Kommentar
10:20 Uhr, 28.02.2022

Wieso steht der Ölpreis trotz Krieg nicht wesentlich höher?

Die Reaktion des Aktienmarktes hat überrascht. Noch ungewöhnlicher war die Reaktion des Ölpreises. Obwohl Russland einer der größten Ölexporteure ist, kam es zu keinem Schock. Wieso?

Russland fördert derzeit ungefähr 10,5 Mio. Barrel Öl pro Tag. Das sind mehr als 10 % der globalen Fördermenge. Entsprechend nervös sollten Anleger eigentlich sein. Der Ölmarkt reagiert auf Ungleichgewichte sehr empfindlich. So lag das Überangebot an Öl zu Pandemiebeginn bei 10 %. Der Ölpreis kollabierte und verlor 70 %.

Seither wird das Angebot von den OPEC+ Staaten begrenzt. Aus einem Überangebot wurde ein kleines Defizit von 1-2 %. Der Ölpreis stieg im Zuge dieser Begrenzung von weniger als 20 Dollar auf nun fast 100 Dollar.

Der Krieg gefährdet das fragile Gleichgewicht auf dem Ölmarkt. Dabei geht es nicht unbedingt darum, dass russisches Öl unter Sanktionen fällt. Krieg ist unvorhersehbar und kann die Exportfähigkeit beeinträchtigen. So kann dem Weltmarkt ungewollt Öl abhandenkommen. Schnell ist der Ölmarkt in einem gefährlichen Defizit.

Umso mehr überrascht es, dass der Ölpreis nur moderat reagierte. Die Sorte Brent stieg über die Marke von 100 Dollar, fiel aber genauso schnell wieder unter diese Marke. Anleger sind ruhig. Das ist umso bemerkenswerter, da die OPEC+ Staaten kaum freie Kapazitäten haben.

Die freien Förderkapazitäten wurden zu Beginn der Pandemie auf 9 Mio. Barrel geschätzt. Mit der gestiegenen Fördermenge sollten theoretisch noch immer über 5 Mio. freie Kapazität existieren. Da jedoch wenig investiert wurde, liegt die freie Kapazität eher im Bereich von 2-3 Mio. Barrel (Grafik 1).

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Die OPEC kann nicht einspringen, wenn russisches Öl fehlt. Man kann auch nicht auf prall gefüllte Lager zurückgreifen. Seit Sommer 2020 leeren sich die Lager und entgegen der ursprünglichen Erwartung setzt sich der Trend Anfang 2022 fort. Aller Wahrscheinlichkeit nach setzt sich der Trend auch bis Jahresende weiter fort (Grafik 2).

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Das Risiko eines Angebotsdefizits ist enorm. Trotzdem kam es zu keinem Ölpreisschock. Wieso?

Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste sind wirtschaftliche Interessen. Die Welt kann es sich nicht leisten auf russisches Öl zu verzichten. Russland ist zu wichtig für den globalen Ölmarkt (Grafik 3). Den Ölsektor zu sanktionieren, würde den Ölpreis auf nie dagewesene Höhen schnellen lassen. Die Folgen wären zweistellige Inflationsraten, eine tiefe Rezession, Benzinrationierung usw. Das kann sich schlichtweg niemand leisten.

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Der zweite Grund sind die Verhandlungen über ein neues Atomabkommen mit dem Iran. Die Verhandlungen sind weit fortgeschritten. Auch wenn sie immer noch scheitern können, ist eine Einigung greifbar. Der Iran kann fehlendes Öl aus Russland nicht ausgleichen. Die freie Kapazität im Iran wird auf eine Mio. Barrel geschätzt. Da aber russisches Öl kaum sanktioniert wird, entspricht iranisches Öl einer zusätzlichen Versorgung. Aus einem kleinen Angebotsdefizit würde ein kleines Überangebot.

Beides hat dazu geführt, dass ein Ölpreisschock ausgeblieben ist. Trotzdem war es überraschend, dass vor allem Ölaktien kaum auf den Kriegsbeginn reagierten. Der Ölsektor tendierte die ganze vergangene Woche seitwärts.

Aktien reagieren zu Wochenbeginn auf die Entwicklungen vom Wochenende, die durch neue Sanktionen und Drohungen von Russland geprägt waren. Auch jetzt reagiert der Ölpreis kaum. Anleger scheinen sich sicher zu sein, dass trotz allem russische Rohstoffe nicht sanktioniert werden. Solange sich an dieser Erwartungshaltung nichts ändert, dürfte auch ein Ölpreisschock ausbleiben. Einige Analysten hatten mit einem Preis von 140 Dollar gerechnet. Zumindest aktuell erscheint dies unwahrscheinlich.

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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