Hält der Rückenwind 2021 an?
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Die heutigen Bewertungen scheinen nur in einer Welt sinnvoll, in der sich ein anhaltend hohes Wirtschaftswachstum für die nächsten Jahre abzeichnet. Wie wahrscheinlich ist es, dass der gegenwärtige Aufschwung anhält?
Erik Weisman: Die außergewöhnlich hohen geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen, die bisher getroffen wurden und noch getroffen werden, sollten die Wirtschaft im Jahr 2021 stützen. Dies vor allem, wenn wir in nicht allzu ferner Zukunft Herdenimmunität erreichen. Außerdem dürfte ein Großteil des Geldes, das viele Haushalte während der Pandemie angespart haben, ausgegeben werden, wenn die Menschen wieder Restaurants besuchen, einkaufen, reisen und Ähnliches tun. Zusammen genommen dürften diese Entwicklungen das Wachstum eine Weile stützen.
Die Frage ist, ob diese Entwicklung von Dauer ist. Die Politik ist sehr darauf bedacht, eine dauerhafte Schädigung der Wirtschaft zu vermeiden, die sich vermutlich ergeben würde, wenn die fiskalpolitischen Unterstützungsmaßnahmen zu schnell zurückgefahren würden. Meines Erachtens ist ein weiteres großes Rettungspaket notwendig, das sich wahrscheinlich auszahlen wird, indem eine dauerhafte Schädigung der Wirtschaft vermieden wird. Ein weiteres Paket würde helfen, die Zeit zwischen der sich gegenwärtig verschlimmernden Coronakrise und dem Zeitpunkt zu überbrücken, zu dem Impfstoffe auf breiter Ebene verfügbar sind und das Leben sich wieder mehr oder weniger normalisiert.
Wenn diese Zeit vorbei ist, besteht dann mehr Klarheit über die Lage?
Weisman: Das ist die zentrale Frage. Wie wird die wirtschaftliche Entwicklung verlaufen, wenn die Pandemie hinter uns liegt und die fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen zurückgefahren werden? Ein Problempunkt ist, dass systemische Probleme durch die wirtschaftlichen Stützungsmaßnahmen in nächster Zeit nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden.
Meines Erachtens dürften die stützenden geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen noch einige Zeit andauern. Der Nachholbedarf im Konsum als Folge der Pandemie dürfte groß sein. Unternehmen werden ihre Schulden vermutlich nur allmählich abbauen und auch der Staat dürfte wenig dazu geneigt sein, Sparmaßnahmen zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, dass die Liquidität sich teilweise in der Realwirtschaft niederschlägt und nicht nur in die Finanzwirtschaft fließt.
Ist es wahrscheinlich, dass sich einige kulturelle und sozioökonomische Veränderungen in der Wirtschaft infolge der Pandemie dauerhaft halten?
Weisman: Die Pandemie scheint einige arbeitsmarkt- und wachstumsfördernde Veränderungen beschleunigt zu haben. So zum Beispiel könnte die Arbeit im Homeoffice zu einer höheren Erwerbstätigkeit führen. Es ist leicht vorstellbar, dass leistungsfähige Mitarbeiter, die das Rentenalter erreicht haben, länger erwerbstätig bleiben, wenn sie flexiblere Arbeitszeiten haben oder nicht regelmäßig pendeln müssen. Ähnlich kann es für Teilzeitarbeitskräfte einfacher sein, von zu Hause aus zu arbeiten. Dadurch stünden der Wirtschaft längere Arbeitszeiten zur Verfügung. Auf der anderen Seite schwinden andere Sektoren der Wirtschaft, wie der Einzelhandel, schneller, wodurch das Arbeitsvolumen erheblich reduziert wird.
Mit 2020 geht ein Jahr zu Ende, in dem der Markt kurzfristig sehr schlechte Fundamentaldaten außer Acht ließ und sich stattdessen fast ausschließlich auf die Zeit nach COVID mit einem beschleunigten Gewinnwachstum konzentrierte. Werden sich die robusten Gewinne von 2020 im Jahr 2021 halten?
Rob Almeida: Ein starkes Wirtschaftswachstum wirkt sich generell aus. Meines Erachtens werden wir Anfang 2021 ein starkes Gewinnwachstum haben und die Erträge im S&P 500 werden erwartungsgemäß um 20 % bis 25 % steigen. Die Erträge werden meiner Ansicht nach von Unternehmen mit einem hohen operativen Leverage erzielt, die im vergangenen Frühjahr in der schlimmsten Phase der Pandemie ihre Kosten drastisch gesenkt haben. Ein wirtschaftlicher Aufschwung bei geringeren Kosten wird zu einem starken Gewinnwachstum führen. Dadurch erklärt sich auch, weshalb Unternehmen mit einem hohen operativen Leverage andere überflügelten, weshalb beispielsweise Value sich besser als Growth entwickelte, Small-Cap-Unternehmen besser als Large-Cap-Unternehmen und zyklische Bereiche besser als nicht zyklische abschnitten. Ein Beispiel: Die Banken hatten in Zeiten eines starken Wirtschaftswachstums ein riesiges operatives Leverage, während Immobilien-Investmentgesellschaften ein sehr geringes aufwiesen.
Was könnte diese ziemlich optimistische Prognose konterkarieren?
Almeida: Ich befürchte, dass das Adrenalin, das Zentralbanken und die Fiskalpolitik in die globale Wirtschaft gepumpt haben, irgendwann abklingt. Wie sieht die Lage dann für Anleger aus? Ich glaube, die Wirtschaftswachstumsraten liegen dann bei rund 2 % wie in den Zeiten vor der Pandemie und die Anleger sind mit sinkenden Gewinnen konfrontiert, wie bereits Anfang 2018, bevor es das Virus gab.
Wie steht es mit den heutigen historisch hohen Bewertungen?
Almeida: Wenn wir ehrlich sind, sollten sich langfristige Anleger keine großen Sorgen über die aktuellen Bewertungen machen, vorausgesetzt, dass sich die Fundamentaldaten in den kommenden fünf oder zehn Jahren als richtig erweisen. Aber Bewertungen geben dann Anlass zur Sorge, wenn sie auf einem Extremniveau sind oder wenn die Fundamentaldaten schlechter werden. Bei einem konjunkturbereinigten Kurs-Gewinn-Verhältnis, das auf dem zweithöchsten jemals verzeichneten Stand noch über dem des Börsenkrachs von 1929 liegt, der nur von der Technologieblase in der 1990er Jahren in den Schatten gestellt wurde, halten wir die gegenwärtigen Bewertungen für extrem.
Wie steht es mit den Fundamentaldaten?
Almeida: Die Fundamentaldaten gaben einige Zeit Anlass zur Sorge und durch die Pandemie verschlechterten sie sich noch. Das Ertragswachstum ging über ein Jahrzehnt lang zurück. Und da Unternehmenschefs die falschen Anreize haben, führte dies dazu, dass die Beteiligten ärmer statt reicher wurden:
- Durch die immer größere Anhäufung finanzieller Hebelwirkung wurden Anleiheinhaber ärmer.
- Durch die Stagnierung der Löhne wurden die Arbeitnehmer ärmer und die Einkommensungleichheit nahm zu.
- Die Lieferanten wurden durch den Einsatz von Reverse Factoring und verlängerte Zahlungsziele ärmer.
- Ein mangelndes Umweltbewusstsein hat uns alle ärmer gemacht.
Insgesamt war die Ertragslage in den Zeiten vor Corona relativ schlecht, da die Mittel zur Gewinnerzielung nicht langfristig ausgelegt waren. Meines Erachtens wird eine schnelle Impfung oder ein weiteres Anreizpaket die strukturellen Probleme oder das extreme Bewertungsniveau, auf das wir bereits eingegangen sind, nicht lösen. Die Märkte haben ein starkes fundamentales Umfeld eingepreist und sie wurden von den Zentralbanken mit Liquidität vollgepumpt, was der Wirtschafts- und Finanzlage vorübergehend hilft, aber die eigentlichen Probleme nicht löst. Der Anreiz ist groß, aber vieles wurde bereits eingepreist. Sorge bereitet uns nach wie vor, ob die jüngsten Trends anhalten werden.
Wie ist also alles in allem die Marktlage?
Erik Weisman: Die Märkte rechnen meiner Meinung nach mit einem robusteren Wirtschaftswachstum und einer solideren Lage für Unternehmensgewinne, ähnlich wie 2019 vor der Pandemie. Finanzmärkte reagieren zwar kurzfristig, aber auch klug. In dieser Hinsicht ist die Prognose von Rob und mir nicht eindeutig. Bei langfristigen Anlagen muss man letztlich zwischen kurzfristigen Störungen und langfristigen grundlegenden Veränderungen bei den Fundamentaldaten differenzieren.
Was sind Ihre langfristigen Prognosen?
Weisman: Auch wenn die Interventionen im vergangenen Jahr kurzfristig nützlich waren, haben sie ihren Preis. Sie haben die Verschuldung des Staates und der Zentralbanken nach oben getrieben und mit diesem Schuldenanstieg muss gerechnet werden.
Wie sieht Ihre kurzfristige Prognose im Vergleich zu Ihrem Ausblick für die nächsten 5 bis 10 Jahre aus?
Rob Almeida: Dank der Impfstoffe dürfte die Gesellschaft in absehbarer Zeit mehr oder weniger wieder zur Normalität zurückfinden und die Gewinnlage dürfte sich verbessern, aber über ein Jahrzehnt schlechter Finanzwirtschaft wird dadurch nicht rückgängig gemacht werden. Auch nicht die inflationsdämpfende Wirkung der Technologie oder die zunehmende Kommodifizierung kostenintensiver, veralteter Industriezweige. Impfstoffe werden Unternehmen nicht gegen Investoren immun machen, die eine Fokussierung auf die Beteiligten und nicht nur auf Aktionäre fordern. Mehr Arbeitssicherheit, höhere Löhne und weniger Umweltverschmutzung sind nicht zum Nullpreis zu haben. Die Märkte können diese Risiken nicht ewig ignorieren. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, welche Anlagen diesen Risiken standhalten können und welche nicht, und entsprechend zu handeln.
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