Fundamentale Nachricht
11:25 Uhr, 24.07.2020

Krise führt zum Umdenken beim Wertpapier-Research

Im Expert Talk Nummer 10 aus der Serie „The Day after“ beleuchtet Monica Defend, Global Head of Research von Amundi, wie die Krise die Erforschung des Marktverhaltens über Anlageklassen hinweg verändert hat und was das für Anleger bedeutet.

„Als Folge von Covid-19 ist die Finanzwelt zunehmend komplexer, irrationaler und weniger linear geworden. Eine starre und statische Methodik bei der Analyse von Vermögenswerten und Unternehmen wird dem neuen wirtschaftlichen und finanziellen Gleichgewicht, das sich dynamisch in Wellen entwickelt, nicht gerecht. Wenn sich das Umfeld so massiv verändert, bedeutet das auch einen intensiven Lernprozess für die Forschung.

Ausgangspunkt für unsere veränderte Herangehensweise ist die Feststellung, dass gesamtwirtschaftliche Faktoren die Finanzmärkte durch die Krise hinweg stabilisiert haben. Fünf Faktoren werden unserer Auffassung nach auch weiterhin überaus wichtig bleiben: Wachstum, Inflation, Zinssätze, Geldpolitik und Liquidität. Aber die Art und Weise, wie sie bewertet werden, muss sich ändern.

In der Vergangenheit gab es Anlageideen, die von den Investoren, die ja das Risiko tragen, nicht vollständig verstanden wurden. Ein disziplinierter Top-Down-Ansatz, bei dem ein Faktor in seinen wechselseitigen Abhängigkeiten über die verschiedenen Anlageklassen hinweg bewertet wird, ermöglicht die Umwandlung eines spezifischen Risikos in eine klare Investitionschance.

Forschungsansatz und Systematik weiterentwickeln

Neu ist dabei, dass wir nun nicht-lineare Indikatoren aus der Sammlung großer Datenmengen (Big Data) analysieren, statt wie bisher die traditionellen Kausalzusammenhänge nach Makro-, Markt- und Mikro-Aspekten auszuwerten. Das Ziel ist, solche Risikofaktoren aufzuspüren, die für alle Anlageklassen gelten, und die die Märkte in Zukunft bewegen werden. So können die Asymmetrie und die Geschwindigkeit des aktuellen Umfelds verfolgt und die Prognosen entsprechend abgestimmt werden.

Daraus ergeben sich Antworten auf so wichtige Fragen, wie:

  • Werden sich die Präferenzen der Verbraucher strukturell verändern?
  • Wie schnell und synchronisiert wird die De-Globalisierung verlaufen?
  • In welchen Branchen werden Arbeitsplätze und Dienstleistungen ins Inland verlagert?
  • Wann werden sich arbeitsintensive Branchen, wie das Gastgewerbe, erholen?

Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, werden sich mittel- bis langfristig Produktivität und Wachstum entwickeln. Auch bei der Einschätzung der kurzfristigen Realität hilft es, strukturelle Makroprognosen durch die Analyse riesiger Mengen von Paneldaten zu unterstützen. Darum haben wir den Umfang unserer Untersuchungen auf beinahe 300 Anlageklassen ausgeweitet und können damit auch solche Bewegungen erfassen, die zwischen und innerhalb der einzelnen Asset Klassen stattfinden.

Der Einsatz lernender Systeme, die sich an ein sich veränderndes Umfeld anpassen können, hat sich dabei als vorteilhaft erwiesen. Anstelle von Stichproben werden spezielle finanzielle Ordnungen, auch Regime genannt, identifiziert, die die Anwendbarkeit maschinellen Lernens auf Investments immer weiter verbessert.

Auch die Zuordnung der Risikoexposition eines Portfolios im Verhältnis zu seinen Risikofaktoren bringt mehr Systematik in die Analyse. Dafür entwickelten wir ein spezielles Programm, das wir GREAT getauft haben. Die Abkürzung steht für Global Risks Exposure Attribution Tool. Beispielsweise spielt der zyklische Wechsel der Makrofaktoren eine herausragende Rolle, wie die Preisempfindlichkeit von Aktien aus Industrieländern zeigt: Von positiv in einer Periode der Desinflation oder Reflation wird sie in einer Periode der Hyperinflation negativ. Diese Verschiebungen sind spezifisch für eine Anlagenklasse, selbst innerhalb desselben Clusters, also Aktien, festverzinsliche Wertpapiere und Rohstoffe.

Faktorbasierte Vermögensallokation auch für traditionelle Anlageklassen

Um die Auswirkungen der fünf Faktoren in den einzelnen Anlageklassen zu erkennen, haben wir Basis- und Alternativszenarien ausgearbeitet:

Unser Basisszenario sieht nach der weltweiten tiefen und kurzen Rezession im ersten Halbjahr 2020 nun für das laufende Quartal einen kurzen Aufschwung vor. Die Rückkehr zum Vorkrisenniveau bis 2022 wird langsam und holprig. Für diese Erholung ist der Faktor Wachstum von größter Bedeutung. Die Preisdynamik sollte sich von der Desinflation auf ein Niveau unterhalb der Zielvorgaben der Zentralbanken entwickeln, mit möglichen Spitzen bei Komponenten wie etwa dem Öl.

Wir gehen davon aus, dass die ultralockere Geldpolitik anhält, was zu stabilen und niedrigen Zinssätzen weltweit führen wird. Eine mögliche Zinserhöhung würde durch die starke Nachfrage seitens der Zentralbanken abgemildert werden. Die Kaufprogramme der Zentralbanken und staatliche Garantien sichern die Ausfallraten, zumindest kurzfristig. Außerdem ist die Attraktivität niedriger Zinsen stärker als die komprimierten Renditeerwartungen.

Entwicklung der fünf Makrofaktoren im Basisszenario:

  • Wachstum steigt von niedrig auf mittel
  • Inflation bleibt niedrig
  • Verschuldung und Finanzpolitik steigt von mittel auf hoch
  • Nominalzinsen bleiben niedrig
  • Liquidität bleibt hoch

Entscheidend für die alternativen Szenarien sind die Entwicklung eines Impfstoffs und die Wirksamkeit von politischen Impulsen auf die Realwirtschaft.

Erwartungen an die Entwicklung von Makrofaktoren bewegen die Finanzmärkte stärker denn je. Um schnelle und flexible Antworten auf externe Schocks zu finden, muss sich das Research weiterentwickeln.

Wir glauben, dass wettbewerbsfähige Mischungen von Anlagen eher auf der Grundlage von Faktoren, als auf Basis einer traditioneller Risiko-Rendite-Kombination definiert werden müssen. Portfolios werden zukünftig stärker zielorientiert ausgerichtet sein, statt wie bisher auf Basis von Benchmarks.

Die Konzentration auf einzelne gesamtwirtschaftliche Risikofaktoren und die Kombination von Anlageklassen unter diesem neuen Rahmen sollten die Diversifizierung erleichtern, die Risikobudgetierung verbessern und schließlich die Portfoliorenditen steigern.“

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