Kommentar
10:48 Uhr, 03.11.2014

Kommt die Nordallianz?

„An armed attack against one or more of them in Europe or North America shall be considered an attack against them all.“

Der Globus wird derzeit neu geordnet. Einmalig an diesem seltenen Vorgang ist dabei die totale Vernetzung der Menschheit, sowie die riesige Menge an Liquidität im weltweiten Finanzsystem.

Diese Faktoren lassen den Schluss zu, dass sich Investoren in Zukunft vermehrt mit Machtpolitik auseinandersetzen müssen, weshalb ich auf meinem Guidants-Stream auch ab und an auch Geopolitisches einschiebe.

Ich will mir dabei nicht anmaßen, eine Welt, die außer Fugen gerät, erklären zu wollen, sondern es geht mir viel mehr darum, mögliche Konsequenzen der aktuellen Entwicklungen durchzudenken.

„Plans are worthless, but planning is everything“ hat Eisenhower gesagt, und Gleiches gilt natürlich auch für Spekulationen über die Zukunft: Natürlich wird alles anders kommen, aber die Vorbereitung auf das Unbekannte ist trotzdem unabdingbar.

In den letzten Tagen drangen nach Angaben der NATO mindestens 19 russische Militärflugzeuge, darunter strategische Langstreckenbomber tief nach Europa, teilweise bis nach Portugal, ein.

Zwar haben die Flugzeuge bei ihren Ausflügen keine nationalen Lufträume verletzt, aber trotzdem muss wohl nicht erst seit diesem aktuellen Vorfall die Narrative über den Beginn einer sanften Deeskalation bezüglich der Fehde zwischen Ost und West spätestens jetzt neu bewertet werden.

Phoenix aus der Asche

Als Lehre aus dem Kaukasuskrieg betreibt Moskau seit 2008 eine zügige Modernisierung seiner Streitkräfte, die seitdem relativ zur NATO wieder eine beeindruckende Schlagkraft aufgebaut haben.

Aus dieser neuen Position der Stärke scheint Russland nun seit einiger Zeit in immer schnelleren Abständen den Westen zu testen.

Im letzten Jahr beispielsweise, in der Nacht zum Karfreitag, simulierten zwei russische Langstreckenbomber und vier Jagdmaschinen den Angriff auf zwei Militärstützpunkte des bündnisfreien EU-Mitglieds Schweden, ohne dass dessen Abfangjäger in der Lage waren, die potentielle Bedrohung zu identifizieren.

Im Zuge der Ukraine-Krise hat die Häufigkeit dieser Versuchsballons stark zugenommen, und selbst das blockfreie Finnland hatte sich in diesem Sommer mit mehreren Luftraumverletzungen auseinanderzusetzen.

Und während beispielsweise 2010 nur 1 Kriegsschiff in der Umgebung von Lettland zu sichten war, konnten seit diesem Januar schon über 40 ausgemacht werden. Auch die Luftraumüberwachung wurde im entsprechenden Zeitraum sehr strapaziert und registrierte über 150 drohende Zwischenfälle, sogenannte „close incidents“. Vor vier Jahren lag deren Anzahl noch lediglich bei 5.

Im Nachbarland Litauen ist die Situation ähnlich. Insgesamt waren die Kampfjets, welche im Rahmen der NATO-Mission „Air Policing Baltikum“ die baltischen Lüfte kontrollieren, in diesem Jahr angeblich schon 68 Mal gezwungen zu starten.

Estland musste sich heuer nicht nur 5 Mal mit eingedrungenen Flugzeugen auseinandersetzen, sondern sah sich auch mit der Entführung des Geheimdienstoffiziers Eston Kohver am 5. September durch russische Special Forces einer sehr ernsten Situation gegenübergestellt.

Die Zahlen sind teilweise nur mit Mühe verifizierbar, aber laut offiziellen NATO Angaben stiegen im Jahresverlauf schon über 100 Mal Jäger in die Luft, weil russische Flugzeuge Probleme bereiteten.

Die genannten Beispiele sind keinesfalls erschöpfend, reichen aber aus um Fragen aufzuwerfen, deren Beantwortung im langfristigen Interesse des Anlegers liegen sollte.

Will der Kreml durch seine Manöver innenpolitisch punkten, oder bauen die russischen Piloten unter Ausnutzung von neuen finanziellen Spielräumen ihre immensen Trainingsrückstände ab? Die Reaktionen von Moskaus westlichen Nachbarn sind möglicherweise aufschlussreich.

Paradigmenwechsel in Skandinavien und dem Baltikum

Schweden richtet sich derzeit sicherheitspolitisch ganz neu aus, und ist mittlerweile sogar bereit die traditionelle Allianzfreiheit einzuschränken, indem man beispielsweise NATO-Truppen den Einsatz auf eigenem Boden gestatten will. Darüber hinaus wird die Beschaffung von neuem Gerät wie U-Booten und Kampfjets intensiviert, sowie der Verteidigungshaushalt um 12 % jährlich aufgestockt.

In Finnland kommt man zu einer ähnlichen Einschätzung der Bedrohungslage und plant die Militärkooperation mit Stockholm ,viel enger als noch in der Vergangenheit, zu verzahnen.

Die baltischen Staaten Lettland und Litauen haben jahrelang von der Friedensdividende gezehrt und ihre Landesverteidigung stark vernachlässigt. Über die nächsten Jahre wollen deshalb beide Länder ihren Verteidigungshaushalt mehr als verdoppeln, um wieder das NATO-Limit von 2 % der Wirtschaftsleistung zu erreichen.

Estland erfüllt zwar gegenwärtig die Vorgaben, rüstet sich aber aktuell verstärkt mit tragbaren Panzerabwehrsystemen aus, um einer materiellen Übermacht möglichst lange mit Guerillataktiken Widerstand leisten zu können.

Nervosität in Warschau

Interessant ist der Blick auf Polen. In Folge der Ukraine-Krise hat das Land angekündigt, seine Verteidigungsausgaben bis 2016 auf 2 % des Bruttosozialprodukts zu erhöhen. Gleichzeitig werden schon jetzt erste Trachen der 105 von Deutschland georderten Kampfpanzer des Typs Leopards bezogen, während bis 2022 die Kampfhubschrauber-Flotte signifikant verstärkt werden soll.

Des Weiteren plant Warschau eine Neustrukturierung seiner Streitkräfte und will Tausende seiner Soldaten an die bislang kaum besetzte Ostgrenze verlegen.

Es sind aber nicht nur die regulären Streitkräfte, die vom polnischen Verteidigungsministerium zügig verstärkt werden, sondern parallel dazu werden in hohem Umfang die riesigen Pools an irregulären Kräften, wie zum Beispiel der Heimatarmee AK aktiviert.

Warum unterscheidet sich die polnische Antwort auf den Konflikt in der Ukraine so sehr von den betont lässigen Reaktionen seiner westlichen Nachbarn? Ist die Nervosität übertrieben, oder beginnt Warschau hier Tail-Risiken einzupreisen?

Polnische Enttäuschungen

Polen wurde in seiner Vergangenheit von seinen europäischen Verbündeten mehrmals enttäuscht und konnte weder 1920 noch 1939 auf deren Unterstützung zählen.

Die USA hatten im Gegensatz dazu bisher ein gutes Ansehen, welches jedoch unter der Obama-Administration sehr gelitten hat.

In Verteidigungskreisen wurde jüngst die Meinung nach außen getragen, dass man in der Frage, ob Washington im Ernstfall zu seinen Versicherungen stehen würde auch eine Münze werfen könnte. Obama habe schon zu viele Hoffnungen geweckt, aber nie geliefert. Ein hochrangiger Experte verglich den Präsidenten sogar mit Chamberlain, der durch seine Appeasement-Politik mitverantwortlich für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieg war.

Diese Äußerungen hinter vorgehaltener Hand sind vielsagend, denn sie implizieren, dass wenn man selbst vom relativen Hardliner USA im Ernstfall eher wenig Substanzielles erwartet kann, es möglicherweise naiv wäre, zu viele Hoffnungen in die NATO in ihrer Gesamtheit zu legen.

Artikel 5

Ist in den polnischen, skandinavischen und baltischen Reaktionen der Schlüssel zur Erklärung der wirklichen Absichten des Kremls zu finden?

Die NATO ähnelt in gewisser Hinsicht einer Zentralbank. Ihre abschreckende Macht leiht sie sich hauptsächlich vom Respekt, den die Gegenspieler ihr, beziehungsweise Artikel 5, entgegenbringen.

Gelänge es Russland den Absatz über die Beistandsverpflichtung nachhaltig zu beschädigen, würde dies möglicherweise das Ende des Bündnisses in seiner heutigen Form bedeuten.

War die Ukraine-Krise also möglicherweise kein Höhepunkt im Kräftemessen zwischen Ost und West, sondern Auftakt zu einer Attacke, die in Wirklichkeit auf das NATO-Versprechen abzielt?

Der Waldai-Klub

Putin hat am 24. Oktober vor dem internationalen Diskussionsklub Waldai eine Rede gehalten, in welcher er seine Positionen, vor den versammelten Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern neu darlegte.

Zwei darin enthaltende Punkte stechen hervor:

1) Die alte Weltordnung ist gescheitert und in der Auflösung begriffen.
2) Russland ging als Verlierer aus dem Kalten Krieg hervor.

Beide Feststellungen, die zweifelsfrei den Tatsachen entsprechen, nimmt der russische Präsident zum Anlass, um auf eine Neuausrichtung der globalen Architektur zu drängen.

Putin verschwendet dabei keine Illusionen an eine gleichberechtigte, polyzentrische Welt, welche in Chaos und Instabilität enden müsse, sondern bietet sich dem Westen als Partner bei der Wiederherstellung von Sicherheit an.

Es ist anzunehmen, dass die Vorstöße ehrlich gemeint sind, denn weder der orthodoxe Osten noch der postmoderne Westen werden die existenziellen Herausforderungen der Zukunft, ohne den jeweils anderen bewältigen können.

Der russische Weg zur Nordallianz

Der einigende Faktor des Westens ist weder die Europäische Union, noch der Euro, sondern sein Militärbündnis, die NATO.

Gelänge es Moskau diese Phalanx auseinanderzudividieren, dann wäre das Riesenreich in einer Position, in welcher es zum ersten Male seit 1989 auf Augenhöhe die Welt neu verhandeln könnte.

Die Chancen dafür stehen gut, denn die Lehre aus dem Ukraine-Konflikt muss für Putin vor allem darin bestanden haben, dass er den Westen durch seine überlegene Art der Kriegsführung und durch den Willen jederzeit alles zu riskieren, beinahe nach Belieben vor sich hertreiben kann.

Der Griff nach dem Baltikum könnte sich dabei ähnlich dem Krim-Szenario auf einem so niedrigintensiven und subtilen Level abspielen, dass der Bündnisfall weder eindeutig rechtfertigbar geschweige denn politisch durchzusetzen wäre.

Kein NATO-Mitglied wäre bereit für innerbaltische Autonomiebestrebungen einen Atomkrieg zu riskieren. Putin weiß das, und so wird er den Westen möglicherweise früher oder später an seinen Tisch zwingen, um eine Nordallianz gegen neue Bedrohungen zu schmieden, denen auch Russland immer stärker ausgesetzt ist.

Für den Anleger

Einen Krieg zwischen Ost und West wird es nicht geben. Vielmehr steht am Ende der Achterbahnfahrt vielleicht sogar eine neue Allianz in Aussicht. Der Weg dorthin wird jedoch steinig verlaufen und Investoren sind möglicherweise gut beraten, die Entwicklung in Osteuropa engmaschig im Auge zu behalten.

Das beschriebene Szenario ist natürlich hochgradig spekulativ. Russland ist für den Westen eine undurchsichtige Blackbox. Entsprechend dazu sind auch deutlich negativere Entwicklungen nicht ausgeschlossen.

47 Kommentare

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  • Simon Hauser
    Simon Hauser Redakteur

    ​Ich denke dass Geopolitik immer emotions- und moralfrei diskutiert werden sollte. Ein Anleger will vor allem wissen wie sich Situationen weiterentwickeln könnten. Den Rest erfährt er aus der traditionellen und vor allem aus der angeblich „alternativen“ Presse.

    Ich versuche das bei meinen Beiträgen so gut es geht umzusetzen und den Apsekt „Meinungsbildung“ weitestgehend auszuklammer. Hoffe das gelingt ein wenig.

    18:02 Uhr, 04.11.2014
  • Otua
    Otua

    Putin füllt doch nur das Vakuum aus, das die Taube im weißen Haus geschaffen hat!

    Das eine demokratisch gewählte (Russland freundliche) Regierung in Kiew weg geputscht wird geht so natürlich ganz klar nicht.

    Da kann ich auch gut verstehen, dass die Russen sich gegen so etwas wehren.

    Putin ist zwar listig, jedoch sicher nicht klug und weise !

    Der mach sich und Russland doch eigentlich alles kaputt.

    Die Ukraine ist jetzt für Russland verloren, vielleicht gliedern sich noch die östlichen Provinzen an, aber der viel größere Rest der Ukraine wird Russland meiden.

    Auch alle anderen Nachbarn werden nach dieser Erfahrung sicher eher gegen Russland arbeiten.

    Anstatt einen prosperierenden Gegenblock zu den USA zu schmieden, hat Putin Russland wieder in einen Unrechtsstaat verwandelt und jetzt auch noch weiter in die Isolation geführt.

    So einem Regime schließt sich doch kein freiheitlicher Staat an.

    Im Gegenteil, gegen so etwas schließt man sich zusammen.

    Herr Putin hat in seinem ewig gestrigen Space noch überhaupt nicht realisiert,

    dass er mit so einer militant imperialen Politik den Westen zusammenschweißt und die

    USA kritischen/blockfreien Länder gegen Westen treibt.

    Die USA sind zwar pleite und kollabieren vermutlich deshalb irgend wann,

    haben aber zumindest die Führerschaft bei den neuen Technologien errungen.

    Denkt mal drüber nach, Apple, Microsoft,Yahoo,Google,Facebook,Amazon,Twitter,Ebay etc., - alle aus den USA.

    Und was hat Russland unter Putin denn auf die Beine gestellt ?

    (Ok, der Lada Niva hat jetzt endlich eine Servolenkung.)

    Überlegen ist Putin dem Westen nur an Entschlossenheit und der Westen muss endlich

    begreifen, dass Putin die Auseinandersetzung absolut haben will.

    Den ganzen Usern die im Gegensatz zu mir der Meinung sind, der Westen sei schlimm und

    Russland sei das gelobte Land, empfehle ich dorthin zu ziehen.

    Die Einbürgerung soll in Russland ja recht einfach sein,weil denen nämlich die Leute weg laufen.

    20:28 Uhr, 03.11.2014
    1 Antwort anzeigen
  • Investor
    Investor

    ​Ich glaube nicht, daß es Russland um das Aushebeln des Artikel 5 geht.

    Die NATO ist militärisch von den USA geführt. Hier ist Russland daran interessiert, daß die Europäer mehr Einfluß bekommen. Hier glaubt Russland stärkeren Einfluß zu haben. Aber dies ist nur ein kleiner Baustein in der Auseinandersetzung.

    Sowohl Russland (Nordatlantik) als auch China sind dabei mögliche Konfliktherde anzudeuten. Ich glaube einmal gelesen zu haben, daß nach 2000 die USA ca 3-4 Konflikte gleichzeitig handhaben können (Nordatlantik, Südchinesisches Meer, Arabien, Afghanistan/Pakistan und Afrika?). Hier geht es aus meiner Sicht darum, Ressourcen zu verstreuen.

    Diese Maßnahmen der SCO werden durch USA und dem Westen durch "Freiheitsbewegungen" von NGO gekontert. Wie dies geht hat man sowohl in der Ukraine als auch Hongkong gesehen. Dieses Jahr haben die USA Afrika als ihr großes strategisches Play angekündigt und positioniert sich damit gegen China. Beide versuchen die andere Seite durch Aufständiige zu schwächen.

    Die Aktionen der SCO und der USA muß man als Nadelstiche in der Auseinandersetzung um die Weltleitwährung verstehen. USA versucht den US Dollar via Freihandelsabkomnen zu sichern während China in allen bedeutenden Wirtschaftszentren Yuan Tauschzentren eröffnet. Seit den Buch "Currency War" wissen wir, daß zumindest die USA Währungen als strategisch militärisches Gut verstanden habe. China und Russland sollten dies ähnlich sehen.

    Ich glaube Ziel der SCO ist es, eine Spaltung der Einflußphären zu schaffen. China und Russland verwenden ihre Exportüberschüsse, um ihren Einfluß in China und Südamerika zu stärken. Die Gründung der Entwicklungsbank ist nur ein Zeichen. Dadurch wrd die Abhängigkeit von IWF und dem Westen reduziert. Mit den europäischen Sanktionen hat Russland die Gelegenheit gehabt, seine Geschäfte mit China und Südamerika zu intensivieren. Und Putin hat ja nur auf die Sanktionen des Westens "reagiert".

    Die Amerikaner haben nach dem Ende des kalten Krieges etwas vom Radarschirm verloren. Russlandexperten wurden nicht mehr unterstützt und die USA muß erst genügend Wissen wieder aufbauen bevor eine Gegenstrategie entwickelt werden kann..

    Dies ist meine persönliche Interpretation der veröffentlichten Fakten

    11:59 Uhr, 03.11.2014
    1 Antwort anzeigen

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Über den Experten

Simon Hauser
Simon Hauser
Redakteur

Simon Hauser hält für Guidants News die Stellung in North Carolina und sendet aus sicherer Entfernung zur Wall Street Echtzeitnachrichten in die Welt. Leider spielen die Kennzahlen der Wirtschaftsteilnehmer oft nur eine untergeordnete Rolle und werden dominiert von einem hysterischen Medienzirkus, punktundkommalosem Zentralbank-Blubber, und mysteriösen Algo-Kreaturen. Simon Hauser hat über die Jahre als aktiver Börsenteilnehmer ein krudes Interesse für diese Dinge, welche in einer perfekten Welt eigentlich keine Rolle spielen sollten entwickelt, und versucht (mit wechselndem Erfolg) zu ergründen was die Kurse wirklich treibt.

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