Kommentar
18:18 Uhr, 06.04.2014

Verluste blockieren, verängstigen und demotivieren

Es ist leicht, gegenüber Dritten zum Thema „Verluste“ zu referieren und dabei auf die Notwendigkeit der Verlustbegrenzung zu verweisen. Doch wenn es an das Eingemachte geht, sieht die Welt anders aus. Ein Erfahrungsbericht und seine Konsequenzen…

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Der Umgang mit Verlusten ist wahrscheinlich das mental schwierigste Thema eines Traders oder Investors an der Börse und doch ist es essentiell „das Zünglein an der Waage“, welches erfolgreiche Akteure von Verlierern unterscheidet. Ich will es einmal zugespitzt formulieren: Die Umgangsweise mit Verlusten entscheidet letzten Endes, ob Sie eine stetiger „Einzahler“ an der Börse sein werden und sich früher oder später demotiviert zurückziehen, oder ob es Ihnen tatsächlich gelingt, dauerhaft Ihren Anteil aus dem Markt zu holen, für den Sie regelmäßig Energie und Fleiß aufbringen.

Es gibt Unmengen an Fachliteratur, welche sich mit der Psychologie des Handels beschäftigt, es gibt Literatur zu Handelsstrategien, zu Money- und Risk-Management und zu allen sonst üblichen Aspekten, welche für den erfolgreichen Handel an der Börse notwendig sind. In all diesen Werken wird der Umgang mit Verlusten auch thematisch mitbehandelt, mal mehr, mal weniger. Und doch wird aus meiner Sicht gerade diesem Abschnitt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es nicht damit getan ist, wenn man „weiß“, wie man Verluste nicht ins bodenlose anwachsen lässt (z.B. durch den Einsatz von Stopp-Kursen) und wenn man die Techniken des Ermittelns und Platzierens diverser Stopp-Kurs-Arten beherrscht. Verluste treten auf, das ist Gesetzt. Es wird niemanden an der Börse geben, der ohne Verluste arbeitet. Doch wenn man sich diesem Thema nur über das theoretische Wissen annähert, welches man gelesen und von Freunden oder aus Seminaren erworben hat, fühlt man sich im entscheidenden Moment doch allein gelassen. Plötzlich werden Verluste von einem „fremden“ zu einem „eigenen“ Problem. Und dann ist alles ganz anders, als es noch war, als man sich nur theoretisch mit Geldverlusten auseinandersetzte.

Ich möchte in diesem Artikel anders herangehen, um mich mit dem Verlustthema zu beschäftigen, als es üblich ist. Ich möchte Sie nicht schulmeisterisch über Verlustbegrenzungen und psychologische Aspekte der Verlustbewältigung belehren, ich möchte Ihnen einfach nur erzählen, wie ich über ein Schockerlebnis an genau diese Weichenstellung geführt wurde, an der es hieß: Resignation und Aufgabe oder konsequentes Umdenken und „überleben“. Mein Vorteil war vielleicht, dass mir genau dieses Desaster passierte und ich somit nicht in einem oft schleichenden und zermürbenden Prozess mit der Bewältigung der Verlustproblematik fertig werden musste, wie es vielleicht in der Mehrheit der Fälle üblich ist.

Ich werde Ihnen darlegen, was mir geschah und ich werde dann an Hand dieses praktischen Erlebnisses erläutern, wie ich mit der Thematik umging und noch heute umgehe, in der Hoffnung, Ihnen damit vielleicht ein wenig Hilfestellung zu geben, sich Ihren Dämonen zu stellen.

Das Desaster nimmt seinen Lauf

In die Zeit meiner Tätigkeit als Options- und Future-Händler an der MEFF (spanische Terminbörse) für die Deutsche Bank S.A. in Madrid, fiel die Wahl einer neuen spanischen Regierung im Jahre 1996. Der allgemeine Konsens war, dass die damalige amtierende sozialistische Regierung klar von den Konservativen geschlagen wird, die Börse hatte im Vorfeld bereits durch auffällige Kursgewinne auf diesen Wahlausgang hin spekuliert. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt eine Optionsposition im spanischen Index IBEX aufgebaut, welche alles andere als komfortabel auf dieses nationale Großereignis ausgerichtet war. Im Idealfall hätte die Gesamtposition so aufgestellt sein müssen, dass sie „neutral“ in die neue Handelswoche geht und (noch idealer wäre es gewesen) sich bei heftigen Kursbewegungen beidseitig zu unseren Gunsten hätte entwickeln sollen (für die Fachkundigen: Delta neutral, Gamma long). Tatsächlich waren wir zwar neutral, jeder Tick nach oben oder unten verschob die Parameter unserer Optionspositionsbewertung jedoch zu unseren Ungunsten. Solange solch eine Entwicklung in einem überschaubaren Tempo erfolgt wäre, hätte man durch Käufe oder Verkäufe von Futures gegensteuern können, doch für heftige Kursbewegungen enthielt diese Position puren Sprengstoff. Wir waren uns dieses Risikos bewusst und sind im Grunde mehr oder weniger unfreiwillig in diese Situation hineingestolpert, weil wir substantielle Fehler gemacht haben, die wir theoretisch im Vorfeld alle hätten benennen können, zu deren Behebung wir aber nicht konsequent genug vor der Wahl aktiv wurden. Wir hatten gehofft, dass die Wahl im Sinne des Konsens ausgehen werde und wir genug Zeit haben würden, die daraus im Vorfeld gezogenen Buchgewinne auch zum größten Teil realisieren zu können. Rückblickend weiß ich, dass wir „Sklave unserer Position“ geworden waren und hier mehr der Wunsch der Vater des Gedanken war.

Sie werden sich vorstellen können, wie die Geschichte ausging: das Wahlergebnis wurde ein „non event“, das heißt, die konservative Partei erzielte nicht genug Stimmen, um die absolute Mehrheit zu erhalten, es wurden Stichwahlen notwendig. Der Handel startete am Folgemontag um 10:00 Uhr, ab 08:00 Uhr gaben Fondsgesellschaften und andere Institutionelle im Sales-Bereich bereits ihre gestaffelten Verkaufsorders in den Markt, die jenseits tief vom Schlusskurs der Vorwoche lagen. Wenn wir diese Kurse als reale Handelskurse simulierten, wir diese als wirklich real hätten annehmen müssen, dann ergab das Ganze einen Positionsertrags und Risikomix von Detonation, Pest und Cholera zum Quadrat.

Wir hatten in unseren Risikosimulationen eine solche Entwicklung nicht für möglich halten wollen und es kostete uns den Ertrag aus den drei vorangegangenen Monaten, sprich einen ganzen Quartalsertrag. Die Folgewoche war die für mich wohl härteste Handelswoche meiner bisherigen gesamten Laufbahn. Aktives Handeln und ganz sicher auch unglaublich viel Glück, brachte uns in dieser einen Woche nahezu den gesamten Verlust vom Montag wieder zurück, so dass wir die Woche mit einem tiefblauen Auge aber ertragsmäßig nahezu unbeschädigt und mit einer total aufgeräumten Optionsposition beendeten. Mental hatte uns (und besonders mich) diese eine Woche jedoch hart getroffen. Für mich wurde das Thema „Umgang mit Verlusten“ so in den Vordergrund geschossen, dass sich von da an mein Blickwinkel auf diesen Teil des Handels völlig änderte.

Innerhalb der Bank selbst, war dieses Ereignis rasch überwunden. Der Verlust war nicht so groß, als dass es im gesamten Bereich Konsequenzen gegeben hätte, dazu waren die Vorgesetzten im Jahre 1996 auch noch nicht genug sensibilisiert. Jahre später hätte das Ganze ganz anders ausgehen können. Hinzu kam, dass wir nach nur vier (!) weiteren Tagen fast das gesamte Quartalsergebnis zurückverdient hatten und die Gesamtoptionsposition des Bereiches nun so ausgerichtet war, dass wir phänomenale Folgequartale erlebten und das Jahr 1996 mit einem brillanten Bereichsergebnis beendeten. Für mich selbst war es jedoch so prägend, wie vielleicht die Detonation von Sprengstoff für einen Sprengmeister, der nur durch Zufall überlebt und feststellen muss, wie selbst ein kleinster Fehler, eine solch verheerende Wirkung entfalten kann, die man im Vorfeld nicht für möglich hielt oder halten wollte.

Wir Menschen haben unseren eigenen Ereignishorizont

Ich setzte mich in den Folgejahren sehr intensiv mit der Verlustproblematik auseinander. Mir war zunächst nicht klar, warum wir als Anleger meist oder sogar überwiegend anders agieren, als wir es müssten, selbst wenn wir die theoretischen Hintergründe dafür kennen. Ich nehme an (ich hoffe es) jeder von Ihnen weiß, dass es Stopp-Kurse gibt. Jeder von Ihnen weiß, wofür diese da sind und dass diese Ihre Lebensversicherung sind. Und doch frage ich Sie: wie oft haben Sie Ihre Stopp-Kurse nicht ausgelöst, wenn sie erreicht wurden? Wie oft haben Sie Ihre Stopp-Kurse überhaupt nicht gesetzt oder sie soweit entfernt vom Einstand platziert, dass deren Sinn und Zweck schon förmlich pervertiert wurde? Oder anders gefragt: wie oft halten Sie an Positionen fest, welche im Minus liegen (aber noch nicht ausgestoppt wurden), obwohl Sie erneut eine solche Position nicht mehr aufbauen würden? Wie oft handeln Sie aus langer Weile heraus, ohne sich überhaupt Gedanken zu machen, wo Sie im schlimmsten aller Fälle die Reißleine ziehen? Wie oft halten Sie an schlechten Positionen fest, die Sie eigentlich für einen raschen Day-Trade eröffneten, um diese dann eben in eine „strategische Position“ mit „Langfristcharakter“ umzuwandeln, weil diese einfach völlig schief im Markt liegt? Ich kenne unendlich viele dieser Fälle von anderen professionellen, super ausgebildeten Händlern – warum sollte es Ihnen da anders gehen?

Mit der Zeit verstand ich, dass der Kern des Verlustumganges ein psychologisches Problem ist, welches so zwar noch nie konkret im Zusammenhang mit der Verlusthandhabung untersucht wurde, aber einen tiefgreifenden Untersuchungsgegenstand in der Sozialpsychologie bei der Untersuchung von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen darstellt und folglich Schlüsse auf unsere Thematik zulässt. Ich spreche vom Studienbegriff der sogenannten „shifting baseline“. Um was geht es dort?

In Deutsch würden wir diesen Prozess als „gleitende Gegenwart“ bezeichnen. Die Psychologen definieren mit diesem Begriff einen Sachverhalt, dass es uns Menschen enorm schwer fällt zu entscheiden, ob wir uns an einem kritischen Punkt einer Entwicklung befinden. Der Sozialpsychologe Harald Welzer, Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und Dozent an der Universität St. Gallen schreibt dazu in seinem neuesten Buch „Klimakriege – wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“ (Fischer Taschenbuch Verlag), dass wir in der Regel nicht oder kaum erkennen können, „ab welchem Niveau eine Entscheidung irreversibel wird oder in welchem Augenblick des Verfolgens einer Strategie eine Katastrophe entsteht“. Um es mit einer Metapher deutlich zu machen: wann werden wir erkennen, dass wir unsere Umwelt unwiederbringlich zerstört haben? Wenn der letzte Baum gefällt wurde? Oder schon viel früher, als wir uns über die Konsequenz unseres Tuns nicht im Klaren waren, wir aber schon einen Zustand geschaffen haben, ab dem die Natur kaum noch selbst Chancen hat, sich entsprechend selbst wieder zu rekultivieren? Doch greifen wir gar nicht soweit: selbst kleine Entwicklungsprozesse in der Welt, die für sich genommen zum Teil katastrophale lokale Resultate zur Folge haben, werden von uns nicht als reale „Bedrohung“ für uns persönlich aufgefasst, weil sie nicht uns bedrohen. Unsere Aufmerksamkeitsintensität nimmt rasch ab und wir halten nur das für „natürlich“, was unser Umfeld direkt widerspiegelt. Ihr persönlicher Ereignishorizont ist der Gradmesser dessen, was für Sie persönlich relevant ist. Können Sie sich bewaffnete Massenaufstände, Kriegsrecht, Hunger und Vertreibung Ihrer Familie und sich selbst in Ihrem Wohnort vorstellen? Und zwar nicht abstrakt in 100 Jahren, wo es Sie ohnehin nicht mehr tangieren würde, sondern z.B. beginnend ab morgen? Nein, können Sie nicht, halten Sie für völlig abwegig. Wir haben Probleme, aber die sind harmlos, werden sich niemals zu dem entwickeln können, aus dem solche Katastrophen entspringen können. In Afrika? Ja. Hier in Europa? Weniger wahrscheinlich? In Hamburg, Berlin, München? Nein, unwahrscheinlich.

Doch selbst bei Umweltkatastrophen reagieren wir mitunter so. Wir wissen, was passieren könnte, sind dann aber hoffnungslos überfordert, wenn es tatsächlich eintritt. Die USA mussten als größte Volkswirtschaft der Welt ausländische Hilfe beantragen, als New Orleans 2005 vom Hurrikan Katrina unter Wasser gesetzt wurde. Es war ein Ereignis, was nicht hätte überraschen dürfen, es war de facto eine Überschwemmung mit Ansage und doch waren die reiche und vernehmlich gut organisierte USA-Wirtschaft mit ihrer Logistik und ihrer Katastrophenplanung auf ein solcher Ereignis nicht vorbereitet. Oder Tschernobyl bzw. Fukushima in Japan – beides Ereignisse, welche statistisch nicht hätten vorkommen dürfen und für die es dann kaum funktionierende Gegenmaßnahmen gab, weil der jeweilige Ereignishorizont der Menschen und Verantwortlichen dort vor Ort diese Option nicht „auf dem Radar“ hatten.

Jetzt weniger drastisch: Sie hören von Verlusten anderer. Sie lernen, was man dagegen tun kann, tun muss. Aber mal ganz ehrlich … sind Sie mental darauf vorbereitet, dass es Sie treffen könnte? Sie haben ein Plan für Ihren Handelstag, Sie haben einen Plan für Ihren Handel, Sie haben eine Idee, was Sie machen wollen, Sie definieren sich sogar ein Einstiegsszenario. Und jetzt wieder ehrlich: fokussieren Sie sich eher auf die zu erwartende positive Entwicklung Ihres Trades? Ja, Sie setzen einen Stopp-Kurs, aber gehen Sie im Geiste das Negativ-Szenario durch? „Träumen“ Sie davon, den Verlust bei Erreichen des Stopp-Kurses zu ziehen? Oder doch eher vom Gewinn Ihrer Position? Von dem angenehmen Gefühl, welches sich breit macht, wenn sich die Position so entwickelt, wie sie soll? Auf welche Richtung richten Sie Ihren Ereignishorizont aus? Das wird noch krasser, wenn Sie „Handeln an der Börse“ als Hobby verstehen und damit die Gefahr eines Verlustes zeitlich seltener auftritt, weil Sie nicht jeden Tag immer wieder mehrfach mit der Verlustwahrscheinlichkeit konfrontiert werden, wie ein aktiver Day-Trader, dessen Ereignishorizont den Verlust als mögliche Komponente zwangsläufig deutlicher auf dem Schirm hat.

Die Rolle der Verantwortung

Und es kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu: die Rolle der Verantwortung. Es ist immer leichter, die Verantwortung für den Eintritt eines negativen, unbequemen Ereignisses von sich zu schieben. Das gilt für „das Große“, wie auch für „das Kleine“. Umweltforscher sehen das größte Problem in der Bewältigung der Aspekte, welche den Treibhauseffekt verursachen und beschleunigen darin, dass es unglaublich schwer ist, den Regierungen und Menschen heute Zugeständnisse abzufordern, für Ereignisse und Folgen, welche sie persönlich unter Umständen gar nicht zu verantworten haben und deren Wirkung erst in 50 oder 60 Jahren zu spüren sein wird, was die Verantwortlichen heute vielleicht nicht mehr erleben. Im „Kleinen“ ist die Verantwortungsfrage ähnlich. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Geld. Ist es da nicht außerordentlich schmerzhaft, wenn der „Schuldige“ in diesem Ereignis Sie selbst sind? Es ist einfacher auf einen Fehler zu reagieren, der in der Verantwortung eines anderen liegt. Wie einfach ist es, einer Handelsempfehlung zu folgen, weil die „Verantwortung“ bei dem Empfehlenden liegt. Dieses Denkschema passt zu unserem menschlichen „Ereignishorizont“. Geht der Trade daneben, haben Sie etwas, auf welches Sie die Enttäuschung projizieren können. In dem Moment, wo dieser Aspekt ausfällt, weil es keinen externen Verursacher gibt, tritt der emotionale „Ausnahmefall“ ein. Wir selbst sind verantwortlich für ein Ereignis, welches so nicht vorgesehen war.

Ich komme zurück auf unsere falsch aufgebaute Position in Spanien, im ersten Quartal 1996. Der spanische Optionsmarkt war zu dieser Zeit „sehr dünn“, eine Position aufzubauen, war vergleichsweise einfach. Diese wieder zu verkleinern, gestaltete sich mitunter zu einem echten Problem. Diesen Aspekt nicht beachtend, da der spanische Optionsmarkt im Jahre 1996 auch noch vergleichsweise jung war und uns auch entsprechende Erfahrungswerte fehlten, machten wir unseren ersten großen Fehler.

Fehlerdefinition

Fehler 1: wir / ich hatte(n) bis etwa einen Monat vor den Wahlen allgemeine Erfahrungen, wie sich Volatilitäten an Terminmärkten entwickeln. Somit sah unser / mein Ereignishorizont nur eine bestimmte Volatilitätsspanne als „möglich“ vor, alles darüber hinaus galt als „unwahrscheinlich“. Die Volatilitätsparameter der Optionen, besonders in den out oft he money Calls stiegen auf ungewöhnlich hohe Niveaus, was diese Optionen verteuerte. Da wir diesen Effekt als „ungewöhnlich“ interpretierten, was in unseren Bewertungsmodellen in dieser Form nicht vorgesehen war, weil es noch nie im Vorfeld aufgetreten ist, verkauften wir auf diese hohen Preise hin und erzielten beeindruckende Buchgewinne. Wir wussten zwar, dass sich damit nach oben hin gewaltige Risiken aufbauten, erwarteten aber, dass die Volatilitätsparameter wieder sinken werden (sich normalisieren werden) und damit die Preise der Calls fallen und wir zu niedrigeren Volatilitäten eindecken könnten.

Fehler 2: Der steigende IBEX schob sich im Kurs den geschriebenen Basispreisen entgegen (damit hatten wir nicht gerechnet), was die Entwicklung der Parameter in einer Form hebelte, die bei einer bestimmten Positionsgröße zunehmend schwer zu handeln ist. Wir agierten nicht mehr, wir wurden zunehmend in die Position des Reagierens gedrückt. Es wurde die Frage diskutiert, ob wir die geschriebenen Calls zu „völlig überhöhten Preisen“ zurückkaufen sollten. In einem solchen Falle hätten wir etwa das Doppelte von dem verloren, was wir ursprünglich an Buchgewinn erzielt hatten. Hätten wir dies getan, weil wir uns vielleicht eine klare Reißleine definiert haben (was wir nicht hatten), wäre der Verlust vielleicht schmerzlich, aber nicht so desaströs geworden. Wir haben es nicht getan, es passte nicht in unseren Ereignishorizont. Zudem wollten wir den Verlust nicht nehmen (der schon längst eingetreten war). Sehen Sie auf was ich hinaus will? Wir realisierten nicht, dass hier bereits ein Prozess im Gange war, welcher ein Niveau erreicht hatte, dass man nur noch mit Konsequenz aus der Sache gekommen wäre. Wir haben die im Nachhinein offensichtlichen Warnsignale nicht gesehen oder wollten sie nicht sehen. Zudem wurde ein fiktiver Schuldiger gesucht, nämlich ein Modell an dem wir uns orientierten.

Fehler 3: In der Woche vor der Wahl hatte sich der IBEX auf ein Kursniveau geschoben, welches mit den Modellen und Erwartungshaltungen der Analysten nicht mehr übereinstimmte. Spätestens jetzt hätte man klipp und klar die Position zerschlagen und abbauen müssen, selbst unter der Tatsache, dass der Markt so dünn war, dass eine Positionsauflösung nur mit äußersten Schmerzen zu realisieren war. Aber diese Schmerzen wären noch immer geringer gewesen, als dass was der Montag der Folgewoche uns brachte. Wir hielten uns wider besseren Wissens an den Modellrechnungen und Analysen derjenigen fest, die es von Berufs wegen hätten „wissen müssen“. Seit diesem Ereignis sage ich immer wieder: eine Analyse ist nur eine Arbeitsthese!! Diese muss begrünbar und nachvollziehbar sein. Aber eine gute Analyse braucht einen Ausstiegspunkt. Jeder noch so gute Analyst kann auch nicht hellsehen. Er kann nur mit den beschränkten Daten, die ihm zur Verfügung stehen, mit den Modellen und Arbeitsmitteln, welche er nutzt, seinen Erfahrungen und seinem Wissen ein Szenario entwickeln, welches eintreten kann, wenn die Prämissen, in deren Rahmen die Analyse gilt, ihre Gültigkeit wiederum beibehalten. Und da jeder gute Analyst weiß, dass das nicht garantiert werden kann, muss er Ausstiegsszenarien benennen. Es ist keine Schande zu sagen: „Ganze Abteilung kehrt, ich habe mich geirrt“, ein guter Analyst muss das sagen, wenn es soweit ist. Wir haben diesen Aspekt nicht sehen wollen, wir wollten, dass die Modelle stimmen, auch wenn (a) das Chance / Risiko-Verhältnis im Grunde nicht mehr stimmte und (b) die Szenarien, innerhalb derer die Position schadlos geblieben wäre, sich nummerisch minimierten. Am Ende hieß es nur noch: wenn A passiert, stehen wir super da und realisieren unsere Buchgewinne. Wenn B und C und D eintritt, dann gnade uns Gott.

Und damit nahm die Sache ihren Lauf.

Was hätten wir anders machen sollen und was sollte / muss man heute machen?

(1) Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir Menschen nur im Rahmen unseres Ereignishorizontes halbwegs sicher agieren können. Da wir keine notorischen depressiven Wesen sind, verdrängen wir negative, hemmende Aspekte oft. Das Aussitzen wollen von Problemen ist kein seltenes Phänomen, sondern liegt in unseren Genen. Wir hätten und müssen uns heute vor Augen halten, dass es notwendig ist, seinen Ereignishorizont im Handel so zu eichen, dass wir Verluste im Vorfeld visualisieren. Ich sage es ganz klar: DENKEN SIE NICHT AN IHRE MÖGLICHEN GEWINNE, SPIELEN SIE IHR MÖGLICHES VERLUSSTSZENARIO IMMER UND IMMER WIEDER IM KOPF DURCH. Sie müssen es mehrfach durchdacht haben, dass Sie einen konkreten Verlust realisieren werden, wenn eine konkrete Situation (nämlich Erreichen des Stopp-Kurses oder fehlende Dynamik) eintritt. Trainieren Sie Ihren Ereignis- und Erfahrungshorizont dahingehend zu erweitern, dass ein Verlust nichts „böses“ und vor allen Dingen nichts „ungewöhnliches“ ist.

(2) Verfallen Sie niemals der Bequemlichkeit, sich an Aussagen Dritter, egal wie vermeintlich gut der- oder diejenige auch sein mag, zu heften und vor allen Dingen nicht wieder loszulassen. Die Aussagen und Einschätzungen von guten Analysten sind notwendig. Man braucht diese, um einen Rahmen zu haben, innerhalb dessen man selbst ein eigenes Arbeitsgerüst entwirft. Aber bedanken Sie: kein einziger Analyst dieses Planeten weiß, was der Markt wirklich machen wird. Er kann auf seiner Herangehensweise und seiner Erfahrungen hin ein Szenario entwickeln, welches der Wahrheit nahe kommen kann, aber am Ende bleibt es eine Hypothese. Niemand auf dieser Welt kann Ihnen seriös sagen, der Markt wird diese oder jene Marke erreichen. Das weiß niemand. Man kann nur sagen, unter dieser oder jener Ausgangslage und basierend auf der Prämisse A bis D, ist die Eintrittswahrscheinlichkeit bisher so oder so groß, dass genau das wieder eintritt. Und wenn man das insoweit schon eingrenzen kann, dann ist man gut. Mehr geht nicht. Und wenn Ihnen dann noch klar ist, ab wann und wo das Szenario nicht mehr gilt, ist das Ganze noch besser. Wir hätten damals rechtzeitig erkennen müssen, dass das Modell in seinen Parametern nicht mehr galt. Wir haben es nicht sehen wollen.

(3) Warum wollten wir es nicht sehen? Weil wir hofften, ohne Verlust aus der Sache herauszukommen. Wir hätten mit der Position schon nicht mal mehr zusätzliche Gewinne machen können. Im Idealfall hätten wir die Buchgewinne nur realisiert, aber eine Szenariospielerei war schon längst nicht mehr möglich. Wir haben es zwar erkannt, wir wollten es aber nicht wahr haben. Heute sage ich: Verluste sind ein Muss, man muss Verluste machen, denn nur aus Verlusten können Sie lernen. Verluste sind solange keine Fehler, wie Sie diese im Rahmen einer klar durchgeführten Strategie machen. Hatte Ihre Strategie Sinn und war diese durchdacht, haben Sie alle Risikoparameter eingehalten, dann war der Fehler ein guter Fehler. Dann hat Sie dieser Fehler weiter gebracht, er war ein Freund. Gewinne sind platt, aus Gewinnen lernen Sie nichts. Gewinne machen geistig träge. Verluste helfen Ihnen weiter, sofern Sie sich an die Regeln halten.

Ich kann Ihnen nur raten, sich von Verlusten nicht demotivieren zu lassen. Würden Kleinstkinder jedes Mal resignieren, wenn sie beim Laufen Lernen hinfallen, würden wir alle heute noch auf allen Vieren durch die Gegend krabbeln. Betrachten Sie Verluste auch nicht als einen persönlichen Angriff auf Ihre Person, sondern als eine neutrale und völlig emotionslos ausgestellte Quittung auf einen Trade, der nicht so lief wie er sollte.

Ich versichere Ihnen, wenn Sie sich in jeder Hinsicht um Ihre Verluste kümmern, diese behandeln als das, was sie sind (nämlich die notwendigen Kosten Ihrer Handelsunternehmung) und sich konsequent an Ihr Regelwerk halten, werden die Gewinne kommen und die Verluste schließlich überbieten. Gute Händler waren zu Beginn ihrer Karriere bereits „gut“, wenn es ihnen gelang, bei aktivem Handel über längere Zeit hinweg ohne Verlust aus dem Markt zu gehen. Von Gewinnen redete niemand; es ging darum, kein Geld auf Dauer zu verlieren. Wenn Ihnen das gelingt, dann sind Sie gut und auf dem besten Wege, auf Dauer sehr gut zu werden.

Und noch ein letzter Hinweis: über Sie Demut gegenüber dem Markt und dem, was Sie dort tun. Nehmen Sie die Sache selbst in die Hand und stehen Sie sich selbst gegenüber ehrlich Ihre Trading-Fehler ein. Nirgendwo wird Überheblichkeit, Disziplinlosigkeit, Planlosigkeit und Selbstüberschätzung so schnell und hart bestraft, wie an der Börse. Die Börse ist wahrscheinlich der letzte gerechte Ort auf dieser Welt.

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Über den Experten

Uwe Wagner
Uwe Wagner
Technischer Analyst und Trader

Uwe Wagner arbeitete bereits während seines Wirtschaftsstudiums als Maklergehilfe an den Börsen in Berlin, Wien und Madrid. 1991 trat er dann in die Deutsche Bank AG ein, wo er eine fundierte Ausbildung im Wertpapier- und Derivatehandel erhielt – in Frankfurt/Main sowie in Chicago im International Trading Institute unter dem bekannten Warenhändler Toni Saliba. Innerhalb der Deutschen Bank AG durchlief Wagner diverse Etappen im Handelsbereich. So betreute er als DTB Market Maker zunächst diverse Werte, verantwortete anschließend den Options- und Future-Handel in der Deutsche Bank S.A. in Madrid und mehrere Jahre die spekulative Verwaltung von Teilen des Eigenkapitals der Bank über DB Advisor. Wagner baute innerhalb der Deutsche Bank AG das damals erste Internet-Tool für Technische Marktanalysen (dbS-Trade) auf und führte den systembasierten Handel in Future-Märkten. Sein Schwerpunkt liegt seit über 20 Jahren auf dem FDAX und dem Bund-Future-Markt, den er täglich analytisch seziert, um daraus Handelsszenarien zu entwickeln und diese dann auch aktiv umzusetzen. Seit 2003 lebt und arbeitet Wagner in Hamburg. Uwe Wagner ist aktiv im FDAX und Bund-Future tätig.

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