Die Zeit drängt - kann die Schwerindustrie ihre Emissionen mindern?
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Wenn wir unsere Emissionen bis 2030 nicht halbieren, werden wir niemals Klimaneutralität erreichen. Das sagte schon Maria Mendiluce, CEO der „We Mean Business Coalition” und Gründungsmitglied der „Mission Possible Partnership“. Die meisten Vorstandsvorsitzenden und Regierungschefs haben den klaren Auftrag, die Treibhausgasemissionen spürbar zu senken. Diese Aufgabe ihren Nachfolgern zu überlassen, ist keine Option mehr. Denn bis zum Jahr 2030 sind es nur noch neun Jahre.
Nach Angaben des Weltwirtschaftsforums (WEF) sind die Schwerindustrie und der -lastverkehr für fast ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, wird sich dieser Anteil bis Mitte des Jahrhunderts verdoppeln. Ob Stahl, Zement, Kunststoffe oder der Transport über globale Lieferketten – diese Sektoren sind tief in unseren Volkswirtschaften verwurzelt.
Elektrische Energie kann nicht viel ändern
Robert Watt, Kommunikationsdirektor am Stockholmer Umweltinstitut (SEI) und Leiter der Partnerschaften im Sekretariat von LeadIT, sieht die Problematik einer Dekarbonisierung der Schwerindustrie in den folgenden Faktoren begründet: „Die Umstellung auf klimafreundlichere Verfahren wird hier traditionell als technologisch schwierig oder zu teuer angesehen und wird vielleicht auch von der Bedeutung dieser Industrien für andere Bedürfnisse, wie etwa Beschäftigung und Infrastruktur, erschwert.“ Die meisten Sektoren könnten ihre Emissionen durch die Umstellung auf Strom als Energiequelle senken, doch in der Schwerindustrie sei dies entweder sehr schwierig oder gar sinnlos.
Lord Adair Turner, Vorsitzender der Energy Transitions Commission, einer Denkfabrik mit Fokus auf Wirtschaftswachstum und Klimaschutz, veranschaulicht dies am Beispiel der Zementherstellung: „Die Herstellung von Zement ist ein chemischer Prozess, bei dem man Kalziumkarbonat in Kalziumoxid umwandelt. Bei diesem Prozess entsteht CO2. Selbst wenn man also nur Strom zur Wärmeerzeugung verwendet, ist das noch keine Lösung.“
Der Kern des Problems besteht auch darin, dass die derzeitigen Rohstoffe nicht einfach ausgetauscht werden können. Die Energiedichte fossiler Brennstoffe ist gegenüber den kohlenstoffarmen Alternativen weit überlegen. Momentan gibt es noch keine Lösungen für einen kohlenstoffarmen Betrieb von Langstreckenflügen, Übersee-Schifffahrten sowie für weitere industrielle Schwerstarbeit.
Technologieinvestitionen gleichen einer Pferdewette
Die Technologien befinden sich noch in einem sehr frühen Stadium – sich jetzt entscheiden zu müssen, ist für Unternehmen ein großer Unsicherheitsfaktor.
Auch wenn Vorgaben und Unterstützung seitens der Politik wichtig für gleiche Wettbewerbsbedingungen sind, reicht das möglicherweise noch nicht aus. Einige Unternehmen gehen Partnerschaften ein und sondieren verschiedene technologische Möglichkeiten – mit dem Ziel, diejenigen zu finden, die sich letztendlich am effizientesten auf größerem Maßstab einsetzen lassen.
Das trifft insbesondere auf die Stahlindustrie zu, wo alle großen Unternehmen verschiedene Optionen untersuchen. Allein Arcelor unterhält wahrscheinlich vier oder fünf Projekte, bei denen unterschiedliche Technologien zum Einsatz kommen. Das Unternehmen hat sich zwar zu Netto-Null-Zielen bis 2050 verpflichtet, doch der Weg dahin ist ungewiss. Solange dies noch bei den meisten Unternehmen der Fall ist, setzen die Netto-Null-Pläne weiterhin stark auf Kohlenstoffausgleich.
Ein weiteres Erschwernis ist die extrem lange Lebensdauer der Anlagen in diesen Industrien. Von Gießereien über Flugzeuge bis hin zu Eisenerzminen und Frachtschiffen - alles, was heute gebaut wird, wird wahrscheinlich auch 2050 noch in Betrieb sein.
Das Jahr 2050 ist eben nur noch ein Investitionszyklus entfernt und neue kohlenstoffarme Technologien müssten bis zum Ende des Jahrzehnts eine kommerzielle Schwelle erreichen, um wirklich etwas bewirken zu können.
Turner bleibt trotzdem optimistisch: „Was Ehrgeiz und Engagement angeht, haben wir die Trendwende schon geschafft. Auch in den schwierigen Sektoren gehen führende Unternehmen Verpflichtungen ein, die den Wandel vorantreiben. Arcelor Mittal, das zweitgrößte Stahlunternehmen der Welt, und Maersk, die größte Container-Schifffahrtsgesellschaft, sagen beide, dass sie bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen werden.“
Physische Abhängigkeiten erschweren den Übergang
Doch ein großer Stolperstein bleibt: Die Dekarbonisierung dieser Sektoren kann nicht in einzelnen Gießereien oder Flugzeugen nacheinander erfolgen. Die Sektoren sind fester Bestandteil eines ganzen Netzwerks aus Zulieferern und Infrastruktur. Die Transformation muss allumfassend sein.
„Die Akteure der Branche schließen in der Regel langfristige Verträge über die Nutzung der Infrastrukturen ab. Die Infrastrukturen sind natürlich auf die Finanzierung angewiesen, deshalb könnte es schwierig werden, ein vorzeitiges Auslaufen der Verträge auszuhandeln“, erläutert Max Åhman, außerordentlicher Professor für Umwelt- und Energiesystemstudien an der Universität Lund in Schweden. „Die nächsten zehn Jahre sind das Problem. Die Verträge sind rechtskräftig, nicht so leicht zu umgehen und werden den Übergang erschweren.“
Aus diesem Grund müssen Regierungen proaktiv handeln und im Rahmen ihrer Netto-Null-Verpflichtungen mit der Planung beginnen. Aus gesellschaftlicher Sicht ist die Auswirkung auf die Beschäftigung ebenfalls eine entscheidende Abhängigkeit, die nicht vergessen werden sollte.
Es gibt bereits technologische Lösungen
Die gute Nachricht: Es ist technisch möglich, diese Sektoren bis Mitte des Jahrhunderts zu dekarboniseren – bei geschätzten Gesamtkosten von deutlich unter 0,5 Prozent des globalen BIP. Das ist eine gute Ausgangsbasis.
"Bei Flügen geht man derzeit davon aus, dass viele Kurzstrecken elektrifiziert werden können", sagt Turner. "Optimisten würden sagen, dass wir bis 2035 Flugzeuge auf den Markt bringen, die 1.000 Kilometer weit fliegen und 100 Passagiere befördern können. Aber im Moment glaubt niemand, dass wir Batterien so leicht machen können, um über den Atlantik zu fliegen.“
Turner ist jedoch zuversichtlich, dass die Problemindustrien auch nur mit denjenigen technologischen Verbesserungen dekarbonisiert werden können, die sich bereits länger in der Entwicklung befinden.
Drei Bereiche, sechs Innovationen
Forschungen haben ergeben, dass Technologien wie Wasserstoff und Kohlenstoffabscheidung allein nicht ausreichen, um die Kosten zu senken und eine vollständige Dekarbonisierung zu erreichen. Material- und Energieeffizienz sowie eine stärker kreislauforientierte Wirtschaft sind ebenso von wesentlicher Bedeutung.
Mendiluce setzt dafür Innovationen in sechs wichtigen Bereichen voraus: „Die erste bezieht sich auf Materialeffizienz und Kreislaufwirtschaft. Dabei geht es um die Verbesserung von Produkt- und Gerätedesigns sowie der Materialien, Prozesse und Systeme. Rückverfolgbarkeit und Recycling sind sehr wichtig. Für einige dieser Produkte, wie etwa Kunststoffe, ist die Infrastruktur für die Einsammlung nicht vollständig vorhanden – das gilt insbesondere in Entwicklungsländern. Und das Entweichen von Kunststoffen hat erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt.“
"Effizienz bedeutet weniger Kosten für Unternehmen. Eine Kreislaufwirtschaft kann auch neue Einnahmequellen durch die Wiederverwendung von Abfällen schaffen, die sonst auf einer Deponie landen würden", fügt sie hinzu.
Elektrifizierung und Wasserstoff nennt Mendulice jeweils als zweiten und dritten Innovationsbereich, die beide auf dem richtigen Weg sind.
An vierter Stelle steht die Bio- und die synthetische Chemie. Hier würden sich gerade interessante Dinge entwickeln, auch wenn weitere Fortschritte nötig sind. Der fünfte Innovationsbereich hängt mit neuen Materialien zusammen. „Es ist wirklich spannend, die Entstehung einiger Ersatzstoffe für Kohle und Zement sowie neue Biokunststoffe zu beobachten", so Mendulice.
Und nicht zuletzt nennt sie die CO2-Abscheidung und -speicherung (CCUS).
Was kostet die Dekarbonisierung?
Derzeit wird viel über die sozialen Auswirkungen der Dekarbonisierung diskutiert, da die zusätzlichen Kosten wahrscheinlich an die Endverbraucher weitergegeben werden. So auch in der Luftfahrt: Man hat versucht, strengere Kohlenstoffregelungen durchzusetzen, aber die meisten der damit verbundenen Kosten, insbesondere in Europa, werden an die Kunden weitergegeben.
Auch wenn die Kostensteigerungen in einigen Fällen – wie in der Luftfahrt – beträchtlich sind, dürften die meisten Preiserhöhungen aber für Endkunden vernachlässigbar sein. Die wahre Herausforderung für die Branche ist der Kostenanstieg im B2B-Teil der Wertschöpfungskette.
Auf der Produktionsseite werden die Kosten der Dekarbonisierung je nach Sektor variieren. Von der Energy Transitions Commission in Auftrag gegebene Untersuchungen haben ergeben, dass die Kosten der CO2-Vermeidung in der Schwerindustrie moderater ausfallen und längerfristig sinken werden, wenn die Technologien ausgereift sind und sich verbreiten.
Die Nachfrage entscheidet
Eine kohlenstofffreie Wirtschaft bis zur Mitte des Jahrhunderts erfordert eine drastische Beschleunigung des Investitionstempos. Das ist zwar finanziell tragbar, von den Ländern muss jedoch einiges kommen: Klare Ziele, politische Maßnahmen zur Förderung wichtiger technologischer Entwicklungen, die Festsetzung des Kohlenstoffpreises, die Verfolgung der Energieeffizienz und wichtige Infrastrukturentwicklungen.
Einige Investitionen werden auf staatlicher Ebene getätigt werden, z. B. bestimmte Teile der Infrastruktur, aber vieles wird von den Unternehmen abhängen. Um Investitionen in Millionenhöhe in jeder einzelnen Anlage zu tätigen, brauchen sie wirtschaftliche Argumente – für sich selbst und für ihre Kunden.
Deshalb ist die Nachfrage so entscheidend: Je mehr die Kunden dazu bereit sind, Netto-Null-Stahl, -Zement oder -Kunststoffe zu kaufen, desto leichter fällt es den Herstellern, die notwendigen Investitionsentscheidungen zu treffen.
Die Nachfrage könnte man beispielsweise ankurbeln, indem man die etwas höheren Preise durch attraktive Versprechen für Endverbraucher ausgleicht: In einem Netto-Null-Gebäude wohnen, oder – für ein Transportunternehmen – Netto-Null-Lastkraftwagen, die nicht nur elektrisch betrieben werden, sondern auch aus Netto-Null-Stahl hergestellt sind.
Investoren und Politik als Treiber des Wandels
Die Koordinierung der beweglichen Teile von Wertschöpfungsketten ist von entscheidender Bedeutung und steht im Mittelpunkt einiger der einflussreichsten Initiativen zur Dekarbonisierung problematischer Sektoren, wie z. B. die Mission Possible Partnership, LeadIT der UN und die We Mean Business Coalition.
Mendiluce plädiert für einen Fahrplan der Industrie zur Erreichung der Netto-Null-Ziele. Dieser soll von allen Interessengruppen gemeinsam entwickelt werden, damit die Industrie nach der Formulierung von ambitionierten, wissenschaftlich fundierten Zielen damit beginnen kann zu handeln und Fortschritte zu erzielen, die am Fahrplan messbar sind. "Hier spielt die Investorengemeinschaft eine wichtige Rolle. Durch Anreize, Unterstützung und Druck auf die Unternehmen, können wir die Entwicklung beschleunigen und einen echten Wandel herbeiführen", führt sie weiter aus.
Auch den Regierungen wird bei dem Wandel eine Schlüsselrolle zuteil. "Die öffentliche Beschaffungspolitik ist ein weiteres Nachfragesignal, das sich auf die Finanzierungskosten auswirken kann", sagt Watt. "Sobald klar ist, dass sich kohlenstoffarme Produkte verkaufen, kann man zu den Banken gehen. Für diese ist eine entsprechende Investition dann risikoärmer, sodass die Kapitalkosten sinken könnten.“
Turner hebt das Risiko verlorener Vermögenswerte hervor, denn diese könnten sich negativ auf die Bilanzen auswirken und Zugang zu Kapital erschweren – betroffene Unternehmen könnten finanzielle Unterstützung benötigen. Außerdem würden viele der neuen Technologien öffentliche Investitionen in Forschung und Entwicklung erfordern.
Chancen und Risiken
Der „Mission Possible“-Bericht von 2018 erläutert Maßnahmen, mit denen Investoren zur Beschleunigung der Dekarbonisierung beitragen können: eine bessere Bewertung von klimabezogenen Chancen und Risiken, klare Pläne für die Umschichtung ihrer Portfolios sowie die Entwicklung von grünen Anlageprodukten. Letzteres sollte dabei mit der Unterstützung von Entwicklungsbanken erfolgen, um nachhaltige Infrastrukturinvestitionen in Entwicklungsländern zu erleichtern.
Grund für Optimismus dürften jedenfalls die Subventionen geben, welche die frühe Entwicklung der erneuerbaren Energien gefördert haben – Stahl und fossile Brennstoffe etwa erhalten weltweit enorme Subventionen in unterschiedlicher Form und Höhe. Könnten diese möglicherweise umgelenkt werden, um Lösungen für die Dekarbonsierung der Schwerindustrie zu entwickeln? Das könnte die Investitionsbereitschaft für schwer zu dekarbonisierende Industrien erhöhen.
Watt sieht Chancen bei Unternehmen, die die Infrastruktur für Netto-Null-Technologien bereitstellen – von Wasserstofftransport und -speicherung über CCUS-Anlagen bis hin zur Elektrolysetechnologie.
Auch in der Stahlindustrie gibt es Chancen, etwa bei elektrischen Lichtbogenöfen, die bei der Produktion auch Stahlschrott verarbeiten können. Solche Erzeugnisse können derzeit nur von Bereichen wie dem Bauwesen verwendet werden, die Luft- und Raumfahrt oder die Fahrzeugindustrie sind nach wie vor auf Primärstahl angewiesen. Mit der Weiterentwicklung der Technologie und der Verbesserung der Stahlqualität könnte sich das jedoch ändern.
Weiteres Potenzial findet sich im Bereich der Substitutionslösungen – beispielsweise Schienenverkehr als Ersatz für Luftverkehr oder neue Materialien, die kohlenstoffintensiven Stahl oder Zement ersetzen – und bei Branchenführern hinsichtlich neuer Technologien wie nachhaltige Biokraftstoffe. So haben Wärmepumpen für die Beheizung von Gebäuden eine negative Umweltprämie. Sie sind effizienter als die derzeitigen kohlenstoffintensiven Heiztechnologien und haben damit auch gute wirtschaftliche Argumente für Investoren.
Auf dem Weg zur Klimaneutralität ist eine Menge Aktivität zu erkennen – das hat viel mit den formulierten Zielen bis 2030 bzw. 2050 zu tun. Man darf allerdings nicht vergessen, dass diese Ziele für Unternehmen nicht rechtsverbindlich sind. Es kommt jetzt darauf an, inwieweit sich die Unternehmen gegenseitig zum Handeln anspornen. Die nächsten fünf bis zehn Jahre sind entscheidend.
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