Kommentar
11:36 Uhr, 16.11.2017

Wenn 100 Jahre zur Analyse nicht reichen

Anleger versuchen mit Charts, die ein paar Monate oder Jahre zeigen, die Zukunft abzuleiten. Für manche Dinge reicht das nicht. Da reicht nicht einmal ein Jahrhundert.

Wer sich der Charttechnik bedient, lernt relativ früh, dass verschiedene Zeitfenster ganz unterschiedliche Trends zeigen können. Im Stundenchart zeigt sich vielleicht ein Abwärtstrend, im Tageschart ein Aufwärtstrend und im Monatschart eine Seitwärtsbewegung. Um diese unterschiedlichen Trends erkennen zu können, reicht es nicht, wenn man die Preisbewegung der letzten 24 Stunden analysiert. Man muss schon herauszoomen.

Aktien sind recht schnelllebig. Ein paar Monate Historie können bereits eine große Aussagekraft haben. Bei anderen Anlageklassen ist es nicht so leicht. Dazu gehören insbesondere Zinsen. Wir sehen zwar alle, dass die Zinsen derzeit niedrig sind, doch was bedeutet das eigentlich im größeren Kontext?

Um das zu verstehen, muss man herauszoomen. Paul Schmelzing (Harvard Universität) hat das bei seinem Gastaufenthalt bei der Bank of England getan (kann man hier nachlesen: gmtr.ly/NkhblNWyN ). Dabei wurden 700 Jahre Zinsentwicklung untersucht. Im Zentrum stehen dabei die Realzinsen.

Die erste wichtige Erkenntnis: Realzinsen sinken seit langem. Damit sind nicht etwa ein paar Jahrzehnte gemeint, sondern Jahrhunderte. Global sinken Realzinsen seit 500 Jahren. Dieser Trend, den man schon als Jahrtausendtrend bezeichnen muss, wird immer wieder durchbrochen. In den 70er Jahren gab es zuletzt deutlich negative Realzinsen. Anfang der 80er Jahre stiegen sie in den hohen einstelligen Bereich.

Wenn es zu einer Trendumkehr bei Realzinsen kommt, dann meist schnell und deutlich. Im Durchschnitt steigen die Realzinsen bei Trendumkehr innerhalb von zwei Jahren um mehr als 3 %. Derzeit kann davon noch keine Rede sein. Wir befinden uns in einer „Realzinsdepression.“ Davon gab es über die Jahrhunderte 9 Stück.

Realzinsdepressionen werden seit Jahrhunderten immer durch das gleiche Phänomen ausgelöst: Überinvestition. Ein gutes Beispiel ist die Eisenbahnrevolution. Es wurde von 1830 bis 1860 wie wild investiert. Die Produktivität stieg. Durch die Investitionen und die Produktivitätsgewinne stieg die Nachfrage nach Produkten. Die Preise explodierten förmlich. Als der Boom zu Ende ging, stand die Welt mit Überkapazitäten da.

Es läuft letztlich immer auf dasselbe hinaus: durch neue Technologie entsteht Goldgräberstimmung. Es wird investiert, die Nachfrage steigt. Zinsen steigen ebenfalls, doch die Inflation steigt schneller. Realzinsen sinken. Hört der Boom erst einmal auf, lasten die Überkapazitäten auf den Preisen. Deflationäre Tendenzen kommen auf. Da die Nominalzinsen nicht unter 0 % sinken können, steigen die Realzinsen an.

Diesen Realzinsanstieg sehen wir momentan nicht, obwohl es der Systematik nach dazu kommen müsste. Ein Grund für den fehlenden Anstieg ist sicherlich die Geldpolitik, die mit der Brechstange Deflation verhindern will. Das ändert allerdings wenig am zugrundeliegenden Trend.

Dieser Trend ist in Grafik 1 zusammen mit den Nominalzinsen und Produzentenpreisen dargestellt. Lange Technologiezyklen führen seit Jahrhunderten immer zum gleichen Ergebnis. Aktuell befinden wir uns irgendwo in der Nähe des tiefsten Punktes des Zyklus. Die Nominalzinsen dürften in den kommenden Jahren steigen. Ob die Realzinsen mitziehen, ist schwer zu sagen. Wenn wir das Tal bereits hinter uns haben, sollten die Realzinsen weiter fallen. Liegt der Talboden noch vor uns, sollten die Realzinsen steigen.

Steigende Realzinsen kann niemand gebrauchen, doch sie lassen sich aus zyklischen Gesichtspunkten nicht vermeiden. Zyklische Tiefs enden durch Schocks, sei es ein Krieg oder politischer Umbruch. Man stelle sich nur vor, die Eurozone würde zerbrechen. Dass die Zinsen dann in einigen Ländern nicht durch die Decke gehen, ist kaum vorstellbar.

Betrachtet man nicht die Zinsen und Preise, sondern die Aktienmarktperformance (Grafik 2), kann man stark davon ausgehen, dass wir uns schon wieder im Aufschwung befinden. Der Realzinsanstieg blieb aus. Er wurde durch Politik und Notenbank verhindert. In diesem Fall stehen Anlegern weiterhin rosige Zeiten bevor.

Das erkennt man nur, wenn man die große und sehr langfristige Perspektive hat. Ein paar Jahre Historie reichen da nicht. Das Problem an der Sache mit den langen Zyklen ist allerdings, dass sie absolut kein Timing Instrument sind. Sie sind alles andere als präzise. Man kann sich schon um ein paar Jahre vertun.

Clemens Schmale

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Über den Experten

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Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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