Inflation: Kehren wir in die 1970er Jahre zurück?
- Lesezeichen für Artikel anlegen
- Artikel Url in die Zwischenablage kopieren
- Artikel per Mail weiterleiten
- Artikel auf X teilen
- Artikel auf WhatsApp teilen
- Ausdrucken oder als PDF speichern
Die 1970er Jahre waren von einer beispiellosen Ölkrise geprägt, in der sich die Preise zwischen 1973 und 1980 mehr als verzehnfachten (Quelle: Bloomberg). Zum Vergleich: Das entspräche einer Steigerung des Preises für ein Barrel Öl von 60 US-Dollar (dem Durchschnittspreis der letzten fünf Jahre) auf über 600 US-Dollar. In den 70er Jahren war dieser Preisanstieg auf ein Versorgungsproblem zurückzuführen (Auslaufen des Bretton-Woods-Abkommens, Repressalien im Zusammenhang mit dem Jom-Kippur-Krieg 1973), das erhebliche Folgen hatte: Anstieg der Produktionskosten, Preiserhöhung bei gleichzeitiger Verringerung der Gewinne, Rückgang der Kaufkraft und damit auch der Nachfrage. Diese Krise führte dazu, dass Frankreich und andere Länder umfangreiche Programme zum Bau von Kernkraftwerken in Angriff nahmen, um ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern.
Das Stagflation-Problem, wie es in den 1970er Jahren auftrat, war also im Wesentlichen ein angebotsbedingtes Problem, das sich, wie wir weiter unten sehen werden, offensichtlich von der aktuellen Situation unterscheidet.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Situation in Amerika.
In den Vereinigten Staaten dürfte die Inflation bis Ende des Jahres über 6 % liegen (Quelle: Cacib) – ein Wert, der seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr erreicht wurde. Dieser Anstieg kann nicht allein auf die Verteuerung von Dienstleistungen zurückgeführt werden, da die Inflation in diesem Segment im Vergleich zum Szenario vor Corona relativ stabil ist. Andererseits ist der Anstieg im Wesentlichen auf eine Erhöhung der Energiepreise zurückzuführen und beruht hauptsächlich auf sehr günstigen Basiseffekten bei Öl. Die Ölpreise wurden nicht durch ein Angebotsproblem in die Höhe getrieben – die OPEC verfügt über überschüssige Förderkapazitäten – sondern durch einen starken Anstieg der Nachfrage. Die Inflation wurde auch durch ein neues Phänomen angeheizt: die Preissteigerung im Warenbereich (z. B. bei Fahrzeugen). Dieser Anstieg lässt sich sowohl durch Angebots- als auch durch Nachfrageprobleme erklären.
Eine Stagflation setzt zudem eine starke Abschwächung des Wachstums voraus. Dies ist in den Vereinigten Staaten derzeit nicht der Fall – die Wachstumsprognosen für 2022 liegen bei 4 %.
Die amerikanische Situation lässt sich also wie folgt erklären: Die Inflation ist hauptsächlich auf eine starke Nachfrage und ein tatsächliches Wachstum zurückzuführen, das über dem Potenzialwachstum liegt, was nicht einem Stagflationsszenario entspricht.
Wie sieht es mit der Inflation in der Eurozone aus? Die Inflationsrate dürfte Ende des Jahres 4,25 % erreichen (Quelle: Cacib). Ausschlaggebend dafür sind einmal mehr der Anstieg des Ölpreises pro Barrel sowie ein deutlicher Anstieg der Gas- und Strompreise. Während das Öl-Problem im Wesentlichen ein Nachfrageproblem ist, leidet der Gasmarkt unter erheblichen Versorgungsproblemen aufgrund des Streits zwischen Russland und der Europäischen Union über Nord Stream 2. Ein weiterer deutlicher Unterschied zu den USA besteht darin, dass die Wareninflation besser unter Kontrolle gehalten wird, sodass die Inflation in Europa schneller sinken dürfte als in den Vereinigten Staaten.
Beim Wachstum sehen wir das gleiche Szenario wie in den USA, wobei das tatsächliche Wachstum im Jahr 2022 das Potenzialwachstum um mehr als 4 % übersteigen dürfte (Quelle: Bloomberg). Diese Zahl könnte jedoch aufgrund der negativen Auswirkungen der steigenden Gaspreise auf das Wachstum nach unten korrigiert werden. Ein Stagflationsszenario könnte also eintreten, wenn die Gaspreise weiter ansteigen. Dies würde jedoch voraussetzen, dass sich die Entwicklung über mehrere Quartale hinzieht, was gegenwärtig unwahrscheinlich erscheint.
Das wahrscheinlichste Szenario scheint daher zu sein, dass sowohl die Inflation als auch das Wachstum auf hohem Niveau bleiben werden. In diesem Szenario dürften die Zentralbanken ihre geldpolitische Unterstützung allmählich zurückfahren, was zu höheren Zinssätzen (insbesondere in den USA) und einer Fortsetzung der sektoralen Rotation, die derzeit an den Aktienmärkten stattfindet, führen wird.
Keine Kommentare
Die Kommentarfunktion auf stock3 ist Nutzerinnen und Nutzern mit einem unserer Abonnements vorbehalten.