China: Auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht
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Michael Hasenstab, CIO bei Templeton Global Macro, bestätigt, dass China einen Gang heruntergeschaltet hat. Der Rückgang von einem Wachstum von 10% und mehr über drei Jahrzehnte auf etwa 7% entspricht aber den Plänen der Regierung. Er sagt, die Behörden sehen die Verlangsamung als unvermeidbar und gesund. Und sie entspricht einer Neujustierung chinesischer Wachstumsmotoren fort von Investitionen und hin zum Konsum. In letzter Zeit gibt es jedoch Hinweise darauf, dass das Wachstum unter das Ziel der Regierung fällt. Das hat zu erneuten Warnungen geführt, dass die Wirtschaft schon bald eine harte Landung erleben wird, die aufgrund der Ungleichgewichte und Schwächen, die sich in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft gebildet haben, unausweichlich ist. Michael Hasenstab, CIO bei Templeton Global Macro, sieht die Lage in China anders. In diesem Artikel untersucht er die Dynamiken, die derzeit im Land wirken.
Wenn es um China geht fallen unserer Ansicht nach die meisten Beobachter in eines von zwei Lagern: die hartnäckigen Skeptiker und die Perma-Bullen. Die Skeptiker sind davon überzeugt, dass nichts über China – von den Daten aus dem Banksystem bis zu den demografischen Daten – einer genaueren Betrachtung standhält. Vertreter dieser Denkweise argumentieren, offizielle Zahlen seien zu unzuverlässig für eine Nachverfolgung und die Ungleichgewichte zu groß, als dass eine genaue Analyse möglich wäre. Skeptiker erwarten eine Implosion der chinesischen Wirtschaft als Folge einer Blase im Eigenheimmarkt, der Verschuldung von Lokalregierungen, dem Aktienmarkt – oder regelmäßig auch einem Zusammenspiel aller drei Aspekte. Ihrer Ansicht nach steht der Kollaps unmittelbar bevor und das schon seit den letzten zehn Jahren. Die kleinere Gruppe der China-Bullen, die eine positive Entwicklung erwartet, sieht den Wandel des Landes äußerst positiv. Diese Gruppe erwartet eine reibungslose Fortsetzung des Wachstumswunders in China; dabei ist ein Wachstumsrückgang rein vorübergehender Art. Vertreter dieser Sichtweise tun die Sorge über Ungleichgewichte mit einem Achselzucken ab und argumentieren, China verfüge über mehr als genug Geld, mache die richtige Politik und habe eine beispiellose Kontrolle über die Wirtschaft des Landes.
Wir versuchen ein paar Schritte davon zurückzutreten und objektiv zu beurteilen, wo die chinesische Wirtschaft derzeit steht, wohin sie sich unserer Meinung nach entwickeln wird und welche Risiken wir in Zukunft erwarten.
Wir nehmen eine nuanciertere und ausgewogenere Position ein als die hartnäckigen Skeptiker oder die Perma-Bullen. Unter dem Strich sind wir, was den Ausblick für China betrifft, optimistisch. Wir erkennen aber an, dass das Land vor gewaltigen politischen Herausforderungen steht und erheblichen Risiken ausgesetzt ist, die genau beobachtet werden müssen.
China befindet sich in Hinsicht auf seine fortwährende und umfassende wirtschaftliche Transformation heute an einem Scheideweg. Drei traditionelle Wachstumsmotoren sind gleichzeitig zum Erliegen gekommen: Der Immobiliensektor mäßigt sich nach einem längeren Boom, Lokalregierungen, die sich entschulden müssen, haben ihre Investitionen zurückgefahren und viele Komponenten des Fertigungssektors sind schwächer geworden.
Das vom Lohnwachstum, dem Wachstum im Dienstleistungssektor und neuen Infrastrukturinvestitionen getriebene Konsumwachstum gleicht jedoch die simultane Kontraktion dieser anderen drei Sektoren aus. Die Kontraktion im Fertigungssektor wurde durch den Lewis-Wendepunkt ausgelöst – ein demografisch bewirkter Rückgang des Wachstums der Arbeitskräfte. Das steigert den Lohndruck, was die Wettbewerbsfähigkeit des traditionell exportorientierten Fertigungssektors reduziert. Der Rückgang des Wachstums der Arbeitskräfte bedeutet jedoch, es werden weniger Arbeitsplätze für eine Vollbeschäftigung benötigt – Schätzungen zufolge drei Millionen pro Jahr gegenüber einem historischen Höchstwert von zwölf Millionen. Das schnellere Wachstum des Dienstleistungssektors, der von der Industrie die Rolle der größten Arbeitsplatzschaffung übernommen hat, dürfte ausreichen, um dies zu ermöglichen. Die Kontraktion in der Fertigung, im Immobilienwesen und bei den Lokalregierungen hat daher zu keinem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt, was zu einem gefährlichen sozialen und politischen Problem geworden wäre.
Steigende Löhne und nachhaltige Arbeitsplätze haben es ermöglicht, dass der Konsum der Haushalte Investitionen als Hauptbeitrag zum BIP-Wachstum überholen konnte. Und das ist genau die Art von Neujustierung, die China unserer Überzeugung nach benötigt. Nachhaltiges Lohnwachstum erfordert jedoch ein stärkeres Produktionswachstum. Ohne dieses verliert ein zunehmender Teil der Wirtschaft seine Wettbewerbsfähigkeit, was China in die „Falle mittlerer Einkommen“ zwingt. Ein stärkeres Produktivitätswachstum macht es erforderlich, dass die Industrie sich Sektoren mit höherer Technologie und höherem Mehrwert zuwendet. Die Regierung hat diesen Prozess durch eine Reihe grundlegender politischer Maßnahmen gefördert: Stärkung des Bildungssektors, Reformierung staatlicher Unternehmen (SOEs) zur Förderung eines stärkeren Wachstums des Privatsektors und die Schaffung von Anreizen für Innovationen. Es hat sich gezeigt, dass es äußerst schwer ist der Falle der mittleren Einkommen zu entkommen. Das veranschaulichen die wenigen Länder, die dies erfolgreich geschafft haben – und gewiss war keines davon so groß wie China. China scheint nichtsdestotrotz die richtige Strategie zu haben und das Land unterstützt seine Politik mit anderen langfristigen Reformen, wie der Liberalisierung von Kapitalkonten und der Finanzmärkte mit dem Ziel, die Kapitalvermittlung zu verbessern und somit Kapital in produktivere Bereiche der Wirtschaft zu kanalisieren. Gleichzeitig tragen Umwelt- und Infrastrukturinvestitionen dazu bei, die langfristigen internen Wachstumsaussichten und Chinas globale Reichweite zu unterstützen, insbesondere über die neue One Belt, One Road Initiative.
Aber es existieren nach wie vor signifikante Risiken. Zunächst muss die Geldpolitik ein delikates Gleichgewicht herstellen: Bisher bietet die People’s Bank of China gerade einmal genug Unterstützung, um den Konjunkturrückgang abzuschwächen. Sollte das Wachstum aber weiter zurückgehen, könnten die jüngsten Maßnahmen, die es Lokalregierungen ermöglichen, ihre Schulden gegen Kommunal- bzw. Provinzialanleihen zu tauschen, sich zu wirtschaftlichen Anreizen nach Art quantitativer Lockerungen (QE) wandeln, was der Entschuldung schaden und den Boden für eine harte Landung bereiten würde. Zweitens hat China während des vergangenen Jahrzehnts rasant erhebliche Schulden angesammelt, weitgehend in Form wenig transparenter Vorgänge auf Ebene der Lokalregierungen und über Schattenbanken. Unseren Schätzungen zufolge könnten diese Schulden sich, einschließlich aller bilanziell und nicht bilanziell erfasster Schulden (d.h. Zentral- und lokale Regierungen, Haushalte und Unternehmen), auf bis zu 250% des BIP belaufen. Aber anders als viele andere Länder verfügt der chinesische Staat über enorme Vermögenswerte, die aus Devisenreserven und – wichtiger – den Werten der größten SOEs des Landes bestehen. Außerdem hat die Zentralregierung keine Schulden im Ausland. Diese Faktoren helfen, das Risiko einer klassischen Schuldennachhaltigkeitskrise zu minimieren.
Der Entschuldungsprozess könnte jedoch nicht reibungslos verlaufen. Das könnte zu Problemen im Bank- oder Unternehmenssektor führen und das Wachstum stören. Andererseits könnte sich die Entschuldung umkehren. Das könnte zu einem fortwährenden Schuldenwachstum führen, was immer noch ein Risiko darstellt. Drittens könnte es zu einem Crash im Aktienmarkt kommen insbesondere da sich die chinesischen Aktienindizes in den letzten zwölf Monaten mehr als verdoppelt haben, was Anlass zur Sorge bereitet. Obwohl der chinesische Aktienmarkt immer noch eine nur relativ untergeordnete Rolle in der Wirtschaft des Landes spielt, sowohl als Kapitalquelle für Unternehmen, als auch für Anlagen der Haushalte, ist seine Bedeutung für beide Seiten etwas gestiegen. Ein plötzlicher Crash könnte einen weiteren Kontraktionsschock auslösen und würde den Stärkungs- und Diversifizierungsprozess des Finanzsektors hinauszögern. Schließlich müssen sich die grundlegenden SOE-Reformen gegen mächtige private Interessen durchsetzen. Hier könnte es zu erheblichen Rückschlägen kommen, was die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns erhöht.
Auf Grundlage unserer detaillierten Analysen sind wir der Überzeugung, China wird auf Kurs bleiben. Dabei wird sich das BIP-Wachstum während der nächsten Jahre moderat auf 6% verlangsamen, während die Wirtschaft sich zum Konsum, Dienstleistungen und einer Fertigung mit größerem Mehrwert wandelt. Das könnte wichtige Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben:
- Ein Wachstum von 6% oder mehr würde das weltweite Wachstum unterstützen; angesichts der strukturellen Anfälligkeit der europäischen Konjunkturerholung und den Aussichten auf geldpolitische Straffungen der US-Notenbank Federal Reserve ein wichtiger Faktor.
- Zusammen mit der neuen Runde von Infrastrukturinvestitionen bietet dies den Rohstoffmärkten eine gewisse Unterstützung. Man sollte allerdings beachten, dass die Neujustierung Chinas von Investitionen zum Konsum auch die Nachfrage nach den meisten Industriemetallen senkt. Unter dem Strich dürfte unser Ausblick für stabile Rohstoffpreise in den nächsten Jahren sprechen.
- Die Neujustierung in China hat aber auch eine anders gelagerte Auswirkung auf die Handelsflüsse: Wir dürften einen stärkeren Handel mit fortschrittlicheren Volkswirtschaften, die Fertig- und Industriewaren produzieren, und einen vergleichsweise geringeren Handel mit Rohstoffproduzenten erleben. Des Weiteren müssen aufgrund ihrer potenziellen langfristigen Auswirkungen auf die Handelsflüsse auch die One Belt, One Road Initiative und die Maßnahmen der neu gegründeten Asia Infrastructure Investment Bank genau beobachtet werden.
- Schließlich impliziert ein nachhaltiges Lohnwachstum, dass China einen stärker inflationären Druck in den Rest der Welt exportieren dürfte. Das bestärkt uns in unserer Ansicht, dass – in den USA beginnend – Aussichten auf höhere Inflationsraten und höhere Zinsen bestehen.
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