Erfahrung ist unser wichtigstes Gut an der Börse – sammeln wir diese
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Diese Worte stammen vom chinesischen Philosophen Konfuzius (er lebte vermutlich 551 v.Chr. bis 479 v. Chr.) und werfen ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Erfahrung in unserem allgemeinen Lernprozess. Meisterschaft in einer Tätigkeit, in einer Berufung oder in einer Kunst erlangen wir nur aus der Kombination ständiger korrigierter Wiederholungen, in Kombination mit einem stetigen Abgleich der sich so aufbauenden Erfahrung.
Sehr erfolgreiche Börsenhändler, zumindest jene, die mir persönlich bekannt sind, verfügen über ein gewaltiges Erfahrungsfundament in ihrer Tätigkeit. Erfahrungen, welche es ihnen heute ermöglichen, manche Klippen im schnellen Börsengeschäft zu umschiffen, ohne den Grund dafür exakt benennen zu können. Erfahrungen sind zweifellos ein unglaublicher Schatz, den wir Menschen mit uns herumtragen und welche es uns ermöglichen, auch Höchstleistungen in den Bereichen zu erzielen, in denen wir uns über Jahre und Jahrzehnte bewegen. Ohne das Abspeichern von Erfahrungen, wären wir kaum überlebensfähig. Doch wie erlangen wir unsere Erfahrungen? Gibt es immer nur den einen, nämlich primären Weg, den Griff auf die heiße Herdplatte, bevor sich wertvolles Wissen und dessen intuitives Abrufen miteinander verlinken kann? Konkret auf die Börse bezogen: müssen wir tatsächlich erst Jahrzehnte durch alle Täler marschieren, bevor wir selbst zu einem erfolgreichen Spurenleser werden?
Als Erfahrung bezeichnet man im Allgemeinen ein bestimmtes Erlebnis eines Menschen, in der Form eines von ihm selbst erlebten und damit selbst wahrgenommenen Ereignisses. Die Psychologie bezeichnet diese Art von Erfahrung als „Empirie“. Am Allgemeinen wird als „Erfahrung“ auch die Gesamtheit aller Erlebnisse bezeichnet, welche ein Mensch jemals gehabt hat. Diese Lebenserfahrung umfasst dabei auch die mehr oder weniger realitätsadäquate Verarbeitung des Erlebten, was mitunter zu Abweichungen oder Verzerrungen der vergangenen Realität führt[1]. Doch was ist Erfahrung am Ende tatsächlich, losgelöst von allen wissenschaftlichen Umschreibungen? Es sind Geschichten, an die wir uns erinnern. Diese Geschichten sind mit allen möglichen mentalen Stimulanzien verbunden und basieren ausnahmslos auf dem von uns immer wieder angewandten Ursache / Wirkungsdenken. Eine besondere Situation, ein Geruch, ein bestimmtes Geräusch, aber auch ein Muster, ein Bild, ein Handlungsablauf (sei es unser eigener oder der eines anderen Menschen) löst in uns eine kaskadenartige Erinnerungswelle aus. Es ist die Erfahrung, welche uns über eine blitzschnelle Aneinanderreihung von Analogien ermöglicht, nicht nur die Ursache zu erkennen, sondern die Wirkung bzw. den Ausgang dieses Ereignisses zu erahnen. Erleben wir einen Prozess dagegen ganz neu, gibt es somit keine bisherigen Ablaufbeispiele, an denen wir uns orientieren können, werden Reaktionsprozesse unterbrochen und wir schalten mitunter in jene Reflexe um, welche dem Flucht- bzw. Verteidigungsreflex ähneln. Dieser Vorgang ist nur natürlich, denn in unserer evolutionären Geschichte war es immer ratsam, unbekannte Ereignisse, zu denen uns Analogien fehlten, von vornherein als Bedrohung zu werten und entsprechend zu reagieren.
Die Börse selbst ist ein Bereich, der für sich bereits eine einzige Unsicherheit darstellt. Nirgendwo sonst treffen reflexive Entscheidungen in solcher Fülle und Wucht aufeinander, wie in diesem Geflecht der sozialen Interaktion. Von Natur aus, sind wir Menschen darauf „programmiert“, solche Bereiche zu meiden. Unsicherheit, Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit waren in der bisherigen Geschichte in der Regel mit Gefahren für „Leib und Seele“ verbunden. Auch wenn diese direkte Bedrohung für uns an der Börse nicht besteht, kann unser Gehirn in Ermangelung anderer evolutionär angeeigneter Schutzmechanismen nicht anders reagieren, als durch Aktivierung der bisher bewährten Reflexe, welche sich durch erhöhten Energieverbrauch, Schwitzen, Herzklopfen und anderen Symptomen ausdrücken. Erst ein gewisser Fundus an Erfahrungen, welche uns zumindest ein Mindestmaß an einem Grundgerüßt im Markt geben, dämpfen diese Urinstinkte. Es ist die Erfahrung im Handel, welche es uns erlaubt, Ursache und Wirkung wieder insoweit verknüpfen zu können, als dass wir Börse nicht mehr als bewusste oder unbewusste Bedrohung empfinden. Es sind eine Vielzahl von Erfahrungen, welche es uns erlauben, reflexives Verhalten anderer Marktteilnehmer zu erkennen und weiterführend zu erahnen. Damit erlangen wir zumindest zu einem Teil mentale Sicherheit zurück, den Prozessen am Markt nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.
Erfahrung setzt sich aus Wissen zusammen, aus dem Verständnis der Abläufe, des Ineinandergreifens einer Vielzahl von Einzelereignissen, welches sich zu einem ganzen Netz von Reiz – Reaktionen verwebt. Doch wie geschieht das? Wie ist der Ablauf und was sind die dazu notwendigen Komponenten? Hierzu wurden mittlerweile viele Erkenntnisse in der kognitiven Psychologie erzielt, welche uns helfen können, nicht nur unser Verhalten während des Handelsprozesses zu verstehen, sondern auch dazu beitragen sollen, unseren jeweils eigenen Erfahrungsschatz rascher und zielgerichteter aufzubauen. Auf diese Weise soll es gelingen, auf direkterem Wege die Leistungsfähigkeit angehender Trader zu steigern.
Ich beginne dort, wo unser Lernprozess einsetzt. Lernen ist kein linearer Prozess. Wer sich zum Lernen in ein stilles „Kämmerchen“ zurückzieht und dort versucht, sich ohne jeglicher Ablenkung eine Reihe von Vokabeln oder Fakten einzuprägen, welche später in einer Prüfung abgefragt werden, wird es ungleich schwerer haben als jemand, der zusätzliche äußere Reize zulässt. Unser Gehirn lernt förmlich räumlich, unter Einbeziehung aller Stimulanzien, welcher es habhaft werden kann. An diesen macht es praktisch die Wissensverarbeitung fest. Um es an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: wenn Sie Vokabeln erlernen, dabei Musik hören, einen Kaugummi kauen (mit einer auffälligen Geschmacksrichtung) und dabei möglicherweise noch in einem Raum sitzen mit farblich gestalteten Wänden, innerhalb derer Sie sich wohl fühlen, werden Sie den größten Erfolg der Wiedergabe des Erlernten haben, wenn Sie alle oder möglichst viele der eben genannten Reizfaktoren zum Zeitpunkt des Abrufens des Erlernten darstellen können[2].
Unsere Erfahrungen sind nichts anderes als eingeprägte Erlebnisse, welche durch dauernde Wiederholungen immer vielschichtiger werden, Analogien zu abweichenden Abläufen schaffen, immer schneller abgerufen werden und bereits Handlungs- und Lösungsabläufe erlauben und unterstützen, welche im Unterbewusstsein vollzogen und gesteuert werden. Hierzu bedient sich unser Gehirn einer für Computer bisher unmöglichen Flexibilität. Unser Denkorgan speichert nämlich deutlich mehr Informationen ab, als wir in jedem Augenblick in Verknüpfung mit einem bestimmten Ereignis bewusst wahrnehmen. Diese Wahrnehmungen können aber zu einem späteren Zeitpunkt des „Erinnerns“ auftauchen und auch zu Veränderungen im Ablauf der Erinnerung führen, was den Sinn der Verbreitung der Erfahrungspalette hat und damit unserer Struktur des Analogiedenkens gerecht wird. Konkret heißt das, unser Gehirn speichert nicht alle Fakten, Reize, damit verbundene Vorstellungen und Gefühle wie eine Computerdatei, welche jedes Mal unverändert aufgerufen werden kann, sondern es bettet alle Eindrücke in ein ganzes Netzwerk von Wahrnehmungen, Fakten und Gefühlen ein. Es ist mittlerweile bewiesen, dass bei jedem Abruf geringfügige andersartige Kombinationen der Gedächtnisinhalte im Bewusstsein auftreten. Interessant ist dabei die Erkenntnis, dass „… die gerade abgerufene Erinnerung … die vorhergehende nicht etwa (überschreibt), sondern (sich mit ihr) verbindet und überschneidet…“[3] Damit geht laut Carey nichts vollends verloren, „vielmehr wird die Gedächtnisspur auf Dauer modifiziert.“[4]
In der praktischen Konsequenz ist demnach eine Erfahrung (banal ausgedrückt) nichts anderes, als eine Fülle von verknüpften Einzelreizen jeglichen Couleurs, in einem Ursache- / Wirkungsschema abgespeichert – somit eigentlich eine Geschichte um ein erlebtes Reaktionsschema herum.
Damit sind wir am Schlüsselwort: eine Erfahrung ist eine Story aus unserem Leben, basierend auf einem real Erlebten. Aber ist das wirklich nur so?
Sucht man nach Fachliteratur, welche sich mit der zunehmenden Verklärung von Erfahrungen befasst, findet man bereits eine Fülle davon. Besonders beeindruckend sind Biographieforschungen, welche herausgefunden haben, dass es selbst in diesem Bereich keine „Wahrheit“ gibt. Wir verklären mit der Zeit unbewusst unsere eigene Vergangenheit, ein Phänomen, welches allgegenwärtig ist[5]. Darüber hinaus beeindrucken Beispiele, in denen zielgerichtet durch Dritte „Erfahrungen“ eingepflanzt werden können, die man selbst tatsächlich nie hatte, vom eigenen Gehirn aber so real und glaubwürdig verarbeitet wurden, dass man glaubt sogar Nebenereignisse noch genau wie damals wahrnehmen zu können, obwohl es diese niemals gab. Ich kenne einen persönlichen Fall, in dem sich ein Bekannter ganz sicher war, in seiner Kindheit in ein Ereignis verwickelt gewesen zu sein, welches in der Realität so nicht stattgefunden hat – zumindest nicht im Bezug auf ihn persönlich. Erst Jahrzehnte später klärte sich auf, dass er selbst diesen Vorfall in jungen Jahren nur als Geschichte erfahren hat, dieser Sachverhalt jedoch auf ihn einen dermaßen großen Eindruck gemacht haben muss, dass er sich an verblüffende Einzelheiten erinnern konnte, wie den Geruch des Essens, die Farbe des Tischtuches, die anwesenden Personen usw.. Tatsächlich hat es all das für ihn niemals gegeben, wie er später schmerzvoll erfahren hatte.
Doch was bedeutet das? Erfahrungen sind reale oder verklärte Eindrücke, sie sind plastisch formbar somit manipulierbar. Das heißt aber auch, dass wir das Sammeln von Erfahrungen auch beeinflussen können.
Nach diesem Ausflug, kommen wir jetzt auf das Börsenthema zurück. Wie setzen sich die Erfahrungen „alter“ Händler zusammen? Wer über Jahre beruflich im aktiven Trading tätig war, verwächst mit dem Markt, nimmt alle zentralen Informationen, als auch alle Randinformationen bewusst oder aber auch unbewusst auf (letzteres wahrscheinlich mehr). Auch hier lernt das Gehirn übergreifend. Das Klicken auf der Tastatur (oder Maus) und die damit in Verbindung stehenden Orderausführungen, einhergehend mit deren Auswirkungen auf den Markt und den Kursverlauf, nimmt unser Hirn bereichsübergreifend auf und stellt unzählige Verknüpfungen her. Da es nicht unendlich viele Varianten der Kursentwicklung gibt, sondern durchaus Klassifizierungen durchgeführt werden können (anderenfalls hätte der gesamte Ansatz der Technischen Analyse keine Daseinsberechtigung), lassen sich folglich Kursmuster, Wegstrecken bei Ausbrüchen in Kombination mit und ohne Nachrichten, Reaktionen nach Durchstichen etc. als „Erfahrung“ abspeichern. Hier bekommt der Begriff des Déjà-vu[6] eine ganz spezielle Bedeutung. Je länger ein Händler im Markt tätig ist, je intensiver er in das Verständnis dessen, was im Markt tatsächlich geschieht einsteigt, je bewusster er die Kursbewegungen aufnimmt und auch sachliche Erklärungen dafür liefern kann, desto mehr speichert das Gehirn ganze Abfolgen von Kursmustern mit den sich daraus möglicherweise entwickelnden Folgebewegungen als ganze Erfahrungsszenarien ab. Dabei geht es nicht nur um die „nackten Kursbilder“, sondern es verknüpft sich auch hier ein ganzes Geflecht an Reizen zu einem Erfahrungsbild und damit zu einer Geschichte mit Ursache / Wirkung.
Kommen wir zu einer der Ausgangsfragen zurück: müssen beginnende Händler tatsächlich erst Jahrzehnte durch alle Täler marschieren, bevor sie selbst zu einem erfolgreichen Spurenleser werden können? Führt kein Weg an der Erfahrungsbildung vorbei?
Ich vertrete die Ansicht, dass Erfahrungen nicht ersetzt werden können, sie sind das Fundament eines erfolgreichen Händlers schlechthin. Aber es gibt Wege, „Erfahrungen“ zielgerichteter, komprimierter, vielleicht sogar „manipulativer“ zu machen, als es der klassische Weg hergibt. Hierzu verweise ich auf die Methodik der Erfahrungsabspeicherung unseres Gehirns, nämlich die Verdichtung aller Eindrücke, einschließlich der sich daraus ergebenden Folgeergebnisse zu einer Geschichte. Wie können wir uns diese Erkenntnis in der Praxis zu Nutze machen?
Hierzu möchte ich auf eine Anregung während der Händlerausbildung bei meinem früheren Arbeitgeber zurückgreifen, welche uns ein Psychologe gab, der in das Schulungsprojekt mit eingebunden war. Im Folgenden möchte ich die Kerngedanken skizzieren.
Die Nachbereitung des Handelstages ist wichtiger als die Vorbereitung des Folgetages
Aus eigener Erfahrung kann ich zumindest für mich persönlich bestätigen, dass der Nachbereitung eines Handelstages eine weit größere Bedeutung zukommt, als die Vorbereitung des Folgetages – zumindest im Bezug auf die Bedeutung und den Nutzen für den eigenen Lerneffekt.
Die Nachbereitung des jeweiligen Handelstages umfasst dabei zwei Stoßrichtungen: (a) die Beurteilung der getätigten Trades des Tages und (b) das „Storytelling“ im Bezug auf alles Wichtige, was an dem jeweiligen Handelstag erwähnenswert ist und der „Erfahrungsbildung“ nutzt. Ich beginne zunächst mit der Nachbearbeitung der getätigten Trades.
Zu (a): Drucken Sie sich jeden Abend nach Ihrem Handel den Chart des gehandelten Wertes in dem Zeitfenster aus, in dem Sie Ihre Handelsentscheidungen getroffen haben. Im hier konkreten Bezug wäre dies demnach der FDAX (Futures auf den DAX-Index) im 1 Minuten-Chart-Zeitfenster. Achten Sie dabei darauf, dass der Chart nicht zu komprimiert erscheint, so dass die Einzelkerzen nicht mehr erkennbar sind. Lieber verteilen Sie den gehandelten Taqeskursverlauf auf mehrere Blätter, so dass die Übersichtlichkeit gewahrt bleibt. Hier markieren Sie jeden getätigten Trade mit Einstieg und Ausstieg und der Bezeichnung, um welche Art von Trade es sich jeweils handelte.
Worin besteht der Nutzwert dieses Vorgehens? Fakt ist, dass hier der Déjà-vu Effekt, wie vorher beschrieben, kaum Entfaltung finden kann. Dieses Vorgehen dient auch einem anderen Zweck. Erst wenn Sie alle Ihre Trades farblich auffällig markieren und mit Anmerkungen versehen, warum Sie da und gerade dort in den Markt eingestiegen sind und dann da oder dort wieder aus dem Markt gegangen sind, wird deutlich, inwieweit Ihr Trading-Stil effizient ist. Die Beurteilungen der Protokolle / Auflistungen beginnender Trader bringen in der Regel folgende Erkenntnisse (zumindest liegen hier die größten Schnittmengen):
- Auch wenn im Sinne klarer Regelwerke gehandelt wird, werden sehr viele mögliche Trade-Chancen einfach ausgelassen.
- Erstaunlicherweise häufen sich Trades in Marktphasen, welche zwar noch als regelkonform bezeichnet werden können, aber qualitativ deutlich hinter vielen ausgelassenen Trade-Möglichkeiten liegen.
- Besonders auffällig ist aber, dass statistisch gesehen die eingegangenen, regelkonformen Transaktionen mit Gewinnen überwiegen. Die Trefferquoten sind im Allgemeinen akzeptabel hoch, erreichen mitunter 65 bis zum Teil fast 80 Prozent, aber das Punkteverhältnis von Gewinner-Trades zu Verlust-Trades ist in der überwiegenden Regel sehr ungünstig. Das heißt, Gewinne werden sehr rasch mitgenommen, Verluste mitunter bis zum Stopp-Kurs ausgereizt. Bei einem solchen Verhältnis reicht meist ein Verlust-Trade und drei bis vier vorangegangene Gewinn-Trades werden praktisch pulverisiert.
Was lassen sich daraus für Schlussfolgerungen ziehen? Ich verweise hier wieder auf das zu Beginn dieses Abschnittes beschriebene Reiz- / Reaktionsverhalten junger Trader in einem von hohen Unsicherheiten und fehlenden Strukturen geprägtem (Markt-) Umfeld: die Akteure fühlen sich in ihrem tiefsten Inneren in „feindliches Gebiet“ versetzt, verspüren hochgradig eigene Unsicherheit und mitunter Angst. Ihr Verhalten ist jenes, welches ein um sein Leben fürchtendes Lebewesen aufweist, zumindest lassen sich bei der Messung aktivierter Bereiche im Hirn auffällige Ähnlichkeiten feststellen. Dieser enorme (evolutionsbedingte) psychologische Druck, welcher auf beginnenden Tradern lastet, erklärt auch die im Vorfeld beschriebenen Auffälligkeiten:
- Der jeweilige Händler ist nur sporadisch im Markt, hält sich über weite Strecken zurück. Er bleibt in „Deckung“.
- Wenn eine Position eröffnet wird, werden kleinste Gewinne sofort mitgenommen. Auf der einen Seite wird damit das Bedürfnis nach Belohnung für den gewinnbringenden Einstieg befriedigt. Aber fast viel wichtiger ist das befriedigende Empfinden, mit „heiler Haut“ aus dem „gefährlichen Markt“ herausgekommen zu sein.
- Läuft die Position ins Minus, tritt mitunter ein Lähmungseffekt ein, wie wir ihn auch in im „normalen Leben“ kennen, wenn wir mit außergewöhnlichen Schockerlebnissen konfrontiert werden. Auch wenn Sie jetzt protestieren und sagen, dass Sie sich nicht im Schockzustand befinden, wenn sich der potentielle Verlustzustand einstellt, so lassen die gehäuften, auf breiter Front und immer wieder auftretenden Ergebnisse in diesen Phasen keine andere Begründung zu.
- Der jeweilige Händler erschöpft rasch, zumindest rascher als bei der Bewältigung alltäglicher Tätigkeiten. Sein Hirnstoffwechsel läuft auf Hochtouren. Auch hier liegen uns die gleichen biochemischen Abläufe im neuronalen Stoffwechsel vor, wie diese in realen Gefahrensituationen auftreten.
Aus diesen vier Ergebnisüberlegungen lässt sich nur ein Fazit ziehen: dieses Verhalten ist das Resultat aus einem Mix aus Unsicherheit, Angst, momentaner Orientierungsarmut und Erschöpfung.
Wie können wir diesem hinderlichen Phänomen begegnen? Fakt ist: dieser Kreislauf muss durchbrochen werden, anderenfalls fühlt sich das Gehirn in seiner Einschätzung bestätigt, dass wir uns während des Handels in feindlichem Gebiet bewegen. Vergessen Sie dabei bitte nicht, dass unser Gehirn nicht geschaffen ist für ein Umfeld wie es die Börse ist.[7] Folglich muss es wiederum auf Analogien zugreifen, welche im evolutionär zur Verfügung stehen.
Der wohl wirkungsvollste Befreiungsschlag ist das Schaffen von Erfahrungen. Mit einem zunehmenden Erfahrungsschatz, welcher uns hilft, zumindest einige begehbare Wege innerhalb aller Unsicherheiten zu finden, werden erfahrungsgemäß die Fehler weniger, das Selbstvertrauen kehrt zurück. Hier kommt jetzt die Stoßrichtung (b) zum Tragen.
Zu (b): Hier schaffen wir unsere eigenen Erfahrungen und beschleunigen und festigen diesen Prozess durch zielgerichtetes Storytelling. Greifen Sie dabei wieder auf Ihre bereits ausgedruckten Charts zurück. Diesmal füllen Sie diese mit der Ausformulierung dessen aus, was Sie fühlen bzw. was für Nachrichten, Meldungen oder Gerüchte zu entsprechenden Entwicklungen geführt haben oder haben könnten. Das bezieht sich auf alle interessanten Bewegungen innerhalb des Kursverlaufes, losgelöst von der Tatsache, ob dort gehandelt wurde oder nicht.
Wie oft höre ich bei kräftigen, Nachrichten-getriebenen Ausbrüchen: „da konnte ich nicht mehr nachspringen, der Futures war schon 20 Punkte gestiegen!“ Tatsächlich legte der Futures noch weitere 30 Punkte kräftig und reaktionsarm oder reaktionsfrei zu, doch keiner folgte der Chance des Tages. Warum? Weil jeglicher Erfahrungswert fehlte, wie weit in der Regel oder im Durchschnitt solch ein Impuls mit dieser Ausgangslage tragen könnte. Um dies dem eigenen Ereignishorizont hinzuzufügen gibt es zwei Möglichkeiten: (1) man sammelt auf herkömmlichen Wege 20 Jahr Erfahrungen oder (2) man greift aktiv ein schafft Erfahrungen in Form des Vokabellernens.
Drucken Sie sich jeden Tag Ihre Charts aus, schreiben Sie sich alles von Belang dort hinein und blättern Sie Ihre gesammelten Schätze in Ihren freien Minuten immer wieder durch. Sortieren Sie Ihre Ausdrucke nicht zwingend nach Datum, sondern nach Ähnlichkeiten in den Kursverlaufsmustern und prägen Sie sich diese Muster ein. Eine noch komprimierendere Form des Lernens gibt es nicht. Durch die Sammlung an ausgedruckten Schätzen halten Sie bereits nach überschaubar kurzer Zeit gewaltige Informationsmengen an Ereignisabfolgen in der Hand, welche nur noch in Ihrem Gehirn abrufbereit abgelegt werden müssen.
Warum tritt dieser Verunsicherungsfaktor so spät auf?
Ich habe in einem vorhergehenden Abschnitt bereits erläutert, warum es sinnvoll ist, das Traden in drei Phasen zu erlernen und wie das Wechselspiel zwischen den kognitiven Systemen 1 und 2 wirkt. Jetzt ergänzen wir diesen Faktor noch durch einen wichtigen zusätzlichen Aspekt: der steigenden Erkenntnis der Komplexität.
Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie Sie als Kind manche Thematik leichtfertig und entspannt angehen konnten. Je mehr Informationen Sie mit der Zeit jedoch bekamen und Ihnen besonders im Hinblick auf manche Dinge plötzlich Risiken bewusst wurden, schwand Ihre Leichtfertigkeit und Sie wurden zögerlich. Erst mit reiferem Alter und einem klareren Überblick, sowie einer maßvollen Einordnung und Gegenüberstellung der wirklichen und eingebildeten Gefahren, kehrte Ihr vormaliger entspannter Umgang wieder zurück.
Im Traden ist es nicht anders. Der junge, beginnende Händler klammert sich an das Regelwerk gemäß seinem Ausbildungsstandes in Phase 1. Alles scheint klar, überschaubar und handelbar. Doch mit fortschreitender Entwicklung steigt die Erkenntnis der Komplexität und die Anerkennung, dass alles um uns herum im Markt größer, weitläufiger, vielschichtiger ist, als in der Anfangsphase vermutet. Plötzlich stellen wir fest, dass unsere geglaubte Übersichtlichkeit nur einen Bruchteil der möglichen Gefahren überschaut und wir nicht in einem Zoo stehen, mit hinter Gittern gehaltenen Risiken, sondern uns schutzlos im Dschungel bewegen. Und dann ist es vorbei mit der ursprünglichen Leichtigkeit der Anfangstage.
Diese Entwicklung ist normal, sie ergreift jeden Händler. Da müssen wir alle durch. Aber wir kennen die Werkzeuge dafür. Schlagen wir uns unseren eigenen Pfad mit den Instrumenten, die uns unser Intellekt zur Verfügung stellt.
[1] Siehe dazu auch Wikipedia „Erfahrung“
[2] Die daraus resultierende Schlussfolgerung ist, dass es als zielführender angesehen werden kann, wenn die Aneignung von Lernstoff zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und unter dem Eindruck unterschiedlichster Reizfaktoren erfolgen sollte, um zu einseitige Verknüpfungen im Lernprozess zum Lernstoff zu verhindern und die üblicherweise breiten Verknüpfungen im Gehirn resistenter von einseitigen Rahmenbedingungen zu machen. Siehe dazu Ausführungen im Buch „Neues Lernen“ von Benedict Carey, Rowohlt Verlag 2015.
[3] Siehe „Neues Lernen“, Benedict Carey, Rowohlt Verlag 2015, Seite 46
[4] ebenda
[5] Hierzu verweise ich zum Beispiel auf die zusammengefassten Einzelaufsätze in dem Buch „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben“. Herausgeber ist Klaus-Jürgen Bruder, erschienen 2003 im Psychosozial-Verlag
[6] Als Déjà-vu, was im französischen so viel bedeutet wie „schon geschehen“, bezeichnet man ein psychologisches Phänomen, welches sich in dem Gefühl äußert, eine neue Situation so oder zumindest ähnlich schon einmal erlebt, gesehen, aber nicht geträumt zu haben. Siehe dazu Wikipedia unter „Déjà-vu“
[7] Sehr interessante Einschätzungen, Aussagen und Auswertungen zu diesem Thema, mit einem vergleichbaren Fazit finden Sie im Buch „Neurofinance“ von Christian E. Elger und Friedhelm Schwarz, erschienen im Haufe Verlag im Jahre 2009.
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Ja, ich finde mich hier und da eindeutig wieder. Schön auf den Punkt gebracht.
Sie haben die Gier vergessen. Die Zahlen aus USA koennten schlechter kaum sein. Egal. Weiter gehts nach oben. Rein Gier getrieben. Mit Basics hat das nichts zu tun. Die braking news sagt alles.
Endlich wieder ein ausführlicher, nachdenklicher Essay von Uwe Wagner, Danke!