Kommentar
09:44 Uhr, 24.06.2016

Ablauf und Folgen des "Brexit"

Es ist eine Entscheidung von historischer Dimension: Bis auf das eher unbedeutende Grönland hat noch kein Mitglied der EU die Union verlassen. Die Angst in Brüssel ist spürbar. Was passiert wenn Großbritannien außerhalb der EU prosperiert und andere dem Beispiel folgen?

Wie wäre der Ablauf im Falle eines Brexit?

Nach dem Referendum muss die britische Regierung bei einer Pro-Brexit-Mehrheit formell ihre Austritts-Absichten gegenüber der EU erklären.
Einen konkreten Termin dafür gibt es nicht und Premier David Cameron (bzw. sein Nachfolger)wird sicherlich vorerst auch keinen nennen. Er wird sich dafür Zeit lassen - im Glauben, dass dies die Verhandlungsposition der Briten stärkt. Und aus Angst vor dem Parlament. Denn das Referendum hat keine rechtliche Bindung. Es müsste erst die gesetzliche Grundlage für den Austritt geschaffen werden. Unterhaus und Oberhaus müssen zustimmen - was keineswegs sicher ist. Die Remain-Fraktion hat dort eine Mehrheit.

Dieser Prozess wird dauern - es wäre denkbar, dass das Austrittsgesuch erste Ende 2016/Anfang 2017 gestellt wird oder sogar noch später.

Danach bliebe Großbritannien mindestens noch zwei Jahre lang Vollmitglied der EU. Den Ablauf regelt Art. 50 des EU-Vertrags. Demnach teilt der zum Austritt entschlossene Mitgliedsstaat dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Anschließend würden die Details in einem Abkommen der EU mit Großbritannien ausgehandelt werden.

Wie lange wird das dauern? Abgesehen vom kleinen Grönland (das übrigens nun wieder in die EU zurück will) gibt es keinen Präzedenzfall - zwei Jahre sind aber realistisch. Zwei Jahre nach dem formellen Austrittsgesuch gelten zudem die EU-Verträge für den austretenden Staat nicht mehr. Es ist aber möglich, diese Frist zu verlängern, wenn der Europäische Rat und der austrittswillige Staat dies einvernehmlich beschließen.

Der Europäische Rat muss dann nach Zustimmung des EU-Parlaments mit qualifizierter Mehrheit dem ausgehandelten Abkommen zustimmen. Und natürlich müssen auch die Briten damit einverstanden sein.

Was wenn die Briten dann doch in der EU bleiben wollen?

Die Pro-Brexit-Bewegung ist nicht völlig homogen, was ihre Absichten angeht. Teile spielen offen mit dem Gedanken, das formelle Austrittsgesuch herauszuzögern und neu mit der EU zu verhandeln, um dann letztlich doch in der Union zu verbleiben - allerdings in einer reformierten EU, die Veränderungen im Sinne der britischen Wünsche vornimmt. Oder auch weitere Ausnahmeregeln für Großbritannien zulässt. Anschließend wäre ein weiteres Referendum anzusetzen. Diese Karte wird Cameron wohl zu spielen versuchen.

Ob das realistisch ist sei mal dahingestellt. Dieser Plan kann eigentlich nur funktionieren, solange das Austrittsgesuch noch nicht gestellt wurde. Der den Austritt regelnde Art. 50 des EU-Vertrages sieht nämlich nicht vor, dass ein bereits gestelltes Gesuch wieder zurückgezogen werden kann. Absatz 5 regelt, wie der Weg zurück möglich ist: Über Art. 49 EU-Vertrag, der für alle Beitritts-Aspiranten gilt. Dann müssen auch alle EU-Staaten dem Wiedereinstieg in die Union zustimmen. Ein dorniger Weg, der die Briten zudem alle bereits ausgehandelten Sonderrechte kosten würde, denn diese bekämen sie vermutlich nicht wieder.

Das einzige Hintertürchen, das Art. 50 offenlässt, ist die Verlängerung der Zwei-Jahres-Frist. Da hier keine Grenze gesetzt ist wäre denkbar, die Frist immer weiter auszuweiten. Diese Alternative erscheint aber reichlich illusorisch.

Andererseits hat sich die EU in der Vergangenheit nicht zimperlich darin gezeigt, das Recht so auszulegen wie es gerade opportun erscheint. Es wäre also denkbar, auch eine Rücknahme des Austrittsgesuch zu akzeptieren, obwohl das nicht vorgesehen ist. Dann aber wäre vermutlich eine Zustimmung aller 27 EU-Staaten nötig - wie bei einer Neuaufnahme.

Wie ginge es nach einem Austritt weiter?

Im Falle eines EU-Austritts würde vermutlich jede britische Regierung ihr Bestes geben, um soweit wie möglich im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verbleiben zu können. Großbritannien könnte dann wie die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) werden. Aufgrund des existenten Abkommens der EFTA mit der EU würden die vier Freiheiten des EU-Binnenmarktes (Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) auch für Großbritannien als Nicht-EU-Mitglied weiterhin bestehen bleiben.

Folgende Frage ist aber zweifellos berechtigt: hat die EU ein Interesse daran, es den Briten so leicht zu machen? Oder will sie eher ein Exempel statuieren? Es ist auszuschließen, dass die Briten alle Vorzüge des "Clubs" genießen können, ohne seine Regeln zu befolgen. Hier gibt man sich womöglich auf der Insel Illusionen hin.

Was sind die wesentlichen Risiken des Brexit?

Aus Sicht Großbritanniens:

  • Erschwerung des Handels mit der EU als Außenstehender wegen Zöllen und Bürokratie.
  • Abwanderung von vielen Firmen und Talenten, vor allem aus der Finanzbranche. Entsprechende Drohungen gab es bereits. Der Finanzplatz London ist gefährdet.

Aus Sicht der EU:

  • Möglicher Domino-Effekt: In vielen Staaten der EU gibt es EU-feindliche Bewegungen, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewannen. Ein "erfolgreicher" Brexit in dem Sinne, dass es den Briten gelingt, außerhalb der EU zu prosperieren, dürfte diesen Bewegungen Auftrieb geben. Am Ende könnte die EU teilweise oder ganz zerfallen
  • Schwächung des Wirtschaftswachstums: "Bestraft" man Großbritannien z.B. mit Zöllen, führt dies wiederum zu Gegenmaßnahmen. Großbritannien ist aber ein wichtiges Exportland für viele EU-Staaten. Im Endergebnis leidet die gesamte EU darunter. Und das in einer Phase, in der Europa ohnehin schon seit Jahren kriselt.

Was sind die wesentlichen Chancen des Brexit?

Aus Sicht Großbritanniens:

  • Volle, demokratisch legitimierte Kontrolle über die Themen, die aus Sicht der Bürger zu den wichtigsten überhaupt gehören: Z.B. Migration und Sicherheit.
  • Freiheit im internationalen Handel.
  • Mehr internationale Bedeutung.

Aus Sicht der EU:

  • Weckruf: Der Brexit könnte der "Tritt in den Hintern" sein, den die EU braucht, um sich grundlegend zu reformieren. Die EU hat nicht nur in der Einbildung der Briten, sondern auch real tatsächliche Probleme, die sie adressieren muss.
    Der Weg kann dabei zwei Richtungen einschlagen.
  • Mehr Integration: Ohne Großbritannien als "Spaltpilz" könnte die EU den langen Weg zu einem europäischen Bundesstaat entschlossener angehen
  • Weniger Integration: Zurück zu einer Freihandelszone ohne Endziel der politischen Union. Mehr Subsidiarität, die Entmachtung der Nationalstaaten endet. Dieser Weg könnte allerdings auch aus dem Euro als Einheitswährung führen.

Was sind die Kern-Argumente der Befürworter und Gegner des Brexit?

LEAVE

REMAIN
Großbritannien überweist derzeit
350 Mio. GBP pro Woche nach Brüssel und kann dieses Geld besser für das eigene Land verwenden.
EU-FINANZEN Der Vorteil aus der EU-Mitgliedschaft ist finanziell fast 10mal so hoch wie die EU-Beiträge, die Großbritannien leisten muss.
Wiedererlangung der Kontrolle im Bereich Arbeitsrecht, Gesundheit und Sicherheit, wo aktuell Brüssel das Sagen hat. REGULIERUNG Der Großteil der EU-Regulierung ist letztlich positiv, weil so aus 28 nationalen Standards ein EU-weiter Standard wird, was auch der Wirtschaft hilft, weil so Bürokratie sogar vermieden wird. Dennoch verbleiben Probleme, die Großbritannien aber mitlösen/-gestalten kann, wenn es Teil der EU bleibt.
Die Einwanderung aus der EU und von Flüchtlingen ist außer Kontrolle geraten.
Nach dem Brexit kann Großbritannien wertvolle Migranten außerhalb der EU anlocken. Es gibt also weiter Migration, GB kann diese aber nach eigenen Interessen steuern.
MIGRATION Es gibt kein größeres Einwanderungsproblem, Großbritanniens Handelspartner haben höhere Immigrationsraten
als das Land selbst und leben gut damit.
Großbritannien wird mit der EU neue Handelsbeziehungen verhandeln und dies auch mit Staaten außerhalb der EU tun, ohne dabei an EU-Recht gebunden zu sein. Gefürchtete "Bestrafungen" kann sich die EU gar nicht erlauben, weil sie selber viel nach Großbritannien exportiert. HANDEL 45 % der britischen Exporte gehen in die EU, innerhalb der EU kann Großbritannien Exportzölle und -Bürokratie vermeiden.
Großbritannien hat schon jetzt wenig Einfluss in der EU und wird regelmäßig überstimmt. Außerhalb der EU kann Großbritannien eigenständig wichtige Positionen in internationalen Organisationen übernehmen und so vor allem in Sachen Freihandel mehr Einfluss ausüben. EINFLUSS Großbritannien wird in EU-Angelegenheiten nicht mehr mitbestimmen können und wird dennoch viele Regeln einhalten müssen. Das Land hat jetzt schon aus historischen Gründen neben der EU Einfluss in internationalen Fragen. Ein Austritt wird das nicht verbessern.

Und was ist das Fazit?

Selbst die Befürworter des Brexit rechnen damit, dass es am Anfang zu negativen Effekten kommen wird. Die kurzfristigen Folgen dürften auf jeden Fall nicht positiv sein - nicht für die Wirtschaft, und nicht für die Börsen.
Der Brexit ist in jedem Fall für beide Seiten eine tiefgreifende Zäsur, deren langfristige Folgen zudem noch unabsehbar sind.

Beide Seiten haben allerdings im Wahlkampf sehr dick aufgetragen, und dabei Chancen (Leave) und Risiken (Remain) dramatisch übertrieben. Wir sind das ja bereits aus der Grexit-Diskussion gewöhnt, wobei es dort keinen formalen Wunsch der Griechen gab, die Eurozone zu verlassen

Die Welt wird natürlich nicht untergehen wenn Großbritannien die EU verlässt, und selbst ein Europa ohne Euro und auch ohne EU würde funktionieren. Aber viele Errungenschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stehen langfristig auf dem Spiel, sollte der Brexit der Auftakt hin zu einem Zerfall der Europäischen Union darstellen.

In der EU kann es nicht so weitergehen wie bisher. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat das als einer der wenigen Politiker erkannt. "Wir können als Antwort auf einen Brexit nicht einfach mehr Integration fordern", sagte Schäuble kürzlich dem SPIEGEL. " Und weiter: "Auch wenn die Briten mit knapper Mehrheit gegen den Brexit stimmen, müssen wir das als Mahnung und Weckruf verstehen, nicht einfach so wie bisher weiterzumachen"

Ist der Brexit also der finale Stupser, den die EU nach all den Krisenjahren braucht, um sich neu zu erfinden?

Die Debatte über den Kurs der EU wird jedenfalls dramatisch an Fahrt gewinnen. Es drohen unruhige Zeiten, auch an der Börse.

23 Kommentare

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  • dschungelgold
    dschungelgold

    Ja. und ich sehe blocher als euren naechsten regierungschef. . Wer mehr bezahlten urlaub ablehnt , kann nicht mehr alle loecher im kaese haben.

    15:12 Uhr, 25.06. 2016
    1 Antwort anzeigen
  • 1 Antwort anzeigen
  • dschungelgold
    dschungelgold

    Wie man dem artikel entnimmt, laufen diverse versuche die demokratische entscheidung aufzuweichen. gelingt das ist das das offensichtliche ende der Demokratie. Das muss klar sein. Dann wird jedes Volksbegehren sinnlos.

    14:44 Uhr, 25.06. 2016
    1 Antwort anzeigen
  • amateur
    amateur

    Dann schreien Sie doch...

    14:48 Uhr, 24.06. 2016
  • Peter Zumdeick
    Peter Zumdeick

    Heute ist ein großer Tag für die EU ... - auf in die Zukunft ... - auf in ein besseres Europa ... - auf zu weniger Integration, Bevormundung, Zentralstaatlichkeit ... - ein herrlicher Tag ... - ich könnte schreien vor Glück ...

    13:55 Uhr, 24.06. 2016
  • Dieter_HW
    Dieter_HW

    Immer wieder interessant, wie Demokratie letztendlich verstanden wird. Defakto scheint man sich nach Staatsformen zu sehnen wie Somalia oder Kongo. Es ist für mich ungeheuerlich, wie auf eine Mehrheit eingedroschen wird. Da werden plötzlich düstere Szenarien publiziert, der Untergang scheint vorprogrammiert, weil sich die Mehrheit eines Landes nicht so entschieden hat wie die Minderheit es gerne gehabt hätte. SUPER !!!

    Die EU ist ein Haufen arbeitsscheuer, aber geldgeiler, Politiker, die jetzt um ihren Status bangen. Und die Briten haben das einzigst richtige gemacht: nur weg hier. Es war auch keine dumme Entscheidung. Es war die Entscheidung einer Mehrheit.

    13:42 Uhr, 24.06. 2016
    1 Antwort anzeigen
  • Chamäleon
    Chamäleon

    Was das geschis.... um die Briten soll, weiß wohl keiner so richtig, am wenigsten die Briten

    selber.

    Hier will einfach eine Machtelite nicht einsehen, dass deren Zeit abgelaufen ist und England

    kein Empire in der Welt darstellt. Pure Arroganz und Ignoranz führt zu solch dummen

    Entscheidungen und Rückschritten, wobei man bedenke, das die Briten auch Schotten,

    Walser und Nordiren sind. Da kommen für die Briten dann selbstgemachte

    Harakiriprobleme hinzu, die zur Auflösung Großbritaniens führen werden ( als Risiko ).

    Außerdem sind die Briten ohnehin nie wirklich in der EU gewesen (mental) was m.e.

    zu keinen Dominoeffekt bei anderen EU Mitgliedern führen wird. Im Gegenteil, ich denke

    man wird stärker zusammenrücken, reformieren und die Briten werden starke einbußen

    erleben, wenn sie es denn so wollen.

    Der Zahn der Zeit ist, dass die zukünftige Europäische Bevölkerung ein geeintes Europa

    haben will, was aber leider sehr schwer - wegen zu starkes Nationaldenken und Machterhalt -

    umsetzbar sein wird. Aber nichts ist unmöglich, wenn die Alten Generationen, welche uns von

    Fortschritten abhalten, weggestorben sind.

    10:22 Uhr, 23.06. 2016

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Über den Experten

Daniel Kühn
Daniel Kühn

Daniel Kühn ist seit 1996 aktiver Trader und Investor. Nach dem BWL-Studium entschied sich der vielseitig interessierte Börsen-Experte zunächst für eine Karriere als freier Trader und Journalist. Von 2012 bis 2023 leitete Daniel Kühn die Redaktion von stock3 (vormals GodmodeTrader). Seit 2024 schreibt er als freier Autor für stock3. Besondere Interessenschwerpunkte des überzeugten Liberalen sind politische und ökonomische Fragen und Zusammenhänge, Geldpolitik, Aktien, Hebelprodukte, Edelmetalle und Kryptowährungen sowie generell neuere technologische Entwicklungen.

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