Fundamentale Nachricht
12:06 Uhr, 23.04.2020

COVID-19: Ist es diesmal anders?

Die COVID-19-Pandemie scheint anders zu sein als alles, was die Finanzmärkte bisher erlebt haben. Trotzdem bietet die Vergangenheit nach Meinung von Euan Munro, CEO bei Aviva Investors, wertvolle Lehren für Investoren, die versuchen, der Krise einen Sinn zu geben.

Wenn jemand seit einigen Jahrzehnten auf den Finanzmärkten tätig ist, fällt es ihm möglicherweise schwer, nicht in die Denkweise zu verfallen, dass alles schon einmal da gewesen ist. Das Wissen, dass sich Ereignisse der Vergangenheit oft wiederholen, kann für Fondsmanager hilfreich sein. Dies besonders dann, wenn man nach Warnzeichen sucht, die einer Krise vorausgehen, damit man die notwendigen Schritte zum Schutz der Kundenportfolios unternehmen kann.

Im Vorfeld der globalen Finanzkrise war ich nicht der Einzige, der sich schon lange vor dem Platzen der Blase Ende 2007 Sorgen über den Preis der Unternehmenskredite und die Explosion der strukturierten Kredite machte. Dies war kein „Schwarzer Schwan“, der aus dem Nichts erschien – es gab Grund zur Annahme, dass die Kredite im Mittelpunkt der nächsten Krise stehen würden, und das hat sich bestätigt.

Wenn ich auf andere turbulente Episoden meiner Tätigkeit zurückblicke, gab es ähnliche Gründe zur Sorge: Die Dot.com-Blase war ein Unfall, der passieren musste, weil Kapital blind in Unternehmen gepumpt wurde, die weder eine Erfolgsbilanz noch ein tragfähiges Geschäftsmodell aufwiesen. In den späten 1990er Jahren war das übertriebene Vertrauen asiatischer Unternehmen und Regierungen in Offshore-Schuldtitel zur Finanzierung eine Quelle struktureller Fragilität, welche die Region sehr schnell in eine Krise stürzte.

Die COVID-19-Pandemie ist anders als alle anderen Krisen

Wenn man die Hauptrisiken kennt, kann man eine Krise zumindest in einer Position relativer Stärke angehen, auch wenn nur wenige aus solchen Zeiten unbeschadet herauskommen. Die COVID-19-Pandemie ist jedoch anders als alle anderen Krisen, die wir bisher erlebt haben. Wir haben sie nicht kommen sehen. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass ich keinen Research- oder Zeitungsartikel gelesen habe, in dem für das Jahr 2020 eine Pandemie vorhergesagt wurde, die sich schnell auf der ganzen Welt ausbreiten und zu starken Einschränkungen der sozialen Bewegungsfreiheit und einem fast vollständigen Shutdown der wirtschaftlichen Tätigkeit in nahezu allen Industriezweigen führen würde.

Alle Finanzkrisen haben Auswirkungen auf die Menschen. Was diese Krise einzigartig macht, ist die Tatsache, dass es sich um eine menschliche Krise handelt, die einen erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Schock ausgelöst hat, und nicht umgekehrt. Einzigartig ist sie auch in der Hinsicht, dass wir alle, unabhängig davon, in welchem Sektor wir tätig sind, unseren Weg durch diese Krise finden müssen, während wir uns um die Gesundheit unserer Lieben und unser eigenes Befinden sorgen. Viele von uns übernehmen auch Verantwortung und helfen schwächeren Menschen unserer Gesellschaft.

Der Schutz der Kundenvermögen hat absolute Priorität

In Zeiten wie diesen mag das Auf und Ab der Finanzmärkte belanglos erscheinen. Wenn man aber das Geld anderer Leute verwaltet, müssen wir in diesen Zeiten noch härter daran arbeiten, dass unsere Anlageprozesse robust sind und unsere Entscheidungen auf einer strengen Analyse der Risiken basieren, denen wir ausgesetzt sind. Kurzfristig hat der Schutz der Kundenvermögen für uns absolute Priorität: Unabhängig davon, ob wir diese Krise kommen sahen, ist Kapitalerhalt keine Glückssache, sondern eine Frage der Konzeption. Denn eine der wichtigsten Aufgaben eines Vermögensverwalters ist es, Portfolios für eine Vielzahl von Zukunftsszenarien zusammenzustellen, auch für solche, die nie eintreten werden.

In guten Zeiten mögen Positionierungsstrategien für Worst-Case-Szenarien unwirtschaftlich erscheinen, für manche gar übertrieben. Bei Ereignissen wie der globalen Finanzkrise oder COVID-19 zeigt sich jedoch, dass die Bemühungen, die Portfolios so sicher wie möglich zu machen, berechtigt sind, vor allem, wenn es so vieles gibt, das wir nicht wissen. Wir können zum Beispiel nicht genau vorhersagen, wann die Ausbreitung der Pandemie eingedämmt wird, geschweige denn, wann sie zurückgeht oder wann die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufgehoben werden. Bis sich die Gesundheitsrisiken wesentlich verringert haben, sind Bewertungen der Wirksamkeit der politischen Reaktionen, die Regierungen und Zentralbanken zur Unterstützung der Volkswirtschaften und zur Stabilisierung der Finanzmärkte beschlossen haben, reine Spekulation.

Über kurzfristige Unsicherheit hinausschauen

Ich war in der vergangenen Woche etwas überrascht, als ich die zuversichtlichen Prognosen erfahrener Anlageexperten las, die meinten, die Talsohle des Abverkaufs sei erreicht. Noch einmal: Einschätzungen bezüglich der Stärke oder Dauer einer Krise können nicht präzise vorgenommen werden, daher fordere ich meine Teams nicht dazu auf, dafür Zeit aufzuwenden. Ich ermutige sie dazu, über die kurzfristige Unsicherheit hinauszuschauen und nachhaltige, langfristige Chancen zu ermitteln, wo die Märkte in dieser Zeit der Krise Vermögenswerte falsch bewerten.

Die Ursachen dieser Krise mögen andere sein als jene, die wir in der Vergangenheit gesehen haben. Was ich aber mit hinreichender Sicherheit sagen kann, ist, dass die Verwerfungen bei den Assetpreisen, die eher durch Angst als durch Fundamentaldaten verursacht werden, nicht anders sind. Dies wird Chancen eröffnen.

Wir wissen, dass es weltweit außerordentliche finanzielle und steuerliche Unterstützung geben wird, die möglicherweise sogar die Reaktion auf die globale Finanzkrise und die Staatsschuldenkrise in Europa in den Schatten stellen wird. Strukturelle Veränderungen, die in verschiedenen Branchen stattfanden, könnten beschleunigt werden. Die Krise könnte sich auch als Wendepunkt für das „S“ in den ESG-Faktoren erweisen, da Investoren und Regierungen mehr Druck auf Unternehmen ausüben, damit diese ihre soziale Verantwortung ernst nehmen.

Fundierte Entscheidungen über nachhaltige Geschäftsmodelle treffen

Eine Neubewertung des Risikos durch die Anleger ist ebenfalls wahrscheinlich: Auf Unternehmensebene müssen wir fundierte Entscheidungen darüber treffen, welche Unternehmen nachhaltige Geschäftsmodelle aufweisen und welche verwundbar erscheinen. Ebenso müssen wir auf der Makroebene die Volkswirtschaften herausarbeiten, die nach dieser Krise am widerstandsfähigsten sind, damit wir angemessene Entscheidungen über die Vermögensallokation in Bezug auf Zinssätze und Währungen treffen können.

Diese Entscheidungen werden unsere Anlageergebnisse während der nächsten zwei bis drei Jahre beeinflussen. Ebenso wie Kapitalerhalt keine Glückssache, sondern eine Frage der Konzeption ist, ist unser Ausstieg aus der Krise keine Glückssache, sondern eine Frage von Kompetenz und Urteilsvermögen bei der Beurteilung der größten Ineffizienzen und der entsprechenden Positionierung unserer Portfolios. Vor uns liegen schwierige Tage und Wochen, aber sie werden vorübergehen. Wir müssen auf alles vorbereitet sein, was sich danach ergibt.

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