„Die Krise schafft auch Opportunitäten“
- Lesezeichen für Artikel anlegen
- Artikel Url in die Zwischenablage kopieren
- Artikel per Mail weiterleiten
- Artikel auf X teilen
- Artikel auf WhatsApp teilen
- Ausdrucken oder als PDF speichern
Wie erklärt sich die derzeitige Diskrepanz zwischen Aktienmarkt und Realwirtschaft?
Werner Krämer: Einerseits befinden wir uns in der tiefsten Rezession seit dem zweiten Weltkrieg, vermutlich sogar seit den 30er Jahren. Für die Eurozone gehen wir von einem Schrumpfen des Bruttosozialprodukts um 10 Prozent aus. Andererseits wird der Markt schon seit Mitte März durch gigantische geld- und fiskalpolitische Maßnahmen angetrieben. Entsprechend hat der Markt bereits eingepreist, wie es nach der Rezession weitergeht, bevor die Rezession überhaupt angefangen hat.
Sind die aktuellen Aktienpreise gerechtfertigt?
Beatrix Ewert: Die Aktienmärkte sind derzeit nicht günstig, das waren sie auch vor der Corona-Krise schon nicht. Mit Einsetzen der Krise erlebten wir eine optische Verbilligung. Der Markt sah zwar günstig aus, war es aber nicht. Zunächst wussten die Analysten nicht, wie sie diese noch nie dagewesene Krise, diesen Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität in ihre Gewinnschätzungen ummünzen sollten. In der Zwischenzeit ist dies geschehen. Jetzt ist der Markt, gemessen an diesen Schätzungen, noch teurer. In den USA sind wir aktuell bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von über 25, in Europa bei 19.
Wir werden auch in Zukunft mit höheren Bewertungen im Aktienmarkt leben müssen. Diese Entwicklung wird durch das Gelddrucken der Zentralbanken und durch die gigantischen Fiskal-Programme unterstützt.
Deswegen führt angesichts des aktuellen Zinsniveaus und fehlenden Alternativen kein Weg an Aktien vorbei. Entsprechend müssen wir mit Risiken leben, die natürlich im Aktienmarkt vorhanden sind. Wir preisen Erwartungen ein. Werden diese nicht erfüllt, sollten wir beispielsweise eine zweite Welle an Corona-Infektionen sehen, die zu weiteren Lockdowns führt, oder sollten wir längerfristige wirtschaftliche Probleme haben, die durch die fiskalpolitischen Programme nicht zu lösen sind, dann wird es auch wieder Korrekturen nach unten geben. Das heißt: Wir müssen als Anleger in Aktien Volatilität bis zu einem gewissen Grad aushalten können.
Welche Strategie sollten Investoren in diesem Umfeld verfolgen?
Ewert: Eine Top-Down-Betrachtungsweise, bei der man beispielsweise nur auf Growth- oder Value-Titel setzt oder besondere Themen spielt, ist aus unserer Sicht grundsätzlich schwierig. Ein solcher Ansatz kann dazu führen, dass Aktien zu teuer gekauft werden und damit ein zu hohes Risiko eingegangen wird.
Wir verfolgen stattdessen einen Bottom-up-Ansatz. Wir wollen genau wissen, in welche Unternehmen wir investieren. Deshalb nehmen wir eine fundamentale Bewertung der Unternehmen vor, beobachten, wie sich der Marktpreis verhält, und entscheiden, ob die Bewertung eines Unternehmens gemessen an seinem Ertragspotenzial gerechtfertigt ist. Ist zu viel Qualität bereits eingepreist, ist das für uns keine Chance mehr. Dann suchen wir nach Alternativen mit besseren Chancen.
Das ist das Positive an einer Krise: Sie schafft auch Opportunitäten. In Märkten, die nicht mehr unterscheiden zwischen erfolgreichen Unternehmen und solchen, die in ihrer Existenz bedroht sind, in denen sich alle Titel nur in eine Richtung bewegen, zahlt es sich aus, genau hinzusehen und eine fundamentale Selektion zu betreiben, die sich nicht auf bestimmte Investmentstile festlegen lässt. Am besten orientiert man sich zudem global. Denn je größer das Anlageuniversum, desto mehr Opportunitäten kann ich nutzen und desto besser kann ich ein Portfolio konstruieren, das ein positives Risiko-Chancen-Profil aufweist, mit dem ich als Anleger mittel- bis langfristig gut fahren kann.
Sind aus Ihrer Sicht bestimmte Länder oder Regionen für die nächsten zwölf Monate interessanter als andere?
Ewert: Unter Risiko-Gesichtspunkten und der Frage, welcher Markt was bereits eingepreist hat, finden wir für die nächsten zwölf Monate Europa im Vergleich zu den USA sehr attraktiv. In den USA stehen dieses Jahr Wahlen an. Falls Donald Trump verliert, kann das unter anderem geopolitisch Entspannung bringen, aber gleichzeitig zu Steuererhöhungen führen, was dem Aktienmarkt nicht schmecken wird. Zudem besteht in den USA diese sehr starke Abhängigkeit von einigen wenigen Technologie-Aktien. Europa hingegen ist etwas aus dem Blick der Investoren gerückt und europäische Aktien sind entsprechend viel günstiger bewertet.
Keine Kommentare
Die Kommentarfunktion auf stock3 ist Nutzerinnen und Nutzern mit einem unserer Abonnements vorbehalten.