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07:11 Uhr, 14.07.2016

Fallende Zinsen und steigende Aktien: Kann das gutgehen?

Analysten zeigen sich über die Signalwirkung fallender Zinsen und Anleiherenditen für den Aktienmarkt besorgt. Sie befürchten, dass die Zinsen entweder wieder steigen oder die Aktienmärkte fallen müssen.

Sinkende Zinsen sind seit jeher ein Zeichen für wirtschaftliche Probleme. Die Zinsen fallen ja nicht einfach so, sondern weil es dafür eine wirtschaftliche Notwendigkeit gibt. Im Aufschwung heben Notenbanken die Zinsen an, im Abschwung werden sie gesenkt. So einfach ist die Sache. Genauer gesagt: So einfach war die Sache.

Viele Analysten haben ihre Probleme damit zu verstehen, was derzeit an den Märkten geschieht. Einerseits fallen die Renditen für Anleihen in einem Tempo, welches an Panik erinnert. Andererseits zeigen sich auch Aktien überraschend robust. Das gilt global und ganz besonders für US-Aktien.

Wendet man die Standardmodelle an, dann macht die Situation überhaupt keinen Sinn. Die Flucht von Anlegern in Sicherheit (Staatsanleihen) deutet eigentlich eine nahende Krise für Aktien an. Mit dieser Situation waren wir in den vergangenen Jahren mehrmals konfrontiert, doch bisher bleibt die große Krise für den Aktienmarkt aus. Irgendetwas stimmt da doch nicht...

Dass tatsächlich etwas nicht stimmt, zeigt die US-Term-Premium. Die Term-Premium ist jene Rendite, die Anleger für langlaufende Anleihen gegenüber kurzlaufenden verlangen. Will ein Anleger für 10 Jahre Geld anlegen, hat er die Wahl, entweder eine Anleihe mit 10 Jahren Laufzeit zu kaufen oder 10 Mal eine Anleihe mit einem Jahr Laufzeit oder 5 Mal eine Anleihe mit 2 Jahren Laufzeit usw. Lesen Sie dazu auch: Das rätselhafte Verhalten der US-Renditen

Im Normalfall verlangen Anleger einen Aufschlag für die Anlage in langlaufende Anleihen, weil sie sich mehreren Risiken ausgesetzt sehen. Dazu gehört das Zinsänderungsrisiko ebenso wie eine Änderung der Inflationsrate. Aktuell verlangen Anleger keinen Aufschlag, sondern akzeptieren einen Abschlag. Die Grafik zeigt diese Entwicklung.

Die Federal Reserve Bank of New York stellt Daten zur Verfügung, die bis ins Jahr 1961 zurückgehen. In dieser Zeit kam es immer wieder zu niedrigen Aufschlägen, jedoch niemals zu einem systematischen Abschlag. Seit zwei Jahren ist das anders. Die Term-Premium gleitet mehr und mehr ins Negative.

Anleger sind derzeit bereit einen substantiellen Abschlag hinzunehmen. Er erreichte zuletzt 0,7 %. Das ist viel und bisher nie dagewesen. Der Abschlag zeigt die Verzweiflung von Anlegern, hat aber wenig damit zu tun, dass sie Aktien keine Chancen einräumen.

Grundsätzlich gehen die Standardmodelle davon aus, dass Anleger sich zwischen einer Anlage in Anleihen oder Aktien entscheiden. Beide Anlageklassen konkurrieren miteinander. Kaufen Anleger Anleihen und drücken dadurch die Renditen, dann wird entweder eine Zinswende nach unten erwartet erwartet oder es besteht große Unsicherheit an den Märkten und Anleger flüchten in sichere Anleihen.

Aktuell flüchten Anleger in beides, in Anleihen und Aktien. Das ist absolut ungewöhnlich und widerspricht allem, was man in den vergangenen Jahrzehnten beobachten konnte. Trotzdem macht der Trend bis zu einem gewissen Grad Sinn.
Die Flucht in langlaufende Anleihen lässt sich vor allem durch die Zins- und Inflationserwartung erklären. Anleger gehen nicht mehr davon aus, dass die Zinsen in den kommenden Jahren wieder auf ihre langjährigen Durchschnitte steigen werden. Auf absehbare Zeit (10 Jahre) dürften die Zinsen niedrig bleiben.

Die Inflationserwartungen sind zuletzt ebenfalls gesunken. Inflation wird von Anlegern auf absehbare Zeit (10 Jahre) nicht mehr als Risikofaktor wahrgenommen. Es wird nicht mehr von einem Anstieg der Inflation ausgegangen, sondern von stagnierenden oder fallenden Teuerungsraten.

Langlaufende Anleihen bieten derzeit in den USA immerhin noch eine positive Rendite. Das gilt für viele andere Länder nicht mehr (z.B. Deutschland, Japan, Schweiz). Anleger strömen in den Markt und kaufen langfristige Anleihen auf, um sich wenigstens noch eine kleine, aber positive Rendite zu sichern. Das Risiko, dass sie dadurch einen Zinsverlust gegenüber einer kurzfristig orientierten Strategie haben, wird als minimal eingestuft.

Anleger sind sich sicher, dass kurzfristige Anleihen schon bald eine noch sehr viel negativere Rendite abwerfen werden. Sie sind sich dessen sogar so sicher, dass sie eine negative Term-Premium akzeptieren.

Für den Aktienmarkt muss das keine Katastrophe bedeuten. Aktien werden bei immer niedrigeren Zinsen sogar attraktiver. Viele institutionelle Anleger wie etwa Pensionsfonds oder Versicherungen können jedoch nicht Großteile ihrer Assets in Aktien anlegen. Sie sind auf Anleihen angewiesen. Daher ist die Anleihen- und Aktienrallye kein Widerspruch, sondern sind die zwei Seiten derselben Medaille der aktuellen Zinspolitik und Anlegererwartung.

Clemens Schmale

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12 Kommentare

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  • Unbedingt
    Unbedingt

    Zumindest ist es ehrenhaft, wenn sich überhaupt jemand für die Mysterien der Gegenwart interessiert, ohne gleich Geld damit verdienen zu wollen. Herr Schmale, ich glaube, es ist alles viel einfacher, als es die Experten herbei deklinieren wollen: Es gibt viel zu viele Leute mit zuviel Geld, das sie eigetlich gar nicht brauchen. So viele wie noch nie in der Vergangenheit. Irgend eine Erfindung, die teuer ist und viel Spaß macht, könnte das eventuell ändern. Ob die neue Kopter-Manie zu so einer Art Feuerstuhl in the air ausartet, könnte so was werden. Der Wahnsinn auf Flügeln. Für Terroristen auch mit Leicht-MG. Lassen wir uns überraschen. Der Konjunktur wird es gut tun.

    10:25 Uhr, 14.07. 2016
  • Weißer Ritter
    Weißer Ritter

    Schön, wie Herr Schmale mal wieder im Dunkeln tappt.

    09:56 Uhr, 14.07. 2016
  • 1 Antwort anzeigen
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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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