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10:00 Uhr, 25.07.2008

An der türkischen Börse diktiert wieder die Politik das Geschehen

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In den vergangenen Jahren hat die Türkei bei Börsianern vor allem durch die erzielten wirtschaftlichen Erfolge von sich reden gemacht und unter dem Strich auch gepunktet. Doch in diesem Jahr hat sich das geändert. Plötzlich ist wieder die Politik das Hauptthema bei den Gesprächen der Anleger. Das hat mit dem gegen die Regierungspartei AKP eingeleiteten Verbotsantrag der Staatsanwaltschaft zu tun. Der Vorwurf lautet, die AKP bedrohe mit ihren Entscheidungen das säkulare System in der Türkei. Und nachdem das türkische Verfassungsgericht jüngst ein Gesetz rückgängig gemacht hat, das Frauen das Tragen von Kopftüchern an Universitäten erlaubt hat, räumen Beobachter einem Verbot eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit ein. So rechnen die Analysten beim Broker Raymond James Securities seitdem zu 80 Prozent mit einem Urteil zuungunsten der AKP.

Die damit verbundene Unsicherheit lastet wie Blei auf dem Aktienmarkt. Zumal mit einem offenbar von einer Gruppe, die jetzt angeklagt worden ist, geplanten Staatsstreich ein weiterer wichtiger Belastungsfaktor hinzukommt. Aber wenigstens scheint die Wirtschaft noch relativ unbeeindruckt von den Vorgängen zu sein. So hat sich das Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal wieder auf 6,6 Prozent beschleunigt, nachdem es im vierten Quartal 2007 auf 3,4 Prozent gesunken war. Nach den taufrischen Quartalszahlen müssen Volkswirte wie die bei AK Securities vermutlich ihre Prognosen für das Gesamtjahr anheben. Zuletzt sagten sie nur noch eine Zuwachsrate von vier Prozent voraus. Aber selbst wenn diese Schätzungen angehoben wird, dürfte sie deutlich unter der von 2001 bis 2007 zu beobachtenden durchschnittlichen Zuwachsrate von rund sieben Prozent bleiben.

An der Börse tragen die politischen Scharmützel aber allemal zu einer schlechten Stimmung bei. Insgesamt haben die Probleme dem aktuell bei 36.235 Punkten notierenden ISE National 100 Index schon fast 38 Prozent gekostet gemessen an dem am 15. Oktober markierten Rekordhoch von 58.232 Punkten. Und das eigentlich Schlimme daran: Durch die Verluste hat der Index nicht nur seinen langjährigen Aufwärtstrend verletzt, sondern die eingetrübte Charttechnik spricht eher für noch weiter fallende Kurse.
Volkswirtschaftliches Umfeld hat sich eingetrübt

Noch tiefere Notierungen würden auch zu den anderen volkswirtschaftlichen Problemen passen, mit denen sich die Türkei derzeit herumplagen muss. Kopfzerbrechen bereitet den Verantwortlichen vor allem die steigende Inflation. Mit 10,74 Prozent ist die Teuerung im Mai erstmals seit vier Jahren wieder über die Marke von zehn Prozent gestiegen. Der jahrelang die Börse stützende disinflationäre Trend ist somit nicht mehr existent. Die Notenbank hat deswegen unlängst erneut die Leitzinsen um weitere 50 Basispunkte auf 16,25 Prozent erhöht. Und Sengül Dagdeviren, Chefvolkswirt bei der Oyak Bank, rechnet bis September mit weiteren Anhebungen bis auf 17,25 Prozent.

Außerdem hat die Zentralbank auf das Problem mit einem nach oben angepassten Inflationsziel reagiert. 2009 wird nun im Schnitt mit einer Inflationsrate von 7,5 Prozent statt wie bisher mit 6,7 Prozent gerechnet und für 2010 mit 6,5 Prozent statt mit 4,9 Prozent. Wenn man aber weiß, wie sehr das Land unter den hohen und teuren Ölimporten leidet und dass ab Juli die Strompreise deutlich steigen, dürften selbst diese Ziele nur bei einem nicht weiter steigenden Ölpreis erreichbar sein.

Ein weiteres belastendes Problem ist das Leistungsbilanzdefizit. Dieses ist im April im Jahresvergleich um 50 Prozent auf 4,9 Mrd. Dollar gestiegen. Für das Gesamtjahr veranschlagen die Volkswirte bei AK Securities das Defizit gemessen am Bruttoinlandsprodukt auf 7,2 Prozent nach 5,7 Prozent im Vorjahr. 2009 sollen es dann sogar 7,7 Prozent werden. Wegen diesem wunden Punkt hat die Ratingagentur Standard & Poor´s unlängst auch ihre Entscheidung begründet, den Ausblick für die Kreditwürdigkeit des Landes von stabil auf negativ zu senken. Die darin zum Ausdruck kommenden Bedenken sind durchaus nachvollziehbar. Ist die Finanzierung des Defizits angesichts der in den ersten vier Monaten von 8,85 Mrd. Dollar auf 4,37 Mrd. Dollar halbierten ausländischen Direktinvestitionen doch weitaus schwieriger geworden.

Tiefe Bewertungen locken die Anleger noch nicht aus der Reserve

Allerdings muss gleichzeitig auch konstatiert werden, dass die aufgezeigten Schwierigkeiten bereits deutliche Kurskorrekturen bewirkt haben. Die Bewertungen sind dadurch optisch inzwischen schon sehr günstig geworden. Mit einem geschätzten Markt-KGV von unter acht bezeichnen die Schwellenländer-Experten von der Fondsgesellschaft Charlemagne Capital die türkische Börse als die Günstigste in ihrem Anlageuniversum. Sie sehen deshalb deutliches Aufwärtspotenzial für die Kurse, sobald sich die politischen Probleme erst einmal verflüchtigt haben.

Die Analysten bei AK Securities weisen zudem darauf hin, dass Banken im Schnitt nur auf ein tiefes Kurs-Buchwert-Verhältnis von 1,3 kommen und die Holdinggesellschaften mit einem Abschlag von mehr als 30 Prozent gegenüber ihren Nettoinventarwerten gehandelt werden. Weil das Urteil über die Zukunft der AKP frühestens im August gefällt wird, der ISE-Index sich eindeutig in einem intakten Abwärtstrend bewegt und die Risikoaversion der Anleger vermutlich nicht von heute auf morgen wieder zunimmt, dürfte es zunächst aber trotzdem schwierig werden mit einer schnellen Trendwende nach oben an der Istanbuler Börse.

Quelle: Ostbörsen-Report

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Über den Experten

Jochen Stanzl
Jochen Stanzl
Chefmarktanalyst CMC Markets

Jochen Stanzl begann seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche als Mitbegründer der BörseGo AG (jetzt stock3 AG), wo er 18 Jahre lang mit den Marken GodmodeTrader sowie Guidants arbeitete und Marktkommentare und Finanzanalysen erstellte.

Er kam im Jahr 2015 nach Frankfurt zu CMC Markets Deutschland, um seine langjährige Erfahrung einzubringen, mit deren Hilfe er die Finanzmärkte analysiert und aufschlussreiche Stellungnahmen für Medien wie auch für Kunden verfasst. Er ist zu Gast bei TV-Sendern wie Welt, Tagesschau oder n-tv, wird zitiert von Reuters, Handelsblatt oder DPA und sendet seine Einschätzungen über Livestreams auf CMC TV.

Jochen Stanzl verfolgt einen kombinierten Ansatz, der technische und fundamentale Analysen einbezieht. Dabei steht das 123-Muster, Kerzencharts und das Preisverhalten an wichtigen, neuralgischen Punkten im Vordergrund. Jochen Stanzl ist Certified Financial Technician” (CFTe) beim Internationalen Verband der technischen Analysten IFTA.

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