Kommentar
17:19 Uhr, 22.11.2021

Was wurde eigentlich aus Europas Energiekrise?

Manche Meldungen verschwinden so schnell wie sie gekommen sind. Das Problem ist damit nicht gelöst. Eines bleibt nach wie vor wahr: Es darf kein kalter Winter werden.

Neue Rekorde hat der europäische Gaspreis nicht erreicht. Dennoch ging es mit dem Preis in der vergangenen Woche noch einmal deutlich nach oben. Allein an einem einzelnen Tag sprang der Preis um fast 20 % nach oben (Grafik 1). Dahinter steckte eine Verzögerung bei der Zertifizierung der Nord Stream 2 Pipeline.


Das Verfahren zur Zertifizierung wurde vorläufig ausgesetzt. Die Gegner der Pipeline feierten dies. Bereits jetzt bezieht die EU über 40 % ihres Erdgasbedarfs aus Russland. Nord Stream 2 hat eine Kapazität von 55 Mrd. Kubikmetern pro Jahr. Damit würde allein diese Pipeline eine Kapazitätserhöhung von 14 % bewirken.

Russland könnte nach Inbetriebnahme der Pipeline über 50 % des Bedarfs der EU decken. Langfristig wird der Marktanteil wieder sinken. Die Importe steigen tendenziell (Grafik 2) und Erdgas wird von vielen als Brückentechnologie in der Energiewende gesehen. Sofern nicht weitere Kapazitäten gebaut werden, muss die EU aus anderen Ländern mehr importieren. Russlands Marktanteil würde so auf natürliche Art fallen.


Die Importe bis Ende des dritten Quartals lagen unter dem Vorjahreswert. Die Gasspeicher sind zwar nicht leer, doch das Niveau liegt 20 % unter dem Vorjahr. In der kalten Jahreszeit wird mehr Gas verbraucht als importiert werden kann. Die Speicher leeren sich. Im Normalfall sinkt der Bestand in den Speichern im Winter um 50-75 %. Da die Speicher leerer als sonst sind, wäre ein kalter Winter fatal. Gas könnte knapp werden.

Niemand will flächendeckende Stromausfälle und kalte Gasheizungen, auch Russland nicht. Nord Stream 2 und die bestehenden Kapazitäten bedeuten viel Geld für Russland. Liefert Russland, wie ihm vorgeworfen wird, zu wenig Gas, untergräbt dies die Position Russlands. Man will zuverlässige Lieferanten.

Russland kann sich jedoch auf den Standpunkt stellen, dass die EU ohnehin keine Alternative hat. So lässt sich über geringere Gaslieferungen Druck aufbauen, um die Zertifizierung von Nord Stream 2 zu erzwingen. Wer das allerdings glaubt, hat noch keine Bekanntschaft mit der Bürokratie gemacht.

Nord Stream 2 wird derzeit nicht zertifiziert, weil nach EU-Recht Netzbetreiber und Lieferanten nicht die gleichen Unternehmen sein dürfen. Dieses Kriterium wird nicht erfüllt. Über eine Tochtergesellschaft von Gazprom gehört dem Lieferanten (Gazprom) auch der Großteil der Pipeline. Das ist nicht konform.

Die Pipeline muss ausgegliedert und in eine deutsche Gesellschaft überführt werden. Anders geht es nicht. Das Problem der Zertifizierung ist, wenn man so will, ein Verfahrensfehler. Es hat nichts mit drohenden US-Sanktionen oder den Bedenken anderer europäischer Länder zu tun.

Russland kann da noch so viel Druck machen, es wird wenig nützen. Kurzfristig ist ohnehin nicht klar, weshalb Russland eine leicht konfrontative Haltung einnimmt. Das Land sitzt auf Geldbergen (Devisenreserven, Grafik 3). Das Geld ist nicht dringend notwendig.


Je länger Nord Stream 2 nicht in Betrieb geht, desto höher ist natürlich die Gefahr, dass es gar nicht mehr dazu kommt. Das ist nicht im geostrategischen Interesse Russlands. Über die Ukraine als Transitland wird so viel Gas nach Europa geliefert wie potentiell durch Nord Stream 2. Trotz aller Beteuerungen hat Russland eine Alternative zum Transit durch die Ukraine. Ohne die Abhängigkeit des Transits fällt eine gewisse Sicherheitsgarantie für die Ukraine weg.

Solange Nord Stream 2 nicht in Betrieb ist, ist Russland auf Transitländer angewiesen. Das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern auch Weißrussland. Dieses drohte an, den Hahn zuzudrehen. Putin machte allerdings klar, dass das keine Option ist. Damit wurde aber auch klar, dass Russland Europas Energiekrise lösen könnte, wenn es nur wollte. Das will es nicht. Die Krise kommt sogar gelegen. Geostrategisch ist Nord Stream 2 für Russland essentiell.

Dem Land, den Unternehmen und der Bevölkerung nutzt es wenig. Russland stagniert seit Jahren. Das zeigt sich auch am Aktienmarkt (Grafik 4). Putin scheinen geostrategische Schachzüge lieber zu sein, als das Land voranzubringen. Dafür werden auch Sanktionen in Kauf genommen.


Russland mauert sich ein. Dazu zählt auch die schnelle Anhäufung von Devisenreserven. Diese dienen als Sicherheit. Im Prinzip versucht Russland die Quadratur des Kreises. Auf der einen Seite will es expandieren und annektieren, auf der anderen Seite will es das Geschäft der EU, um sich finanziell abzusichern. Wir werden sehen, ob das auf Dauer funktioniert.

Clemens Schmale


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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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