US-Wahlen – so richtungsweisend?
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Eine spannende Wahl, die nicht unbedingt so folgenreich ist, wie sie sich anfühlen wird
„Die wichtigste Wahl unseres Lebens“ ist ein beliebtes Klischee unter US-Politikexperten. Schlagzeilenautoren und Werbeagenturen neigen dazu, diese Aussage fast alle vier Jahre zu verbreiten. In dieser Hinsicht wird auch das Jahr 2024 nicht anders sein – aber es wird sich auffallend anders anfühlen, nicht zuletzt für Anleger auf der ganzen Welt. Wir behaupten, dies reflektiert nicht nur die Erfahrungen der letzten acht Jahre: politische Turbulenzen, angefangen mit der Brexit-Saga, die zu Marktturbulenzen führen. Sondern vielmehr – und wie wir in unserem Special zur US-Wahl 2020 betonten – erlebt die US-Politik einen jener richtungsweisenden Umbrüche, die nur alle paar Jahrzehnte vorkommen. In hohem Maße spiegelt dies die sich verändernte Wählerschaft der beiden großen Parteien wider.
In der Wirtschaftspolitik, insbesondere im Außenhandel, war die Abkehr vom republikanischen Denken der Reagan-Ära der 1980er Jahre bereits 2020 in vollem Gange. Wir sehen zunehmend Zeichen für ähnliche, aber zunehmend unberechenbare Wendungen im republikanischen Denken, weit über den Außenhandel hinaus, von der Außenpolitik bis hin zur Geldpolitik. Die Hilfe für die Ukraine ist ein Paradebeispiel dafür, wie zerstritten die Republikaner im Kongress sind.
Solche Zwistigkeiten sind – in beiden Parteien – keine Unbekannten. Die wachsende Tendenz der Republikaner, den Blick nach innen zu werfen, hat tiefe Wurzeln im konservativen Denken. Das letzte Mal, als Isolationismus kurz davor stand, zu einer dominierenden Idee innerhalb der Partei zu werden, liegt allerdings schon einige Zeit zurück: man müsste auf den Nominierungskampf der Republikaner im Jahr 1940 und Wendell Willkies Überraschungssieg über jene zurückblicken, die damals unter dem Motto „Amerika First“ das Land aus dem Krieg in Europa heraushalten wollten. Derzeit sollten der Einfluss und die Persistenz eines ausgewachsenen amerikanischen Isolationismus-Gedanken jedoch nicht überbewertet werden. Jede republikanische Regierung, egal ob sie nach 2024, 2028 oder 2032 an die Macht kommt, wird zwangsläufig mit globalen Realitäten konfrontiert werden, so wie sie sie am Tage ihrer Amtseinführung vorfindet. Nichtsdestotrotz ist es nicht verwunderlich, dass Amerikas Freunde und Verbündete auf der ganzen Welt auf jede noch so kleine Wendung dieses speziellen US-Wahlkampfs mit großem Interesse und gewisser Besorgnis blicken. Nicht zuletzt im Lichte des Fernsehduells zwischen den beiden Kandidaten in der vergangenen Woche und zahlreichen Aufforderungen, Joe Bidens möge sich aus dem Rennen zurückziehen. Solche Szenarien waren nie auszuschließen, aber wir würden vor allzu schnellen Schlüssen warnen. Ein wenig Geduld dürfte angebracht sein, zumindest bis mehr Umfrageergebnisse vorliegen – die Reaktionen der Wähler können ziemlich unvorhersehbar sein.
1 / Amtszeitbeschränkungen und der nächste US-Präsident
1.1 Die Chancen stehen weiter gut, dass der nächste Präsident recht schnell zu einer „lahmen Ente“ wird.
Aus Marktperspektive hingegen gibt es ein besonderes Merkmal der US-Präsidentschaftswahlen 2024, das sich möglicherweise als weitaus bedeutsamer erweisen dürfte. Man möge es als das am meisten übersehene Alleinstellungsmerkmal dieser Wahlsaison und ihrer Folgen in Bezug auf die US-Wirtschaft und die Finanzmärkte betrachten.
Denn zumindest in einer wichtigen Hinsicht wird das Jahr 2024 wahrscheinlich objektiv beispiellos sein. Es erscheint weiter wahrscheinlich, wenn auch keineswegs sicher, dass es zu einem weiteren Zweikampf zwischen den Nominierten der beiden großen Parteien von 2020 kommt und kein anderer Kandidat eine große Chance hat. Falls dies zutrifft, wäre dies das erste Mal seit über 100 Jahren, dass ein amtierender US-Präsident und ein ehemaliger Amtsinhaber bei den allgemeinen Wahlen gegeneinander antreten (1912 kommt dem am Nächsten). Alle vorherigen Fälle ereigneten sich zudem vor der Ratifizierung des 22. Zusatzartikels zur US-Verfassung im Jahr 1951, der die Amtszeit eines Präsidenten auf zwei Amtszeiten beschränkt. Dies bedeutet, dass – egal ob Trump oder Biden dieses Jahr gewinnt – der nächste Präsident höchstwahrscheinlich eine Amtszeitbeschränkung haben wird, es sei denn, die Verfassung wird geändert, was äußerst schwierig wäre. Zumindest im modernen US-Kontext haben erfahrene Beobachter und sogar Historiker so etwas noch nie erlebt.
Es ist recht schwierig, die Implikationen der Amtszeitbeschränkung für bestimmte Politikbereiche zu durchdenken. Der Begriff „lahme Ente“ (“lame duck“) scheint auf die Londoner Börse (LSE) des 18. Jahrhunderts zurückzugehen und bezeichnete ein Mitglied, das seine Schulden nicht begleichen konnte und deshalb gezwungen war, die Börse zu verlassen (d. h. seine LSE-Mitgliedschaft verlor). Ebenso wie die Gefahr eines Zahlungsausfalls kann die Aussicht darauf, eine „lahme Ente“ zu werden, risikofreudiges Verhalten fördern. In der Politik bezieht sich der Begriff typischerweise auf einen ineffektiven Führer – jemanden, der noch im Amt ist, aber nicht mehr viel Macht ausübt, beispielsweise einen US-Präsidenten in seiner zweiten Amtszeit, der bei den Halbzeitwahlen eine schwere Niederlage erlitten hat.
Um diese Idee auf das Jahr 2024 und die kommende Amtszeit anzuwenden, muss man verstehen, woher die Macht des Präsidenten – in den USA und anderswo – kommt. Das US-Präsidentenamt mag das mächtigste gewählte Amt der Welt sein. Aber wie in anderen stark persönlichkeitsbasierten Machtsystemen beruht der Einfluss des US-Präsidenten teilweise darauf, zu entscheiden, wer bestraft und wer belohnt wird – und das nicht nur in der Gegenwart, sondern auch weit hinein in die Zukunft. Je kürzer oder unsicherer dieser zukünftige Zeithorizont ist, desto weniger glaubwürdig werden präsidentielle Drohungen bzw. in Aussicht gestellte Belohnungen.
Ähnliche Dynamiken sind in jedem persönlichkeitsbasierten System am Werk: Manche davon sind sogar anhand alternder Könige oder betagter Autokraten leichter zu verstehen, als bei demokratisch gewählten Politikern. In solchen Systemen wenden die Machthaber das Teile-und-Herrsche-Prinzip oft absichtlich auf die Eliten an. Alles wirkt beständig, bis der Autokrat schwer erkrankt, einen massiven Popularitätsverlust erleidet oder einfach ein Alter erreicht, das die Erwartung eines Machtwechsels nährt und eine Welle von Spekulationen über mögliche Nachfolger auslöst.
Unserer Ansicht nach ist dieser grundlegende Fakt über die Wahl 2024 wichtiger als alles, was die beiden Spitzenkandidaten zwischen jetzt und dem Wahltag im November sagen oder versprechen werden. Sofern es bei den Präsidentschaftskandidaten der beiden Parteien keinen Wechsel gibt (und ein anderer Republikaner oder Demokrat die aktuellen Kandidaten ersetzt), ist es aufgrund der Amtszeitbeschränkungen in den USA absehbar, dass einer der beiden Spitzenkandidaten früher oder später zur lahmen Ente wird.
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