Kommentar
08:53 Uhr, 27.06.2023

Sind die Notenbanken schon wieder zu spät dran?

Die wichtigsten Zentralbanken ignorierten die explodierende Inflation, bis es zu spät war. Nun spricht vieles dafür, dass sie auch auf den Rückgang der Inflation viel zu spät reagieren.

Am Montagabend begann das jährliche EZB-Notenbankforum im malerischen Ferienort Sintra in Portugal. Ähnlich wie das jährliche Treffen der US-Notenbank Fed in Jackson Hole im Sommer taugt auch das Treffen in Sintra als Gradmesser dafür, wie die Währungshüter weltweit die aktuelle Situation einschätzen. Highlights des bis Mittwoch gehenden Treffens sind eine Rede von EZB-Präsidentin Christine Lagarde heute um 10.00 Uhr und eine Diskussionsrunde am Mittwochnachmittag, an der neben Lagarde auch Fed-Chef Jerome Powell und die Notenbankchefs aus Japan und Großbritannien teilnehmen werden.

Nach der Begrüßung durch EZB-Präsidentin Christine Lagarde wurde die erste Rede in Sintra am Montagabend von Gita Gopinath, der Vizechefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), gehalten. Gopinath ging in ihrer Rede auf "drei unbequeme Wahrheiten" der Geldpolitik ein, denen die Notenbanken aus ihrer Sicht ins Auge sehen müssen: Es dauere zu lange, bis die Inflation wieder auf das Ziel von 2 % sinke, es könnten sich Konflikte zwischen den Zielen der Preisstabilität und der Finanzstabilität ergeben und die Notenbanken müssten in der Nach-Corona-Zeit damit rechnen, dass die Inflation generell höher liegen werde als vor der Pandemie.

Besonders Gopinaths Einschätzung, dass es zu lange dauere, bis das Inflationsziel von 2 % wieder erreicht wird, hat es in sich. Denn Gopinath wollte damit nicht etwa die viel zu langsame Reaktion der Notenbanken auf die anfänglichen Preisschocks im vergangenen Jahr kritisieren, sondern sprach sich mit Blick auf die Zukunft für eine Fortsetzung der Zinserhöhungen aus, selbst wenn das Wachstum darunter leiden sollte. "Dies bedeutet, dass die Zentralbanken, einschließlich der EZB, weiterhin entschlossen sein müssen, die Inflation zu bekämpfen, trotz der Gefahren eines schwächeren Wirtschaftswachstums", sagte Gopinath in ihrer Rede.

Die Rede zeigt, dass die Notenbanken nach der verzögerten Reaktion auf die explodierende Inflation nun auch auf die sich abschwächende Inflation (Disinflation) zu spät reagieren könnten. Dieser Eindruck ergibt sich auch, wenn man statt der offiziellen Inflationsdaten, die immer erst mit einer gewissen Verzögerung auf eine Veränderung der Bedingungen reagieren, Echtzeitindikatoren der Preisentwicklung betrachtet.

US-Inflationsrate schon fast wieder am 2 %-Ziel

Die folgende Grafik vergleicht die offizielle US-Inflationsrate mit einem Echtzeitindikator, der von Truflation.com berechnet wird. Bis zum Jahreswechsel 2022/2023 lag die offizielle Inflation niedriger als die Echtzeitindikation, inzwischen ist aber die Echtzeitindikation deutlich unter die offiziellen Daten gefallen.

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Während die offizielle US-Inflationsrate zuletzt (im Mai) bei 4,0 % lag, zeigen die Echtzeitindikationen für Ende Juni nur noch eine Inflationsrate von 2,46 % an. Damit wäre das Fed-Ziel von 2 % schon fast wieder erreicht. Da die Wirtschaft immer erst mit einer erheblichen Verzögerung auf Änderungen der Geldpolitik reagiert, dürfte die US-Notenbank Fed gut beraten sein, die Zinsen solange nicht weiter zu erhöhen, bis die bereits erfolgten Zinserhöhungen ihre Wirkung voll entfaltet haben.

In der Eurozone sieht die Situation noch etwas anders aus, schließlich hat die EZB noch zögerlicher als die Fed auf die Preisschocks reagiert. Mit 6,1 % lag die (offizielle) Inflationsrate in der Eurozone im Mai noch immer drei Mal so hoch wie das EZB-Ziel von 2 %, zudem liegen die Zinsen in der Eurozone noch rund einen Prozentpunkt niedriger als in den USA. Hier spricht vieles dafür, dass weitere Zinserhöhungen angemessen sein dürften, allerdings sollte auch die EZB darauf achten, den Bogen nicht zu überspannen.

Wozu die drastischen Zinserhöhungen führen können, zeigt ein Blick nach Großbritannien, wo viele Hauskäufer wegen gestiegenen Zinsen Gefahr laufen, ihre Hypothekenkredite nicht mehr bedienen zu könnnen. So warnte der Think Tank NIESR am Montag davor, dass durch die jüngste Zinserhöhung der Bank of England rund 1,2 Millionen Haushalte (und damit rund 4 % aller Haushalte) bis Jahresende ihre Ersparnisse komplett aufbrauchen müssten, um die gestiegenen Hypothekenzinsen zahlen zu können. Dies verdeutlicht, dass die Folgen zu drastischer Zinserhöhungen nicht unterschätzt werden sollten.

Fazit: Nachdem sie viel zu zögerlich auf die explodierende Inflation reagiert haben, laufen die Notenbanken nun Gefahr, auch auf die Disinflation zu zögerlich zu reagieren. Sollten die Zinsen zu lange zu hoch bleiben, könnte ein tiefer Konjunktureinbruch drohen. Bremsspuren durch die stark gestiegenen Zinsen zeigen sich bereits an zahlreichen Stellen, etwa bei den US-Regionalbanken oder an den Immobilienmärkten.

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