E ∙ 0,5 - 1) / (2 - 1) = 0. Auch hier ergibt sich also, dass sich das Spiel nicht lohnt – der Einsatz sollte null sein. Bei der zweiten Variante erhalten wir dagegen (3∙E ∙ 0,5 - 1) / (3 - 1) = 0,25 = 25 %. Bei diesem Spiel sollte man also ein Viertel seines Kapitals riskieren.

Die Formel ist benannt nach dem US-Wissenschaftler John L. Kelly, der an den berühmten Bell Laboratories arbeitete und sie aus der Informationstechnik ableitete, dem Gebiet, auf dem er eigentlich tätig war. Das Ergebnis – meist als Kelly-Anteil bezeichnet – wird im Investmentbereich oft von Tradern automatischer Handelssysteme angewendet. Dabei werden aus verschiedenen Gründen noch Abstriche von dem errechneten Wert gemacht. Das ist aber für unsere weitere Betrachtung ohne Belang.

Die Kelly-Formel und die Aktienanlage

Nun ist die Frage, wie wir diese Formel auf unser Problem anwenden können – schließlich haben wir nicht mehrere Durchgänge in unserem "Spiel", sondern suchen den Aktienanteil für eine einmalige Langfristanlage. Die Lösung: Wir nehmen die historischen Ergebnisse verschiedener Zeiträume als Grundlage (siehe folgende Tabelle).

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Quelle: eigene Berechnungen mit Daten von VWD und www.measuringworth.com

Keine Angst vor diesem "Zahlengrab"; für unseren Zweck reichen vorerst die Werte in den grünen Zeilen. Aber zunächst zum Hintergrund: Für diese Tabelle habe ich die Renditen des Dow Jones Index seit 1900 für die jeweiligen Zeithorizonte (siehe Überschriftenzeile) ausgewertet, und zwar auf Basis der monatlichen Schlusskurse für alle möglichen Kombinationen. Also vom 31.01.1899 bis 31.01.1900, vom 28.02.1899 bis 28.02.1900 usw. Dito für die anderen Zeiträume ebenfalls jeweils ab 1900 bzw. dem frühestmöglichen Zeitpunkt. (Die Dow-Jones-Historie beginnt erst im Mai 1885.)

Das ergibt – je nach Zeitraum – zwischen gut 1.000 und knapp 1.450 Perioden, die ich in der Tabelle getrennt nach positiven und negativen Renditen ausgewertet habe. Den Anteil der positiven Perioden jedes Zeitraums (siehe obere grüne Zeile) kann man dabei als Gewinnwahrscheinlichkeit interpretieren, den Mittelwert bzw. Medianwert der positiven Perioden (jeweils zuzüglich 1 bzw. 100 % für den Einsatz) als Rückzahlungsquote. Daraus ergeben sich nach obiger Formel die Kelly-Anteile, die man als Aktienanteil investieren sollte (siehe gelbe Zeile).

Das Ergebnis: erwartet und doch überraschend

Das Ergebnis entspricht der landläufigen Erwartung: In Aktien soll man nur investieren, wenn der Anlagehorizont mehr als drei Jahre beträgt. Je länger der Anlagehorizont ist, desto größer darf der Anteil des Vermögens dafür sein – ab 20 Jahre kann man getrost "alles" investieren (die 5 % Differenz fallen "automatisch" an, z.B. durch einen unvermeidlichen Cash-Anteil). Und für alle, die schon im reiferen Alter sind, besonders interessant: Das Ergebnis ist unabhängig vom Lebensalter! Entscheidend ist einzig und allein Dein Anlagehorizont. Und wer noch für zehn Jahre plant, kann immerhin 70 % Aktien halten – eine Größenordnung, die durchaus vernünftig erscheint.

Allerdings sind die Schwankungen der vergangenen gut 120 Jahre gewaltig: Selbst über 30 Jahre konnten Anleger im schlimmsten Fall noch 9 % verlieren (siehe "Minimum neg. Period.") und bis 20 Jahre kratzten selbst "positive" Zeiträume mitunter nur an der Nulllinie (siehe "Minimum pos. Period."). Das überrascht dann doch – zumal wir bei derart langen Zeiträumen nur einen "Wurf" haben – wer kann schon über mehrere 30-Jahres-Perioden planen?

Allerdings blieben bei dieser Berechnung die Dividendenausschüttungen unberücksichtigt. Sie verbessern die Ergebnisse vor allem über lange Zeiträume erheblich. Auch durch Wahl des (niedrigeren) Medianwertes gegenüber dem Mittelwert enthält das Ergebnis ein Sicherheitspolster.

Das sind die Schlussfolgerungen für Dich

Dennoch bleibt es dabei: Anleger brauchen ein aktives Depotmanagement, und wenn es nur für den "restlichen" Depotanteil ist. Dafür gibt es unterschiedliche Konzepte und Möglichkeiten, die ich im Geldanlage-Brief meinen Leserinnen und Lesern frei Haus liefere.

Als Fazit lässt sich also festhalten: Der Aktienanteil im Depot kann nicht nur nach Faustformeln, sondern auch "mathematisch exakt" ermittelt werden. Dadurch erhält man auch ein Gefühl für Risiken und Chancen an den Aktienmärkten.

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