Kommentar
09:00 Uhr, 31.10.2017

Die Wahrnehmungsfalle an der Börse

Wissenschaftliche Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass wir häufig zu irrationalen Entscheidungen neigen – besonders immer dann, wenn wir diese unter Unsicherheit treffen sollen.

Da Unsicherheit an der Börse ein permanenter Zustand ist, sind viele Erkenntnisse der wissenschaftlichen Verhaltensforschung vor allem für uns Anleger hochinteressant. Denn wer den vielen kleinen Fallen unseres Gehirns ausweicht, kommt dem Börsenerfolg ein großes Stück näher.

Als wegweisend auf diesem Feld gelten die Erkenntnisse der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky, die die moderne Verhaltensökonomie entscheidend geprägt haben. Kahneman erhielt 2002 dafür den Nobelpreis, stellvertretend auch für seinen Kollegen Tversky, der bereits 1996 verstorben war.

Der Finanzautor Michael Lewis, der mit seinen Büchern zu den Hollywoodfilmen „The Big Short“ (2015) und „Moneyball“ (2011) weltweite Bekanntheit erlangte, veröffentlichte im vergangenen Jahr ein Buch über die Entstehungsgeschichte der „Prospect Theory“ von Kahneman und Tversky. (1) Die 1979 veröffentlichte „Neue Erwartungstheorie" stellte die bisherige Annahme, dass Menschen rationale Entscheidungen auf Basis aller zur Verfügung stehenden Informationen treffen, anhand von empirischen Untersuchungen radikal in Frage.

Sie hat zum Beispiel gezeigt, dass wir Risiken gegenüber Chancen überaus hoch gewichten oder dass wir uns häufig falsche Entscheidungen schönreden. Dadurch halten wir an diesen Entscheidungen oftmals zu lange fest oder erfinden „logische" Erklärungen für Ereignisse im Nachhinein, die ganz nüchtern betrachtet auch zufällig gewesen sein könnten.

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Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann lesen Sie jetzt meine 5 wichtigsten Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie, die mein eigenes Anlageverhalten verbessert haben.

1. Wir treffen Entscheidungen auf Basis von sogenannten „Heuristiken"

Die wohl größte Erkenntnis der Verhaltensforscher ist, dass wir in Situationen der Unsicherheit komplexe Entscheidungen nicht auf Basis umfassender Berechnungen unseres Gehirns treffen, sondern zu einfachen Daumenregeln greifen. Damit gelingt es uns zum Beispiel eine Frisbee zu fangen, ohne vorher Flugbahn, Schwerkraft und atmosphärische Bedingungen zu berechnen.

Der Vorteil einer intuitiven Bauchentscheidung ist, dass sie uns einfache Lösungen für komplizierte Alltagsprobleme liefert. Das kann durchaus im Leben, aber auch an der Börse von Vorteil sein.

Dazu weiterlesen: Der Hund und die Frisbee

Das Problem von Bauchentscheidungen ist jedoch, dass sie uns dazu verleiten, verschiedene Informationen unterschiedlich hoch zu gewichten. Kahneman und Tversky haben gezeigt, dass das zu systematischen Fehlentscheidungen führt. (2)

In der Wissenschaft werden folgende Erscheinungen hervorgehoben, die uns auch im Börsenalltag begegnen können:

Repräsentativitätsheuristik bedeutet, Ähnlichkeit mit Wahrscheinlichkeit zu verwechseln. Wir vernachlässigen bestimmte Faktoren, wenn ein Ereignis einer vorherigen Situation ähnelt. So unterschlagen wir manchmal offensichtliche Fakten und bauen illusorische Korrelationen auf, wenn wir ein Muster erkennen, das einer bereits erlebten Situation ähnelt.

Zum Beispiel könnten wir unsere Aktien verkaufen wollen, weil ein Börsenguru vor einem Crash warnt. Dieser Experte lag möglicherweise mit seiner Warnung beim letzten Börsenabsturz richtig und diese Erfahrung verleitet uns dazu, andere oder aktuelle Informationen zu vernachlässigen (zum Beispiel ein niedriges Zinsumfeld).

Verfügbarkeitsheuristik heißt, Häufigkeit mit Wahrscheinlichkeit zu verwechseln. Unser Gehirn merkt sich Dinge, die mehrmals passieren, besser als seltene Ereignisse. Das führt in der Praxis dazu, dass wir einem Ereignis, das uns verfügbar erscheint, höhere Ausgangswahrscheinlichkeiten einräumen. Dadurch können Entscheidungen zugunsten häufiger Situationen verzerrt werden.

Zum Beispiel könnte uns ein Investment in den Aktienmarkt attraktiv erscheinen, wenn die Börse über mehrere Jahre gestiegen ist.

Anker-Anpassungs-Heuristik bedeutet, dass die Ausgangssituation unsere Entscheidung beeinflussen kann. Unterschiedliche Ausgangssituationen führen zu unterschiedlichen Urteilen.

So schätzten in einer sekundenschnellen Antwort Probanden, dass das Ergebnis von 1x2x3x4x5 niedriger sei, als von 5x4x3x2x1. Diesen Effekt können wir auch an der Börse beobachten. Anleger bewerten den DAX bei 13.000 Punkten attraktiver als bei 8.000 Punkten und sind eher bereit, bei hohen Kursen zu investieren, als bei niedrigen. Die rationale Entscheidung wäre jedoch, bei niedrigen Kursen zu kaufen.

Gambler's Fallacy: Unser Gehirn konstruiert in Situationen der Unsicherheit Regelmäßigkeiten und zufällige Ereignisse werden in einen vermeintlich „logischen" Zusammenhang gebracht, um ein Gefühl der Sicherheit zu erreichen. Dieses Phänomen habe ich bereits in anderen Artikeln diskutiert. (3)

Für mich ist dieser ständige Versuch unseres Verstandes, Zusammenhänge zu konstruieren und Muster zu suchen, die größte Herausforderung für uns Börsianer.

Es gibt noch andere wichtige Heuristiken wie die Vermeidung kognitiver Dissonanz, wonach wir Informationen ignorieren, die einen einmal entwickelten Glauben infrage stellen.

2. Unterschiedliche Gewichtung von Gewinnen und Verlusten

Eine der wohl größten Erkenntnisse der Prospect Theory ist, dass unser Gehirn Verluste höher bewertet als Gewinne. Die Verluste schmerzen einfach mehr, als uns Gewinne Freude bereiten.

Das führt im Börsenalltag zu irrationalen Wahrnehmungen. Vor allem Laien auf einem Fachgebiet versuchen, ein „Null-Risiko“ zu erreichen, wie Kahneman und Tversky in einer Untersuchung in den 1980er Jahren zeigten. (4)

Im Trading kann das bedeuten, dass Anleger alles tun, um einen Verlust zu vermeiden, letztlich auch hohe Risiken eingehen, die in keinem Verhältnis zu einem potenziellen Gewinn mehr stehen, nur um einen realisierten Verlust zu vermeiden. Das erklärt, warum wir manchmal an Investments oder Tradingideen festhalten, die sich schon lange von ihrem ursprünglichen Ausgangsszenario wegentwickelt haben.

3. Framing: Die Umstände beeinflussen unsere Entscheidungen

Der sogenannte „Framing-Effekt" bedeutet, dass Menschen ihr Urteil vom jeweiligen Entscheidungsrahmen abhängig machen. Das können Handlungsalternativen, unterschiedliche Voraussetzungen und erwartete, mögliche Ergebnisse sein, die Einfluss auf unsere Entscheidungen haben.

Im Börsenhandel könnte das bedeuten, dass wir manchmal für eine Position positiv gestimmt sind, nur weil wir diese in den Verlust haben laufen lassen. Unter anderen Umständen, zum Beispiel, wenn wir keine Position in diesem Wert hätten, würden wir zu einer ganz anderen Einschätzung kommen.

Eine weitere Erkenntnis ist, dass Anleger unterschiedliche Erwartungen an den Ausgang eines Investments entwickeln, je nachdem, wie sicher ihnen das Ergebnis erscheint.

Das führt jedoch zu gravierenden Verletzungen rationalen Denkens.

Nassim Taleb beschreibt in seinem Buch „Narren des Zufalls“ ein Meeting unter Tradern, welches diesen Effekt in der Praxis schildert.

„Einmal wurde ich bei einer dieser Veranstaltungen gebeten, meine Ansichten zum Aktienmarkt zu erläutern. Ich erklärte etwas hochtrabend, dass ich glaubte, die Aktienkurse würden in der kommenden Woche mit hoher Wahrscheinlichkeit steigen. Wie hoch sei diese Wahrscheinlichkeit, fragte man mich. „Etwa 70 Prozent.“ Das war eindeutig eine sehr starke Meinung.

An dieser Stelle warf jemand ein: „Aber Nassim, du hast doch eben erst damit geprahlt, dass du Short-Positionen für eine große Anzahl von S&P 500 Terminkontrakten eingegangen bist und hast somit auf fallende Kurse gesetzt. Wieso hast du deine Meinung geändert?“

- „Ich habe meine Meinung nicht geändert! Ich bin sehr überzeugt von meinen Wetten! (Gelächter im Publikum) Tatsächlich würde ich jetzt noch mehr verkaufen als vorher!“

Jetzt schienen meine Kollegen völlig verwirrt zu sein. „Bist du ein Bulle oder ein Bär?“, fragte mich der Stratege.

Ich antwortete, dass ich die Begriffe „Bulle“ und „Bär“ abgesehen von ihren zoologischen Definitionen nicht verstünde. Wie bei Ereignis A und Ereignis B im vorherigen Beispiel war ich der Meinung, dass steigende Aktienkurse wahrscheinlicher waren (das machte mich zu einem „Bullen“), es aber besser wäre, auf fallende Kurse zu setzen (die Strategie eines „Bären“), weil die Kurse im Falle eines Rückgangs stark einbrechen könnten.“ (5)

4. Overconfidence

Kahneman und Tversky hatten herausgefunden, dass Menschen dazu neigen, ein übertriebenes Vertrauen in ihr eigenes Urteil zu setzen.

Das führt bisweilen dazu, dass Laien an der Börse zu Experten werden, obwohl sie nur einen kleinen Ausschnitt aller verfügbaren Informationen haben. Dieser Irrtum wurde später auch als der „Dunning-Kruger-Effekt" bestätigt.

Ich erlebe das häufig bei Freunden, die mir auf Partys voller Enthusiasmus von ihren aktuellen Investments erzählen. Erfolgreiche Investoren hingegen sind sehr kritisch, was ihre persönliche Meinung anbelangt.

Der Hedgefondsmanager Paul Tudor Jones sagt: Every day I assume every position I have is wrong." (6)

Oder Charlie Munger: „Real knowledge is knowing that you don't know anything.“ (7)

5. Kleine Risiken werden überschätzt, große Risiken unterschätzt.

„Was soll schon passieren?“

Wir alle haben diesen Gedanken schon gedacht und sind vielleicht eine zu riskante Position eingegangen oder haben einen Trade vor wichtigen Wirtschaftsdaten oder politischen Ereignissen nicht geschlossen. Meist bis zum bösen Erwachen. (8)

Was die Verhaltenswissenschaftler herausgefunden haben, bestätigt letztlich unsere Erfahrungen, dass sich manchmal aus einem kleinen Verlust eine Katastrophe entwickeln kann. Andererseits sind wir manchmal am Boden zerstört, wenn ein Trade in einen Stop-Loss läuft und glauben, ein kleiner Verlust wäre das Ende unserer Börsenlaufbahn. Verrückt, oder?

Wer einige der hier genannten mentalen Fallen durchschaut, versteht, warum es uns oftmals so schwerfällt, einfachste Börsenregeln zu befolgen. Mir haben die Erkenntnisse von Kahneman und Tversky ungemein geholfen, da ich anfing, mich selbst besser zu verstehen und daraufhin schlechte Entscheidungen häufiger vermeiden konnte.

Ich versuche seither, so viele zur Verfügung stehende Informationen wie möglich zu sammeln bevor ich ein Investment eingehe. Ich versuche, möglichst lange über eine Idee nachzudenken und nicht oberflächlichen Impulsen nachzugeben.

Die Kunst erfolgreicher Börsengeschäfte besteht wohl darin, seiner Erfahrung und persönlichen Einschätzung zu vertrauen und dabei nicht der trügerischen Wahrnehmung selbstgemachter Beobachtungen aufzusitzen.

Kostolany hat dazu einmal den schönen Satz gesagt:

„Man soll die Ereignisse nicht mit den Augen verfolgen, sondern mit dem Kopf. Oft ist es sogar an der Börse besser, die Augen zu schließen.“

Viele Grüße
Jakob Penndorf

--

(1) Aus der Welt. Grenzen der Entscheidung oder eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2016.
(2) Tversky, A. & Kahneman, D. (1974). Judgement under Uncertainty. Heuristics and Biases, Science, 185, S. 1124-1131.
(3) Das gefährliche Spiel mit der Vergangenheit, Jakob Penndorf, Guidants, 29.04.2017.
(4) Tversky, A. & Kahneman, D. (1987). Rational choice and the framing of decisions. In: R.M. Hogarth & M.W. Reder (Eds.), Rational choice: The contrast between economics and psychology. Chicago: The University of Chicago Press, S. 67-94.
(5) Narren des Zufalls. Die unterschätzte Rolle des Zufalls in unserem Leben, Nassim Nicholas Taleb, Kapitel 6: Schiefe und Asymmetrie, S. 151f.
(6) 25 populäre Börsensprüche und Börsenzitate. Abgerufen am 13.02.2017.
(7) "Wahres Wissen ist zu wissen, dass man gar nichts weiß".
(8) Das nicht abgeschlossene Fahrrad, Jakob Penndorf, Guidants, 16.05.2017.

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