Kommentar
22:00 Uhr, 01.09.2008

Potemkinsche Dörfer ?

Erwähnte Instrumente

  • Gold
    ISIN: XC0009655157Kopiert
    Aktueller Kursstand:   (JFD Brokers)

ABS, ABCP, ARM, CDO, CDS, CLO, CMBS, CMO, CP, MBS, RMBS, ...

Was um Himmels willen ist denn das, werden Sie sich fragen. Bei dem ganzen Buchstabensalat bekommt man ja Kopfschmerzen. Mir läuft jedenfalls ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich diese geheimnisvollen Abkürzungen mit zwei bis vier Buchstaben vor mir sehe.

Welche Möglichkeiten bieten sich also nun für „Otto Normalverbraucher“ diese „Buchstabensuppe auszulöffeln“ und diesem mystischen „Finanzkauderwelsch“, der in der jüngsten Vergangenheit für so viel Kummer auf dieser (Finanz-)Welt gesorgt hat, auf den Grund zu gehen ?

1. Möglichkeit: Sie benutzen das Internet, um sich entsprechend schlauer zu machen.

2. Möglichkeit: Sie schmökern online in diversen Finanzglossaren.

3. Möglichkeit: Sie kaufen und lesen diesbezügliche Bücher, um Ihr Wissen zu vertiefen.

Vermutlich gibt es noch eine ganze Menge anderer Möglichkeiten herauszufinden, was diese ominösen Begriffe bedeuten. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit jedoch auf eine Möglichkeit lenken, die naheliegend sein könnte, nämlich ...

4. Möglichkeit: Sie gehen ganz einfach zu einer Bank Ihres Vertrauens (also hoffentlich Ihrer Hausbank *ggg*) und fragen um die Bedeutung des Buchstabensalates. In Finanzfragen scheint diese Vorgangsweise auf der Hand zu liegen. Sie haben bereits eine Vorahnung von dem was jetzt kommt ? Nun, bevor ich auf diese vierte Möglichkeit näher eingehe, möchte ich Ihnen gerne eine kleine Anekdote schildern:

Eines Tages ging ich frohen Mutes und retrospektiv betrachtet wohl auch etwas naiv in eine naheliegende Bankfiliale4, um mich prinzipiell und unverbindlich über Goldzertifikate zu erkundigen. Eine sehr nette, ältere Dame (das Schild auf ihrem Kostüm wies sie sinngemäß als „Kundenberatung – stv. Leiterin“ aus) fragte mich nach meinem Wunsch. Also trug ich meinen simpel gestrickten Wunsch nach Informationen über Goldzertifikate vor. Nach endlosen 5 Sekunden und einem mehr als entgeisterten Blick die bange Frage:

Zertifikate ? ... Was meinen Sie mit Zertifikaten ? ... Urkunden vielleicht ? Ähhm, ach ja ... . Ganz klar, dass mich dies nicht wirklich befriedigt hat !

Sie können nun einwenden, dass mich die Dame akustisch vielleicht schlecht verstanden hat. Möglich. Von Zertifikat auf Urkunde zu schließen ist ja nicht gar so ein weiter Weg.

Auch möglich. Mit Sicherheit ist sie ein armes „Bankwesen“5. Unmöglich kann sie sich bei den geschätzt 19.789 verschiedenen Produkten der Bank – geschweige denn im globalen Finanzsystem – exakt und umfassend auskennen. Richtig. Aber einmal Hand aufs Herz: wenn Sie zum Fleischer (Metzger) Ihres Vertrauens gehen und er „Fleisch von der Pute“6 nicht kennt – wie glaub bzw. vertrauenswürdig wäre er noch für Sie ?

Kehren wir also von dieser kleinen und hoffentlich lehrreichen Anekdote zu unserer vierten Möglichkeit zurück. Wir waren beim eingangs erwähnten Buchstabensalat und wollten mit der Mystik dieser Begrifflichkeiten ein für alle mal aufräumen. Sie haben ein bisschen Zeit und möchten sich amüsieren ? Dann gehen Sie doch in eine Bankfiliale ihrer Wahl und fragen eines der dort „herumgeisternden Wesen“7 nach der exakten Bedeutung dieser Wortkürzel. Wenn Sie absolute Ratlosigkeit und Hilflosigkeit spannend und unterhaltsam finden, sind sie an dieser Adresse genau richtig. Schon nach kurzer Zeit wird dieses Wesen nach Luft und einem Telefonjoker á la Armin Assinger (Österreich) bzw. Günther Jauch (Deutschland) japsen. Ein wahrhaft königliches Vergnügen, kann ich Ihnen sagen.

4 Die Bank spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Nur soviel: es war eines der größten europäischen
Kreditinstitute.
5 Vor meinem geistigen Auge tauchte kurzfristig das Wort „Bankbeamtin“ auf. Es ist aber schnell wieder
verschwunden. Ich entschied mich für den Begriff „Bankwesen“, was leider nicht minder abfällig klingt.
6 Auch wenn diese Fleischsorte durch eine geringe Nachfrage gekennzeichnet sein sollte. Er müsste sie trotzdem
zumindest kennen.
7 Ich kann es einfach nicht lassen, ich weiß.

Und wenn Sie dem Ganzen noch eine Krone aufsetzen wollen, dann erkundigen Sie sich gleich nach der Bestimmung des inneren Wertes dieser „Wunderwaffen“ der modernen Finanzwirtschaft. Spätestens jetzt wird sich die Hilf- bzw. Ratlosigkeit in einen triefend nassen Schweißausbruch bei Ihrem Gegenüber verwandeln.

Ja, Sie können wiederum einwenden: Er / Sie kann doch nicht über alles Bescheid wissen. Er / Sie ist ja gar nicht zuständig, da gibt es doch Spezialisten dafür. Aber das hatten wir ja alles schon (siehe Anekdote), oder ?

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Dieser – mit einer symbolischen Anekdote ausgestattete – Artikel richtet sich nicht gegen „normale“ Bankangestellte, die nach bestem Wissen und Gewissen tagtäglich Ihren Job erledigen.8 Dies ist keinesfalls meine Intention.

Vielmehr kritisiert und verurteilt er die dekadente Hochfinanz und deren Unvermögen (Inkompetenz) bezüglich der Ermittlung des inneren, wahren Wertes bzw. des rechtzeitigen Erkennens des Wertverfalles sehr komplexer, im Regelfall verbriefter, strukturierter bzw. derivativer Produkte, deren Implosion (Stichwort: Marktbewertung) das weltweite Finanzsystem gerade in seinen Grundfesten erheblich erschüttert.

Noch schlimmer jedoch als dieses Unvermögen (Inkompetenz) ist ein ganz gezieltes „Launchen“ solcher Konstruktionen durch die Finanzindustrie9 anzusehen (also Vorsatz !), um Risiken bequem unters Volk zu bringen oder an das große Kundengeld zu kommen. Ein Schelm, wer da Böses denkt.

Apropos Derivate. Nicht umsonst bezeichnete die amerikanische Investorenlegende Warren Buffet diese per se in markanter Art und Weise als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“10. Immer wieder hat dieser Mann in der Vergangenheit seinen „guten Riecher“ bei Investments bewiesen11 und auch diesbezüglich ist seine harsche Kritik nicht von der Hand zu weisen:

8 Daher sehen Sie mir bitte die Ironie und meinen Sarkasmus in diesem Artikel nach.
9 Interessant in diesem Kontext ist der Begriff FinanzINDUSTRIE. Warum mich dies so fesselt ? Mich würde
interessieren, wie viele verbriefte, strukturierte bzw. derivative Produkte wohl täglich weltweit emittiert werden.
Leider konnte ich diesbezüglich keine verlässliche Quelle auftreiben. Ich denke aber, wir würden nur so staunen,
denn es ist ob der Menge wohl wahrlich eine Industrie. Dem Erfindungsreichtum bei der Emission scheint hier
keine Grenze gesetzt zu sein und die zügellose Kommerzialisierung ist zu kritisieren.
10 Hierzu ein Artikel von Christopher Nachtweh v. 6.7.2007 „Investments wie Zeitbomben“ auf
http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,492381,00.html.
11 Wie sein Status als reichster Mann der Welt eindrucksvoll beweist (Stand: Mai 2008). Vgl. hierzu:
http://www.forbes.com/lists/2008/03/05/richest-people-billionaires-billionaires08-cx_lk_0305billie_land.html

„Weltweit hat sich das gehandelte Derivatevolumen von ca. 10 Billionen US-Dollar in 1990 auf ca. 160 Billionen US-Dollar in 2006 erhöht. Bis 2012 wird mit einer weiteren Verdopplung gerechnet.“12 Dies berichtete Berenberg Private Capital im April 2008.

160 Billionen USD ! Wie viele Nullen sind denn das eigentlich ? Moment ... 160 000 000 000 000 ... Eins, zwo, drei, vier, fünf ...

Aber was sind denn schon läppische 160 Billionen USD (Stand 2006) ? Die Deutsche Bank kommt am 21.7.2008 in einem Research Bericht auf ca. 404 Billionen USD an ausstehenden OTC-Derivaten (Zinsen, Aktien, Devisen) per Mitte bis Ende 200713.

Na also. 404 Billionen USD. Sie denken, dass ist das Ende vom Lied ? Weit gefehlt ! Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) diagnostiziert das ausstehende globale Volumen der unregulierten OTC-Derivate per Ende 2007 auf 596 Billionen USD14, wie auch die nachfolgende Tabelle15 darstellt:
Potemkinsche-Dörfer-Kommentar-Redaktion-GodmodeTrader.de-1

Zum anfänglichen, abstrusen Buchstabensalat kommt also auch noch eine ellenlange Zahlenwurst hinzu: 596 000 000 000 000. 596 + Zwölf Nullen.

12 Siehe hierzu: Berenberg Private Capital GmbH v. 25.4.2008 – Vermögensanlagen unter http://www.berenbergbank.de/fileadmin/assets/publikationen/boersenbrief/2008/080425_Boersenbrief.pdf 1
3 Vgl. Deutsche Bank Research v. 21.7.2008: EU-US-Finanzmarkintegration – die Arbeit hat erst begonnen, S.4
14 Vgl. http://www.bis.org/statistics/derstats.htm und weiter http://www.bis.org/statistics/otcder/dt1920a.pdf bzw. gleichlautend auf http://www.isda.org/
15 Entnommen von: http://www.econowars.com/service/archiv/karchiv-intrige.html

Tendenz: künftig (vermutlich) weiter steigend16, sieht man sich die Entwicklung seit 2003 an17:

Potemkinsche-Dörfer-Kommentar-Redaktion-GodmodeTrader.de-2
Potemkinsche-Dörfer-Kommentar-Redaktion-GodmodeTrader.de-3

Bleibt noch zu klären, wie sich hierzu im Vergleich die jährliche Weltwirtschaftsleistung darstellt: Diese betrug im April 2008 nach Berechnungen der Weltbank ca. 59 Billionen USD18.

Und jetzt bringen wir das Ganze auf den Punkt: Sofern alle angeführten Einschätzungen korrekt sind bzw. waren, sind lediglich ca. 10 %19 der weltweit ausstehenden OTC-Derivate durch tatsächliche Wirtschaftsleistung gedeckt. Nicht unbedingt üppig, finden Sie nicht ?

Bezüglich der restlichen ca. 90 % sollte man sich folglich systemkritische Gedanken u. a. über die Bewertung bzw. Werthaltigkeit des zugrundeliegenden Underlyings (des Basiswertes) und der Bonität des Gegenübers machen. Auch organisierter Missbrauch ist in diesem Zusammenhang denkbar, unterliegen diese Märkte doch nur geringer Regulierung20.

16 Als ein repräsentatives Beispiel kann hier der deutsche Markt dienen: http://www.deutscher-derivateverband. de/DE/MediaLibrary/Document/ddv_statistik_jsta_01_08_k.pdf bzw. http://www.deutscher-derivateverband. de/DE/MediaLibrary/Document/Statistics/MV_Dezember2007.pdf
17 Eigene graphische Darstellung.
18 Vgl. http://www.nachrichten.ch/detail/306353.htm. Im Jahr 2007 war diese gemäß Weltbank noch bei ca. 54 Billionen USD gelegen: http://siteresources.worldbank.org/DATASTATISTICS/Resources/GDP.pdf
19 Wohl eher weniger als 10 %, führt man sich das konstante Wachstum dieser Produktkategorie vor Augen.
20 Dieses Problem wurde bereits vor fast einem Jahrzehnt erkannt. Vgl. hierzu der Artikel „Geldwäscherei mit Derivaten“ aus der Neuen Zürcher Zeitung vom August 1999: http://www.wolfganghafner. ch/Dokus/Aus%20der%20Neuen%20Z%C3%83%C2%BCrcher%20Zeitung%20vom%2028.htm

Bei exotischen – und somit hoch komplexen – Derivatkonstruktionen (Stichwort: Erfindungsreichtum), kommt einem da schnell ein fragiles Kartenhaus bzw. einschlägige „Pyramidenspiele“ in den Sinn.21

Die methodisch angewandten Leverages (Hebelung des Eigenkapitals mittels Fremdkapital) der einschlägigen Finanzhäuser sind für konservativ orientierte Unternehmer oder andere Menschen mit gesundem Hausverstand sowieso nur eines: geradezu grotesk !

Ein repräsentatives Beispiel führt hierzu der Smart Investor an: „Die von Ihrem Können am meisten überzeugten Finanzartisten scheint es jedoch bei der UBS zu geben, wagte man sich dort sogar, das Eigenkapital um den Faktor 136 zu hebeln. Nach einem Wechsel im Management und einer hastig durchgezogenen Kapitalerhöhung reduziert sich das Risiko nun auf „nur“ noch 1:69.22“ Und dies ist nur ein exemplarisches Beispiel von vielen. Markus Städeli von der NZZ forderte in diesem Zusammenhang im Juni 2008 energisch: „Schluss mit Kasino-Banking.23

Der österreichische Kabarettist Karl Farkas (†1971) dürfte ob der daraus ableitbaren unersättlichen Profitgier zweifelsohne recht gehabt haben: „Beim Denken ans Vermögen leidet oft das Denkvermögen.“

Ich bekomme nun extreme Kopfschmerzen und muss an die Bankangestellte aus meiner kleinen Anekdote und an potenzielle Vorsätzlichkeiten bzw. Missbrauch denken. Mir läuft schon wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Der Angstschweiß steht jetzt mir auf der Stirn.25 Aber die Hoffnung auf eine bessere – „derivatfreie, unstrukturierte bzw. unverbriefte“ – Zukunft stirbt bekanntlich ja zuletzt.

Und wie sang schon der gute alte Bobby McFerrin in aufmunternder Art und Weise: „Dont´t Worry Be Happy“

21 Solche metaphorischen Vergleiche sind ebenfalls nicht neu. Bill Gross, Managing Director von PIMCO, verwendete zum Beispiel in seinem Investment Outlook vom Jänner 2008 die Begriffe „Pyramid Scheme“ ... „Chain Letters“ ... “Shadow Banking System”, also Pyramidensystem, Kettenbriefe bzw. Schattenbanksystem: ... „But today´s banking system ... has morphed into something entirely different and inherently more risky. Our modern shadow banking system craftily dodges the reserve requirements of traditional institutions and promotes a chain letter, pyramid scheme of leverage, based in many cases on no reserve cushion whatsoever.“ ... Quelle: http://media.pimco-global.com/pdfs/pdf/IO%20Jan_08%20WEB.pdf?WT.cg_n=PIMCO-US&WT.ti=IO Jan_08 WEB.pdf
22 Vgl. „Ein Hauch von Nichts“ von Daniel Haase (S. 6-12) in Smart Investor 7/2008
23 Vgl. http://www.nzz.ch/finanzen/nachrichten/schluss_mit_kasino-banking_1.759758.html
25 Meine Gedanken im Moment: 1. Die Raketen („launch“) sind gestartet ... 2. Die Worte von Warren Buffet („finanzielle Massenvernichtungswaffen“) ... 3. Ein Supergau ... 4. Gute Nacht !

...

Potemkinsche-Dörfer-Kommentar-Redaktion-GodmodeTrader.de-4

Sie erinnern sich hoffentlich noch an das obskure Buchstabengewirr. Sie können noch immer nichts damit anfangen ? Mein Artikel konnte kein „Licht ins Dunkel“ bringen und für restlose Aufklärung sorgen ?

Das ist auch nicht zwingend notwendig, denn sie machen doch hoffentlich einen instinktiven Bogen um jene Investmentvehikel, deren Greifbarkeit, Marktbewertung, Transparenz, Werthaltigkeit, o. ä., sich Ihnen nicht in jeder Beziehung erschließen. Sie möchten doch nichts mit potemkinschen Dörfern26 zu tun haben, oder ?

26Als Potemkinsches Dorf wird etwas bezeichnet, das fein herausgeputzt wird, um den tatsächlichen, verheerenden Zustand zu verbergen. Oberflächlich wirkt es ausgearbeitet und beeindruckend, es fehlt ihm aber an Substanz. (Quellen: http://de.wikipedia.org/wiki/Potemkinsches_Dorf bzw. auch http://lexikon.meyers.de/meyers/Potjomkin)

27 Siehe: http://affordablehousinginstitute.org/blogs/us/wp-content/uploads/imagespotemkin-village-small.jpg

Autor: Werner Willmann - w.willmann1@yahoo.de

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