Kommentar
16:30 Uhr, 06.09.2022

Vor großer Zinserhöhung: Tritt die EZB in die Fußstapfen der Fed?

Die Fed hat die Zinsen bereits in 0,75 Prozentschritten angehoben. Am Donnerstag könnte und sollte die EZB in die gleichen Fußstapfen treten.

Nicht jedes EZB-Mitglied vertritt die Meinung, dass nun die Zeit für 0,75 % Schritte gekommen ist. Ganz offensichtlich ist eine Beschleunigung der Zinswende nicht. Das Wirtschaftswachstum in der Eurozone schwächt sich bereits ab. Eine Rezession gilt als relativ sicher, auch wenn nicht klar ist, wie tief die Rezession wird.

Die EZB kann auch wenig gegen Angebotsdefizite tun. Fließt kein Gas durch die Pipelines, können die Zinsen auch bei 5 % stehen und es ändert an der Mangellage und der Inflation nichts. Zu guter Letzt bereiten die Renditedifferenzen der einzelnen Länder zu Deutschland Sorgen. Allen voran ist Italien zu nennen. Die EZB hat bereits deutsche Anleihen aus dem Pandemieprogramm auslaufen lassen, um damit italienische Anleihen zu kaufen.

Die Renditedifferenz ist volatil, scheint aber bisher nicht außer Kontrolle zu geraten. Ob Zufall oder nicht, der Spread übersteigt die Marke von 2,5 % bisher nicht. Es ist gut möglich, dass die EZB dort die rote Linie sieht und interveniert. Genau dafür hat sie ein neues Instrument eingeführt, auch wenn es noch nicht einsatzbereit ist. Bis jetzt scheint die erste Verteidigungslinie (Umschichtungen im bestehenden Portfolio) auszureichen.

Große Zinsschritte sind nicht offensichtlich und die Meinungen gehen auseinander. Würde man Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel fragen, wäre die Antwort klar: Es braucht eine entschlossene Zinswende. Während des Notenbankertreffens in Jackson Hole Ende August hielt Schnabel eine Rede, die neben Powells Statement kaum Beachtung fand. Für die Eurozone ist diese Rede jedoch weitaus bedeutender als Powells kurze Ausführungen.

Schnabel argumentiert für rasche Zinserhöhungen. Wenn Unsicherheit darüber besteht, ob Inflation permanent ist, muss die Notenbank Inflation bekämpfen. Tut sie es nicht und stellt sich heraus, dass Inflation anhaltend ist, sind die Folgekosten sehr hoch. Es bräuchte einen Zins-, Wachstums- und Arbeitslosenschock wie unter Paul Volcker, um die Preise wieder zu stabilisieren. Das will niemand.

Nicht weniger wichtig ist die Glaubwürdigkeit der Notenbank. Das Mandat heißt Preisstabilität. Wird das Mandat nicht erfüllt, verliert die Notenbank das Vertrauen und Rückhalt. Je länger die Inflation zu hoch ist, desto mehr Vertrauen geht verloren. Das gilt nicht nur für die Notenbank, sondern alle Institutionen.

Passend dazu sind die Inflationserwartungen der Bevölkerung alarmierend. Die wahrgenommene Inflation folgt der tatsächlichen (Grafik 1).

Das ist kein Problem und spiegelt lediglich die Tatsachen wider. Problematisch wird es beim Blick in die Zukunft. Die Erwartungen für die kommenden 12 Monate steigen wieder an (Grafik 2). Die Daten sind zudem per Juli. Der jüngste Anstieg der Gas- und Strompreise ist noch nicht enthalten.

Bei den mittelfristigen Erwartungen auf Sicht von drei Jahren ist vor allem der Median besorgniserregend (Grafik 3).

Die Hälfte der Befragten erwartet höhere Inflation, die andere Hälfte niedrigere als durch die graue Linie im Chart gezeigt. Das Mittel tendiert aufwärts und dürfte neue Hochs erreichen. Damit sind die Erwartungen im Gegensatz zu den USA nicht mehr gut verankert. Sich lösende Inflationserwartungen, weil die EZB ein Glaubwürdigkeitsproblem hat, ist ein Trend, den man nicht sehen will.

Die EZB, mehr als die Fed, muss klarmachen, dass sie es ernst meint. Selbst wenn sich die Wirtschaft abschwächt, darf sie die Zinsen nicht gleich wieder senken. Die Glaubwürdigkeit kann sonst nicht wiederhergestellt werden.

Zu guter Letzt müssen die Zinsen stark steigen, weil viele Sektoren weniger stark auf Zinsen reagieren als noch vor 40 Jahren, als die Inflation das letzte Mal so hoch war. Der Dienstleistungsanteil der Wirtschaft ist höher. Dieser ist oft weniger kapitalintensiv und reagiert daher nur wenig auf Zinsen.

Kurz gesagt: Das kleinere Übel ist ein Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten am Donnerstag. Ob sich diese Denkweise durchsetzt, werden wir bald wissen. Es steht jedenfalls vieles auf dem Spiel und ein zu kleiner Zinsschritt dürfte der EZB und ihrer Glaubwürdigkeit mittelfristig mehr schaden als der Wirtschaft.

Clemens Schmale


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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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