Handelssysteme - wenn der Rechner handelt: Letzter Teil (3)
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Im dritten Teil der Artikelserie zum Handel mit systematischen Regelwerken, wollen wir uns mit der Rolle der Unberechenbarkeit eines solchen Handelsansatzes befassen und dabei die Frage klären, ob und in wieweit es sinnvoll ist, diese Modelle unkritisch zu übernehmen. Diese Frage wird umso drängender, da mittlerweile bereits eine kaum noch zu überschauende Fülle von Regelwerken im Markt angeboten wird (meist zum käuflichen Erwerb oder zum Teilhaben an den bisherigen Ergebnissen).
Was Handelssysteme sind, worin ihre Vorteile und Stärken liegen, ebenso welche Grenzen sie aufweisen, haben wir im Teil 1 bereits besprochen, die Auswirkungen des vermehrten Systemeinsatzes auf die Kursentwicklung und damit auf die „Prognostizierbarkeit“ eines Marktes diskutierten wir im Teil 2. Jetzt geht es um die Stabilität und Zuverlässigkeit eines Systems.
Ich selbst war über viele Jahre ein sehr eiserner Verfechter des Einsatzes von Handelssystemen, doch erweiterte sich mit der Zeit mein Blickwinkel zu diesem Ansatz. Verstehen Sie mich nicht falsch: ich gehen noch heute davon aus, dass Handel ohne straffe Regelwerke, deren Einhaltung unbedingte Disziplin verlangt, keine Aussicht auf stetigen Erfolg verspricht. Vielmehr ist man dann „ein Getriebener“, der mal dieses und mal jenes versucht, um festzustellen, dass gerade immer der Tipp, den man erfolgreich umsetzen will, gegen die Wand fährt. Aber gerade weil der Einsatz von klaren Regeln so essentiell ist, sollte eine kritische Betrachtung angebracht sein. Denn Regeln sind nicht in Stein gemeißelt. Auch der Markt durchläuft eine Evolution und dieser müssen sich Regeln anpassen.
Der ehemalige Optionshändler und jetzige Buchautor Nassim Nicholas Taleb, der mit der Beschreibung des Phänomens des „schwarzen Schwans“ bekannt wurde, steht dem kritiklosen Einsatz von Handelssystemen überaus kritisch gegenüber. Als ich dessen Ansichten zum Einsatz von Handelssystemen das erste Mal gelesen habe, war ich erstaunt bis ablehnend seiner An- und Einsichten gegenüber. Doch mit der Zeit machten einige seiner Aussagen durchaus Sinn und bestätigten sich in meinen / unseren Erfahrungen im Umgang mit dieser Art zu handeln.
Ich will an dieser Stelle die Schlüsselstelle aus dem Gedächtnis aufführen, welche mich wirklich nachdenklich werden ließ. Zitieren kann ich sie nicht, weil ich sie nicht mehr finde (dazu müsste man jetzt seine Bücher mit viel Zeitaufwand durchblättern).
Taleb schreibt sinngemäß: stellen wir uns vor, wir würden alle Ereignisse im Leben des ehemaligen US-Präsidenten George Bush in einem Regelwerk zusammenfassen, um daraus Muster ableiten zu können, wann er möglicherweise was macht, könnten wir mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Algorithmus finden, der eine vielversprechend hohe Trefferquote aufzeigt, nach der sich Entwicklungen seiner persönlichen Aktivitäten erwarten lassen. Doch während wir so vor und hin entwickeln und Regeln erstellen und ableiten, haben wir alle einen ganz wichtigen Parameter nicht auf dem Schirm: Georg Bush könnte sterben. Warum? Weil er noch nie gestorben ist.
Er (Bush) war alles schon, betrunken und nicht betrunken, randalierend und nicht randalierend, Präsident der USA und nicht Präsident, Kampfpilot und nicht Kampfpilot … aber gestorben ist er noch nie. Dieser nicht unerhebliche Aspekt ist in der „Testreihe“ noch nie vorgekommen, folglich noch nie berücksichtigt worden. Träte dieser Sachverhalt irgendwann mal ein, haben wir einen ziemlichen Einschnitt in unserer Testreihe und aller Voraussicht nach, würde diese Entwicklung all unsere bisherigen Schlussfolgerungen in punkto weiter verwertbarer Prognostizierbarkeit über den Haufen werfen.
Manch einer von Ihnen wird diesen Vergleich jetzt vielleicht banal finden, aber trifft er doch den Kern der Sache. Widerkehrende, möglicherweise testbare und unter Umständen sogar verwertbare Algorithmen gibt es in den Märkten – keine Frage, sonst könnten wir an der Stelle aufhören, an der Börse zu handeln und einem anderen Beruf oder Hobby nachgehen. Aber diese Algorithmen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie existieren temporär und verlieren an Stabilität und Zuverlässigkeit, wenn sich die Struktur des Marktes ändert. Ich hatte schon einmal an einer anderen Stelle hervorgehoben: ein Markt ist ein lebendes Konstrukt. Und alles was lebt, unterliegt Veränderungen. Und wer diese Tatsache abbilden und nachverfolgen will, muss mit einem Instrumentarium arbeiten, welches dieser Entwicklung ebenfalls evolutionär folgt.
Als wir begannen, innerhalb unserer Gruppe in der Deutschen Bank mit Handelssystemen zu arbeiten, verfielen wir zunächst einer Tendenz, die wahrscheinlich ein jeder beruflich oder hobbymäßig arbeitende Trader verfällt: der Suche nach dem Super-Indikator, dem Superregelwerk, dem Super System – welches alle Eventualitäten berücksichtigt und filtert. Der Quellcode des Systems wird länger und länger, die Ausnahmeregeln immer häufiger und die Parameter immer unübersichtlicher. Am Ende wird entweder gar kein Signal mehr generiert, weil sich alles gegenseitig ausschließt oder das Konstrukt ist so fehleranfällig, dass es jedes Mal einer Nachtschicht bedarf, um die Ursache des nächsten Verlustes im Formelwerk zu finden.
Es sah schlussendlich niemand mehr durch und die Regelwerke flogen in die Tonne.
Was war unser Schlüssel? Einfachste Regelwerke, welche total überschaubar und manuell handelbar waren. Wir machten zur Bedingung, dass das Regelwerk so einfach zu gestalten sei, dass es problemlos manuell gehandelt werden kann, weil man das Regelwerk so verinnerlicht, dass man nicht hochschreckt, wenn das Signal im Computer piept und eine Umsetzung verlangt oder selbständig durchführt.
Der Vorteil dieser Zwei- bis Drei-Zeiler liegt auf der Hand: jede Änderung des Algorithmus im Markt, lässt sich frühzeitig erkennen und Anpassen. Jedenfalls schneller, als wenn Sie sich erst durch 100te von Code-Zeilen kämpfen müssen.
Ich war einmal vor Jahren zu einem Workshop vom VTAD (Vereinigung Technischer Analysten Deutschlands) für die Entwicklung von Handelssystemen eingeladen. Ich hielt einen Vortrag und wir diskutierten im Anschluss daran über allgemeine und konkrete Regelwerke. Schließlich stellte ein Mitglied ein Modell vor, welches im Backtesting (der reale Einsatz sollte erst noch bevorstehen) eine beeindruckende, nervenschonende Ertragskurve aufzeigte. Das totale KO-Kriterium dieses Systems war jedoch, dass hier bis zu 24 Indikatoren zum Einsatz kamen. Der erste kritische Einwand war, dass hier mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Optimierungsfunktion im Programmiersystem zum Einsatz kam. Die TradeStation von Omega hatte eine Funktion, mit der man rückwirkend die Parametereinstellung optimieren konnte, so das (brutal gesagt) fast jedes Regelwerk in der getesten Zeitspanne profitabel werden konnte, um dann im Praxiseinsatz jämmerlich zu versagen. Der Haupteinwand kam jedoch im Zusammenhang mit der völligen Unübersichtlichkeit des Regelwerkes. Wenn auch nur einer von 24 Indikatoren nicht wirklich „verstehend“ eingesetzt wurde und damit das Gesamtregelwerk zum Mond schießen konnte, wäre der „Fehler“ kaum noch zu finden.
Also deshalb immer und immer wieder: Systeme müssen einfach und absolut überschaubar bleiben. Mehr als zwei oder drei Programmierzeilen (also Bedingungen) sollte ein solches Regelwerk einfach nicht haben. Ich fragte den Programmierer des 24 Indikatorsystems, warum er nicht 24 einfache Einzelsysteme daraus macht. Und das meinte ich ernst. Denn dann ist rascher zu erkennen, an welchem Parameter sich die Änderung einer Marktstruktur bemerkbar macht.
Es wird auch immer wieder gefragt, ob es nichtsinnvoll wäre, ähnlich einer Google-Suchmaschine, nach Regelwerken im Markt suchen zu lassen. Soll konkret heißen: wir zäumen das Pferd von hinten auf. Wir haben nicht eine Regel im Kopf, die uns über all die Jahre zumindest subjektiv als stetig erfolgreich erscheint und welche wir nun versuchen wollen, systematisiert zu überprüfen, sondern wir suchen einfach darauf los, irgendetwas Tolles zu finden.
Gleich vorweg, ich lehne solch eine Vorgehensweise strikt ab. Ein System muss meiner Ansicht nach aus der Praxis heraus wachsen. Man muss es spüren können und schon kennen. Die Systematisierung soll schlussendlich nur dazu beitragen, zu bestätigen oder zu negieren, ob an diesem Ansatz tatsächlich soviel dran ist, wie man zunächst diskretionär erwartet hat.
Aber stellen wir uns vor, genau diesen Weg würde man gehen. Man würde nächtelang (von Schlaflosigkeit geplagt) Kursdaten durchforsten, um deren Eigenschaften zu erkennen und im Nachhinein daraus Regelwerke zu erstellen. Irgendwann stoßen diese Kandidaten mit Sicherheit auf hypothetisches Gold, aber ganz ehrlich: ich glaube, mit dieser Herangehensweise verliert man den Blick für die Realität.
Und damit sind wir wieder am Anfang des Artikels: wie sehr kann man einem Regelwerk wirklich trauen?
Wir, innerhalb unserer Gruppe von Händlern, gehen immer davon aus, dass sich eine erfolgreiche und stabile Phase rasch dem Ende nähert. In der Praxis arbeiten wir folglich nach folgender Herangehensweise:
(a) Ein erfolgreiches Modell handelt im Live-Betrieb, wobei die breite Palette von Risikoparametern, welche über ein entsprechendes Protokoll nach RINA-Maßstab ausgewertet wird, einer stetigen Analyse / Bewertung unterliegt. Da jedes System Gewinne und Verluste produziert, ist dessen „normale“ Schwankung innerhalb der Parameter bekannt. Kommt es hier zu Abweichungen, muss etwas geschehen.
(b) Hierfür haben wir uns angewöhnt, einem jeden Live-System, ein trocken laufendes Regelwerk zur Seite zu stellen, an dem wir zwar das gleiche Grundregelprinzip zur Anwendung bringen, aber welches Modifizierungen in den Parametern aufweist, welche wir für „anfällig“ im Live-System erachten. Kommt es jetzt zu einem Parameterabfall im Live-System, zeigt sich, ob es sich um ein völliges Versagen des Regelwerkes handelt (dann fallen die Auswertungsergebnisse in beiden Modellen, auch in dem „trocken“ nebenherlaufenden Modell). Oder es sind tatsächlich nur Einstellungsfragen (z.B. keine starren Kurs-Ziele und Stopp-Kurse, sondern von Kurshöhe und Volatilität flexibilisiert), welche ein Ergebnis stabil halten. Trifft dies zu, wird das bisherige Live-System aus dem Markt genommen, das andere Modell in den Live-Betrieb gehoben.
Im Teil 4 werden wir uns noch einmal konkreter mit Systemportfolios beschäftigen. Aber vielleicht soviel vorweg: Ich persönlich glaube ohnehin, dass die Königsklasse des Systemhandels nicht darin besteht, immer neue, bessere und beeindruckendere Handelssysteme zu entwickeln, sondern Modelle in Portfolios zusammenzufassen (siehe Teil 1) und darüber ein systematisches Regelwerk zu legen, welches nach klaren Regeln definiert, wann und welches System innerhalb des Portfolios „mehr“ oder „weniger“ Kapital zum handeln zugewiesen bekommt. Da spielen die beiden Aspekte von (a) und (b) in diesem Falle ganz konkret in diesen Ansatz mit hinein.
Fassen wir also noch einmal zusammen: Modelle und Regelwerke sind aus unserer Sicht ein wichtiges Grundmittel, um in Märkten überleben zu können und im Idealfall erfolgreich zu sein. Doch man darf niemals betriebsblind werden. Zu schnell tappt man dann mit all seinen Schlussfolgerungen und Zuversichten in die Falle. Das ist auch der Grund, weshalb wir unsere Modelle manuell handeln und nicht von der Maschine umsetzen lassen.
Taleb schreibt zu diesem Problem in seinem Werk „Narren des Zufalls“ / WILEY-VCH Verlag GmbH & Co KGaA / 2002 / Weinheim auf Seite 153 f: „Denn im Allgemeinen wenden Menschen mit Anfängerkenntnissen in den Wahrscheinlichkeitsgesetzen bei ihren Entscheidungen folgendes Prinzip an: Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass jemand konsequent gute Leistungen erbringt, ohne etwas richtig zu machen. Daher neigen sie dazu, Erfolgsbilanzen herausragende Bedeutung beizumessen. Sie berufen sich dabei auf die Regel, die die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Erfolgssträhne bestimmt, und behaupten, dass eine überdurchschnittliche Leistung in der Vergangenheit die Chance erhöht, dass der oder die Betreffende auch in Zukunft aus der Masse herausragen wird – und zwar deutlich. Aber wie üblich sollte man sich auch hier vor dem geistigen Durchschnittsmenschen hüten: ein kleines bisschen Wahrscheinlichkeitswissen kann zu schlimmeren Ergebnissen führen als völlige Ignoranz.
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