Was treibt den Markt für Investmentgrade-Unternehmensanleihen?
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Die jüngste Lockerung der Lockdowns und die Interventionen der Fed am Unternehmensanleihemarkt ließen die Risikobereitschaft erneut steigen. Die Rallye konjunktursensitiver Titel ab Mitte Mai passt zu einer allmählichen Erholung von Wirtschaft und Märkten; in den USA wie in Europa gehen die Spreads von Investmentgrade-Unternehmensanleihen zurück. Aber sind die Risikoprämien von Investmentgrade-Anleihen angesichts der möglichen Zukunftsszenarien jetzt noch hoch genug?
Jeder Konjunkturzyklus ist anders, ebenso wie jede Rezession. Und doch orientieren sich Investoren bei Prognosen an früheren Rezessionen und Krisen. Die meisten Marktteilnehmer – und die Finanzpresse – vergleichen die heutige Lage gern mit der internationalen Finanzkrise. Aber die Ursachen der beiden Krisen sind sehr verschieden, und auch sonst gibt es große Unterschiede. Während der internationalen Finanzkrise machte vor allem die Solvenz der Kreditgeber Sorgen. Sicher haben Finanzinstitute eine wichtige Aufgabe bei der Bereitstellung von Kapital, aber sie sind nicht die Wirtschaft. Die heutige Krise ist das Gegenteil: Jetzt ist die Solvenz der Kreditnehmer gefährdet.
Genau hinsehen
Um trotz schwachem Wirtschaftswachstum einen hohen freien Cashflow zu erzielen, verzichteten viele Unternehmen auf Investitionen und nahmen so viel Fremdkapital auf wie selten zuvor. Man lieh sich Geld, um Ausschüttungen an Aktionäre zu finanzieren. Ich würde die Geschehnisse in den 2010er-Jahren als einen massiven Transfer von Anleihegläubigern zu Aktionären bezeichnen. Schon vor der derzeitigen Krise waren viele Unternehmen hoch verschuldet und nicht solide finanziert. Die Pandemie brachte dies ans Licht, was ihre Lage noch einmal deutlich schwieriger machte. In einer Rezession werden Ungleichgewichte meist korrigiert. Doch beim größten Ungleichgewicht des letzten Konjunkturzyklus, der hohen Verschuldung, lässt die Korrektur noch auf sich warten.
Auf dem Tiefpunkt während der COVID-19-Krise verlangten die Märkte von den Unternehmen, Liquidität einzuwerben und ihr Working Capital wieder in Ordnung zu bringen. Man entließ daraufhin Mitarbeiter und kürzte massiv die Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Zulieferer wurden nur noch verspätet bezahlt.
Als sich die Notenbanken wieder ihrer Rolle als Lender of Last Resort besannen, konnten die Unternehmen wieder Fremdkapital aufnehmen, vor allem in den USA. Hier dürften die Anleihenemissionen schon bald doppelt so hoch sein wie in den Vorjahren, auch wenn die Nachfrage einbricht und kaum ein Umsatzanstieg auszumachen ist.
Wenn Unternehmen aber Fremdkapital aufnehmen, um Einnahmeverluste auszugleichen statt neue Projekte zu finanzieren, schwächt das ihre Finanzen. Dennoch sind die Risikoprämien im Schnitt gefallen.
Rechtfertigen die Notenbankhilfen tatsächlich den jüngsten Kursanstieg, obwohl die Unternehmen noch immer in der Krise stecken? Bieten Investmentgrade-Spreads nur knapp über ihren Vergangenheitsdurchschnitten tatsächlich einen angemessenen Risikoausgleich? Vielleicht überzeugt Sie mein letzter Punkt. Bis jetzt ließen Märkte und Ratingagenturen den Unternehmen ihre schlechten Finanzen durchgehen. Der Anteil von Investmentgrade-Unternehmensanleihen, die ähnlich wie High-Yield-Anleihen mit BB-Rating bewertet sind, ist geschrumpft und liegt heute sowohl in den USA als auch in Europa unter 2 %. Wenn wir diese Anleihen aus den Indizes herausrechnen, sind die durchschnittlichen Spreads drei bis fünf Basispunkte niedriger.
Ein derart kleiner Anteil ist sicher vernachlässigbar, doch fürchte ich, dass er deutlich zunimmt. Denn die Absatzmenge ist wichtig. Jedes Unternehmen hat schließlich Fixkosten, die gedeckt werden müssen. Wie viele BBB-Emittenten werden ihr Investmentgrade-Rating behalten können, wenn die Nachfrage nicht wieder auf das Vorkrisenniveau steigt?
Um es noch einmal klar zu sagen: Diese Überlegungen gelten für den Markt als Ganzes. Am anfälligsten – und am stärksten überbewertet – sind Unternehmen mit einem negativen Working Capital und ernsthaft gefährdeten Geschäftsmodellen. Attraktiv sind die Risikoprofile von Firmen, die in Märkten mit hohen Eintrittsschranken tätig sind, über wertvolle geistige Eigentumsrechte verfügen oder mit ihren Produkten wiederkehrende Einnahmen erzielen. Hier sollte man investieren.
Aufgrund der zunehmenden Unsicherheit machen mir vor allem passive Investmentgrade-Investoren Sorgen. Passive Anlagen haben ihre Berechtigung, da man mit ihnen kostengünstig in den Markt investieren kann. Aber passive Investoren investieren nicht, sondern leiten Kapital nur um. Das sind zwei verschiedene Dinge. Passive Investoren lassen die Fundamentaldaten außer Acht. Aber die halte ich zurzeit für wichtiger denn je.
In den USA zitieren wir gern den früheren Regierungsbeamten Rufus Miles, bekannt für den Aphorismus „Where you stand depends on where you sit“, das sogenannte Miles’sche Gesetz. Laut Miles hängt der eigene Standpunkt von dem Amt ab, das man bekleidet. Miles wurde unterschiedlich gedeutet, aber für mich postuliert er vor allem einen Mangel an Objektivität. Um ehrlich zu sein: Auch ich bin nicht objektiv. Ich bin nicht nur Investmentstratege bei MFS, sondern auch leitender Portfoliomanager zweier Strategien – einer Long-Short-Aktienstrategie und eines sektorübergreifenden Portfolios mit dem Ziel einer Dividendenrendite über der von Aktien bei einem Wertzuwachs über dem von Anleihen. Beide Strategien werden aktiv gemanagt und waren zuletzt defensiver positioniert als sonst. Vielleicht beeinflusst mich das.
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