Kommentar
11:27 Uhr, 28.08.2019

Das vermaledeite Ziel der Preisstabilität

Niemand hat etwas gegen das Ziel der Preisstabilität. Aber muss sie so eng definiert werden?

  • Es ist Zeit, das Ziel der Preisstabilität, das sich die EZB gegeben hat, zu überdenken.
  • Die bisherige Zielformulierung zwingt die EZB zu einer zu lockeren Geldpolitik und stößt in der Öffentlichkeit vielfach auf Unverständnis.
  • Eine bescheidenere Zielformulierung würde die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der EZB erhöhen.

Der entscheidende Fehler passierte im Mai 2003. Damals beschloss die Europäische Zentralbank nach heftigen internen Kontroversen eine neue Definition ihres Ziels der Preisstabilität. Künftig sollte es nicht mehr heißen "Zunahme der Preissteigerung von unter 2 %". Stattdessen wurde das Wörtchen "nahe" eingefügt. Das Ziel heißt seitdem "nahe aber unter 2 %".

Das sieht nach einer kleinen und unscheinbaren Änderung aus. Es macht aber einen erheblichen Unterschied. Bei einer Inflation von 1 % beispielsweise, wie wir sie derzeit haben, wäre das Stabilitätsziel bei der ursprünglichen Definition nach wie vor erfüllt. Die Zentralbank müsste nichts unternehmen. Nach der neuen Definition ist die Preissteigerung zu niedrig. Die Zentralbank muss etwas tun, um die Rate nach oben zu bringen.

Schwankungen der Inflation

Preissteigerung, Euroraum


Quelle: EZB

Ein Grund für die damalige Entscheidung, das Ziel enger zu fassen, waren in jener Zeit die sich verbreitenden Deflationsängste in der Welt. Das globale Wirtschaftswachstum brach ein. Die Geldentwertung verringerte sich. Die Aktienmärkte gingen nach dem Platzen der New Economy-Blase in die Knie. Es war verständlich, dass die Geldpolitiker in der noch jungen Zentralbank kalte Füße bekamen. Sie fürchteten, in eine Krise hineinzulaufen. Durch eine Änderung der Zieldefinition gaben sie sich eine Rechtfertigung, bei einer sinkenden Inflation schneller und stärker gegensteuern zu können.

Allerdings haben sie sich mit der neuen Zielformulierung erhebliche neue Probleme eingehandelt. Das war damals noch nicht so absehbar. Es ist umso gravierender, als die Probleme mit den Jahren immer größer geworden sind.

Erstens wird die Zentralbank zu einer viel lockereren Geldpolitik gezwungen, als sie sie sonst betreiben würde. Sie muss ihren Kurs bei allen Preissteigerungsraten zwischen 0 % und 1,9 % überdenken. Vorher war das nur bei sinkenden Preisen (= Deflation) und bei Preissteigerungsraten von über 2 % (= überbordende Inflation) der Fall. Das fällt umso mehr ins Gewicht, als zu Beginn der Währungsunion niemand im Kopf hatte, dass sich die Geldentwertung so lange und anhaltend auf einem Niveau zwischen 1 % und 2 % bewegen würde. Alle Augen waren darauf gerichtet, dass es die Hauptaufgabe der Notenbank sei, eine zu hohe Geldentwertung zu verhindern.

Zweitens stößt das dadurch bewirkte Mehr an lockerer Geldpolitik vielfach auf Unverständnis und Kritik in der Öffentlichkeit. Null- und Negativzinsen sind zunehmend zu einem gesellschaftlichen Ärgernis geworden. Wer kann schon verstehen, dass der Präsident der EZB eine Preissteigerung von 1 % für zu niedrig hält und sie nach oben treiben will, wo sich doch jeder eigentlich niedrigere Preissteigerungen wünscht? Jetzt nimmt sich sogar die Politik des Themas an und überlegt, ob man Negativzinsen nicht verbieten kann.

Drittens führt das immer häufigere Eingreifen der Notenbank, um die Preissteigerung nach oben zu bringen, zu erheblichen Abnutzungserscheinungen. Es gibt zunehmend Zweifel an der Wirksamkeit von Zinssenkungen oder den Käufen von Wertpapieren.

Viertens ist das Ziel "nahe aber unter 2 %" zu ehrgeizig. Es wurde im Euroraum zuletzt vor sieben Jahren erreicht. Was aber nutzt ein Ziel, das immer verfehlt wird? Auch international gibt es viele Notenbanken, die sich ein Ziel von 2 % als Obergrenze gesetzt haben. Ich kenne aber keine, die sich genau auf 1,9 % festgelegt hat.

Fünftens braucht das Preisniveau bei Schwankungen der Konjunktur und vor allem der Energiepreise Bewegungsfreiheit (siehe Grafik). Es muss atmen können. Nicht jede Abweichung vom Ziel "nahe aber unter 2 %" ist ein Ungleichgewicht, das die Zentralbank zum Eingreifen zwingen sollte. Das Ziel darf daher nicht zu eng gefasst werden.


»Es käme wieder Hoffnung auf, dass die Zinsen vielleicht doch nicht "auf ewig" so niedrig oder gar negativ sein müssten.«


All das spricht nicht gegen das Ziel der Preisstabilität. Im Gegenteil: Es wird als Vertrauensanker der Geldwirtschaft heute mehr gebraucht denn je. Es muss aber so definiert werden, dass es glaubwürdig ist und sich die Kollateralschäden der Geldpolitik in Grenzen halten.

Aus meiner Sicht wäre es daher vernünftig, das Präfix "nahe" in der Formulierung "nahe aber unter 2 %" zu streichen. Das würde eine bescheidenere Zentralbank signalisieren. Es käme wieder Hoffnung auf, dass die Zinsen vielleicht doch nicht "auf ewig" so niedrig oder gar negativ sein müssten.

Es gibt allerdings auch Argumente, die dagegen sprechen. Zum einen würde eine bescheidenere Geldpolitik tendenziell zu höheren Zinsen führen. Das passt derzeit nicht in die gesamtwirtschaftliche Lage. Aber eine Zielveränderung ist nichts, was man von einem Tag zum anderen realisieren kann. Dazu braucht man Zeit. Sie könnte frühestens in zwei, drei Jahren kommen, wenn die gesamtwirtschaftliche Lage bestimmt wieder anders sein wird.

Zum anderen sollte man Ziele nicht in einer Zeit verändern, in der sie gerade nicht erreicht werden. Damit führt man sie ad absurdum. Aber zu warten, bis die Preissteigerung einmal wieder auf 1,9 % steigt, wäre auch nicht vernünftig.


Für den Anleger

Das Nachdenken über eine neue Zieldefinition der Zentralbank hat nichts mit aktuellen Anlageentscheidungen zu tun. Es bleibt dabei, dass die Geldpolitik auf Lockerungskurs ist und auf absehbare Zeit bleiben wird. Das ist an den Märkten die wichtigste Gegenkraft gegen die negativen Einflüsse von Seiten der Handelspolitik, des Brexits und der sich verschlechternden Konjunktur.


Anmerkungen oder Anregungen? Ich freue mich auf den Dialog mit Ihnen:martin.huefner@assenagon.com.

Dr. Martin W. Hüfner, Chefvolkswirt von Assenagon Asset Management S.A.

32 Kommentare

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  • trunki
    trunki

    Sie halten sich für höchst intelligent und bemerken (fast) gar nichts.

    Ich verdiene auch mit Geld ein durchaus ordentliches Einkommen und bin trotzdem für eine Welt ohne Geld.

    Was ist daran lustig oder skurill?

    Den meisten wird aufgezwungen Geld zu verdienen und das machen sie sich nicht unnötig schwer. Das ist durchaus nachvollziehbar wenn auch für mich nicht tolerabel. Auch ich könnte leicht das drei bis vierfache an Einkommen generieren wennn ich mich für das System entsprechend prostituieren würde. Ich hatte aber das Glück, von einem Thema soviel Ahnung zu haben dass ich mir (fast) sicher sein kann immer genügend zu verdienen und etwas zum meinem Beruf zu machen das mir vielfach noch Spass bereitet.

    Wer sagt ihnen denn dass Draghi derzeit höheren Zinsen grundsätzlich nicht offen gegenüber steht.

    Aber er ist wohl schlau genug abschätzen zu können, was passieren würde, wenn er sie jetzt anhebt und wer für die daraus resultierenden unmittelbaren Folgen verantwortlich gemacht würde.

    Ach was solls,ihre Arroganz ist einfach unerträglich mindestens so stark wie sie unangebracht ist.

    Aber Selbstüberschätzung ist ein Faktor, der viele vor Depressionen bewahrt. Deshalb sei sie ihnen herzlichst gegönnt.

    Übrigens die von ihnen geschmähte E.H. sitz in Canada und ihr genügt es ein Kurzvideo im Monat zu machen.

    Das werden sie niemals und schon gar nicht weit vor dem gesetzl. Renteneintritt erreichen, wetten dass?

    13:08 Uhr, 30.08. 2019
    1 Antwort anzeigen
  • kriva
    kriva

    Mein lieber Herr Kühn,

    Sie sind ja total verpeilt. Die Medien zensieren Kommentare wie in der DDR.

    Ich wurde bei zwei grossen Zeitungen gesperrt. Viele andere auch.

    Und ich habe gegen keine Bestimmung verstossen War nur nicht Mainstream.

    Vom Spiegel weiss ich, dass unliebsame Kommentare nicht veröffentlicht werden.

    Die Mehrheit muss dem Artikel des Autors entsprechen.

    Und wenn ich jetzt Lust und Zeit hätte würde ich Ihnen jetzt Dutzende Falschmeldungen, Halbmeldungen, etc. von ARD und ZDF und div. Medien einstellen.

    Und Relotius sollte Ihnen bekannt sein.

    Also hören Sie auf mit Pressefreiheit und Objektivität.

    Wir haben hier längst DDR reloadet.

    18:32 Uhr, 29.08. 2019
  • German2
    08:27 Uhr, 29.08. 2019
  • German2
    German2

    ...denn die Inflation ist viel höher als die anvisierten 2% ..5-6% p.a. ... wir leben in Zeiten massiver Inflation ... wenn der Staat nun beginnt Preise für gewisse Dinge einzufrieren (siehe Mieten usw) dann wird es lustig..dann ist auf einmal der Immobilienbesitzer in der Klemme, denn dessen kosten steigen ja weiter.. nur ein Beispiel

    08:08 Uhr, 29.08. 2019
  • German2
    German2

    Betrug

    08:05 Uhr, 29.08. 2019
  • wizardmw
    wizardmw

    Preisstabilität ist Null.......Punkt. Warum zum Geier sollen 2% gut sein, außer für die Schuldenorgienteilnehmer????? Was für ein Nonsens - und die Leute glauben scheinbar noch, daß 2% Inflation Preisstabilität indiziert. Aber genau so wird das unsinnige Wachstumsmantra als Naturgesetz akzeptiert, obwohl es nur einem dient: Dem Erhalt des auf Zinsenzins basierten Fiatbankensystems mit der damit verbundenen Vermögensverteilung von unten nach oben.

    13:59 Uhr, 28.08. 2019
    1 Antwort anzeigen