Sind nachhaltige Anleihen die neuen Smartphones?
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Nachhaltige Anleihen boomen. Aber ist das mehr als nur ein Strohfeuer? Und brauchen die Märkte wirklich eine so große Bandbreite an Angeboten? Die ersten Smartphones hatten kaum Apps, die WLAN-Verbindung brach ständig ab, und ein hohes Datenvolumen war schon allein wegen der horrenden Kosten purer Luxus. Und doch sind Smartphones heute omnipräsent. Mit nachhaltigen Anleihen verhält es sich ähnlich: Gab es in diesem Segment jahrelang nur Green Bonds, sind sowohl Nachfrage als auch Angebot in den letzten Jahren regelrecht explodiert.
So ist das Emissionsvolumen nachhaltiger Anleihen nach Angaben des Datenanbieters Refinitiv 2020 auf den Rekordwert von 554,3 Mrd. USD gestiegen und hat sich damit gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Zwar wurde mit 222,6 Mrd. USD auch bei Green Bonds ein neuer Höchststand erreicht, doch insgesamt ist das Spektrum viel breiter geworden und reicht von sozialen und nachhaltigen Anleihen über Sustainability-Linked Bonds, die fest an ein konkretes Nachhaltigkeitsziel gekoppelt sind, bis hin zu Klimaschutzanleihen.
Dass der Markt so stark wächst, hat verschiedene Gründe – allen voran eine Reihe von neuen Vorschriften und das von vielen Großkonzernen und nationalen wie supranationalen Organisationen ausgerufene Ziel der Klimaneutralität. So hat etwa die Europäische Union (EU) ihren Aktionsplan „Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ aufgelegt, mit dem sie den Übergang in eine nachhaltigere Welt nach der Coronakrise fördern will.
Außerdem haben die Unternehmen großes Interesse daran, sich die gestiegene Nachfrage zunutze zu machen. „Den Firmen wird bewusst, dass sich hier Finanzierungsquellen für ihre allgemeineren strategischen Ziele auftun, und der Markt wächst in allen Segmenten“, so Richard Butters, ESG-Analyst bei Aviva Investors.
Die Zahlen sprechen Bände: 2020 wurden soziale Anleihen im Wert von 164 Mrd. USD ausgegeben – zehnmal so viel wie 2019. Bei nachhaltigen Anleihen konnte das Volumen gegenüber 2019 mehr als verdreifacht werden und stieg auf 127,6 Mrd. USD. Zum Vergleich: Da die Sustainability-Linked Bond Principles erst im Juni 2020 veröffentlicht wurden, haben bis September 2020 nur vier Unternehmen Papiere emittiert, die mit diesen Standards konform sind: Enel, Suzano, Novartis und Chanel.
Wurde das Terrain jahrelang hauptsächlich von Akteuren aus den Branchen Finanzen, Immobilien, Versorgung und erneuerbare Energien bespielt, diversifiziert sich das Feld der Emittenten nun zusehends. So traten 2020 neben Autokonzernen auch Konsum- und Luxusgüterhersteller sowie Mobilfunkanbieter auf den Plan.
Doch wenn Anleger herausfinden wollen, ob eine nachhaltige Anleihe ihre Auswahlkriterien wirklich erfüllt, kommen sie nicht umhin, auch das Kleingedruckte zu lesen. So lässt sich erstens feststellen, ob bestimmte Nachhaltigkeitsanleihen besser sind als andere. Zweitens können Anleger nur so sicherstellen, dass sie mit ihrer Anlageentscheidung wirklich eine Wirkung erzielen. Schließlich ist die Aussagekraft vieler Labels begrenzt, bieten diese doch oftmals keinen Schutz vor sogenanntem „Greenwashing“ – einer verkaufsfördernden „grünen Hülle“ für ein im Grunde konventionelles Produkt.
Die Qual der Wahl
Die International Capital Market Association (ICMA) hat vier Grundsatzkataloge herausgegeben, die Standards für nachhaltige Anleihen vorgeben: die Green Bond Principles (GBP), die Social Bond Principles (SBP), die Sustainability Bond Guidelines (SBG) und die Sustainability-Linked Bond Principles (SLBP). Hinzu kommt noch ein Handbuch mit dem Titel „Climate Transition Finance Handbook 2020“.
Um nach den ICMA-Standards als grüne, soziale oder nachhaltige Anleihe eingestuft zu werden, gelten bestimmte Kriterien für vier Aspekte: Erlösverwendung, Projektbewertung und auswahl, Erlösverwaltung und Berichterstattung – jeweils mit Prüfung durch unabhängige Dritte.
Ziel von Sustainability-Linked Bonds (SLBs) ist es, die Anleihemärkte noch stärker in die Nachhaltigkeitsfinanzierung und förderung einzubinden. Verglichen mit den ersten drei Kategorien sind SLBs zukunftsorientierter.
Zudem weist die ICMA in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es durchaus einen Markt gebe für nachhaltigkeitsorientierte Anleihen, die beispielsweise an die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs) gekoppelt sind und zum Teil von Organisationen begeben werden, die hauptsächlich oder vollständig Nachhaltigkeitszwecke befolgen. Gleichwohl würden die vier Kernelemente der Prinzipien bei diesen Anleihen nicht unbedingt berücksichtigt.
Alternativ zur ICMA-Systematik kann die Ausrichtung von Anleihen und Darlehen auf „grüne“ Zwecke oder die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens auch mit dem „Climate Bonds Standard“ der Climate Bonds Initiative (CBI) zertifiziert werden.
Im Dickicht der Standards
Die große Bandbreite an Standards stiftet mitunter Verwirrung: Zunächst müssen sich Anleger bewusst sein, woher die Einstufung als „grün“ oder „nachhaltig“ überhaupt stammt, dann die dafür herangezogenen Kriterien auswerten und sie mit ihren eigenen Anlagerichtlinien abgleichen.
Innerhalb der ICMA-Taxonomie sind Green Bonds wohl am stärksten etabliert, doch mit dem immer schnelleren Übergang in eine nachhaltigere Welt scheint ihr Entwicklungsspielraum begrenzt. Die Erlöse wurden nicht immer für rein grüne Zwecke eingesetzt, was in der Vergangenheit kaum überwacht werden konnte. So begab etwa Repsol im Jahr 2017 eine grüne Anleihe, deren Erlöse in die Effizienzsteigerung seiner Ölraffinerien fließen sollten.
Wegen solcher Kontroversen waren Green Bonds in der Vergangenheit nahezu ausschließlich Emittenten vorbehalten, die schon vorher ein grünes oder nachhaltiges Image hatten. Firmen mit schlechterem Nachhaltigkeitsprofil blieb diese Finanzierungsquelle für eine Umstellung auf ein umweltfreundlicheres Geschäftsmodell hingegen oftmals verwehrt. Für Anleger ergibt sich daraus ferner ein Konzentrationsrisiko.
Zudem dienen viele Anleihen, die an eine bestimmte Mittelverwendung gekoppelt sind, der Finanzierung früherer Investitionen. So verantwortungsvoll der Emittent die Mittel damit zweifelsohne einsetzt, so stellt sich doch die Frage, inwieweit das Geld zur rückwirkenden Finanzierung bereits gestarteter Projekte genutzt werden sollte.
Mit der verstärkten Dynamik beim Übergang in eine nachhaltigere Welt entstand ein Bedarf an neuen Arten von Anleihen, die den Wandlungsbemühungen der Wirtschaft besser gerecht würden. Die Stunde der SLBs und Klimaschutzanleihen hatte geschlagen.
„Ich habe ein Faible für Sustainability-Linked Bonds, die an das Gesamtgeschäft einer Firma gekoppelt sind. Genial sind Strukturen, bei denen Unternehmen Leistungskennzahlen für ihr gesamtes Geschäft vorgeben und dann Anleihen ausgeben, die daran gebunden sind“, schwärmt Tom Chinery, Investment Grade Credit Portfolio Manager bei Aviva Investors.
Da diese Kategorie von Papieren zudem den Einsatz von Mitteln auch abseits konkreter Projekte ermöglicht, können Anleger damit sinnvolle Maßnahmen einer größeren Bandbreite von Unternehmen unterstützen.
„Ein emissionsintensives Unternehmen mit ehrgeizigen Einsparzielen macht für die Umwelt einen viel größeren Unterschied als ein emissionsarmes Unternehmen, das sich zur Reduzierung seines CO2-Ausstoßes um 0,01 Gramm pro Jahr verpflichtet. Darum gefällt mir das Konzept von Enel: Hier soll die Gesamtsumme an CO2-Emissionen massiv gedrückt werden. Das hat eine echte Wirkung“, so Chinery.
Wie sich die Wirkung von SLBs am besten in Standards fassen lässt und ob es angesichts der Vielzahl an Anleihekategorien wirklich spezifischer Klimaschutzbonds bedarf, wird kontrovers diskutiert. Doch ob Green Bond, konventionelle Anleihe oder SLB: Entscheidend für den Anleger ist doch, dass er nachvollziehen kann, was im Gesamtunternehmen passiert und ob es mithilfe der Erlöse wirklich einen nachhaltigeren Weg einschlagen kann.
Einflussnahme und Engagement
Nachhaltigen Anleihen sind an zwei Stellen Grenzen gesetzt: Erstens ist selbst die grünste Anleihe keine Garantie dafür, dass ihr Emittent wirklich nachhaltiger wird.
Natürlich ist die Fundamentaldatenanalyse von Unternehmen mitunter ressourcenintensiv, und Green Bonds bieten Anlegern mit eher kleinem Team eine einfache Möglichkeit, sich an den Übergangsbemühungen zu beteiligen. Doch es besteht das Risiko begrenzter Wirkung, denn Green Bond-Projekte schlagen sich auf Unternehmensebene nicht zwangsläufig in vergleichsweise niedrigen oder rückläufigen Emissionen nieder.
Zweitens sind Anleger im Sinne der Risikostreuung auf Diversifizierungsoptionen angewiesen und können nicht ausschließlich auf grüne Sektoren setzen.
„Früher stieß man bei Green Bond-Anlagen immer auf die gleichen Branchen und Unternehmen, wodurch herkömmliche Methoden zur Risikominderung und eine diversifizierte Portfoliozusammensetzung deutlich erschwert wurden“, erklärt Chinery.
Hier kommt das Engagement der Anleger ins Spiel: Können sie die Unternehmen zur Offenlegung wichtiger Kennzahlen bewegen, ergibt sich für Anleger im Gegenzug die Möglichkeit, ihr Geld wirkungsvoller einzusetzen. Von verstärkter Transparenz profitieren zudem auch kleinere Anleger mit weniger Ressourcen.
Nicht selten wird unterstellt, dass Anleger in Unternehmensanleihen – mangels Stimmrecht – keinen Einfluss üben können. Doch das ist weit gefehlt: Über Branchenorganisationen wie die ICMA oder interne Zusammenschlüsse der Credit- und Aktienabteilungen ergeben sich durchaus Gestaltungsspielräume.
„Wenn wir mit den Emittenten in den Dialog treten, bringen wir damit oft unternehmensweite Aktionen in Gang. Doch der Trend zu nachhaltigen Schuldtiteln eröffnet uns auch neue Kanäle, um uns Gehör zu verschaffen – vorausgesetzt, wir bringen unsere Bedenken wirklich zur Sprache, etwa wenn wir glauben, dass bei der Zertifizierung nach einem der Standards für nachhaltige Anleihen „Greenwashing“ oder „Socialwashing“ im Spiel ist.
Mehr als ein Strohfeuer
Ein anderer Aspekt, den Anleger wie Emittenten genau im Blick behalten werden, ist die Frage nach den Emissionskosten nachhaltiger Anleihen im Vergleich zu ihren konventionellen Pendants.
Für ein abschließendes Bild ist es noch zu früh, aber die anekdotische Evidenz ist hochinteressant. Bei Volkswagen etwa liegt die Rendite einer grünen Anleihe mit Fälligkeit 2028 unter der eines konventionellen Papiers mit vergleichbarer Laufzeit (0,5 Prozent gegenüber 0,42 Prozent, Stand: 9. Februar 2020). Ein Grund dafür könnte die vergleichsweise große Vertrautheit europäischer Anleger mit nachhaltigen Anleihen sein – auf Europa entfiel 2020 mehr als die Hälfte des weltweiten Emissionsvolumens.
In den USA hingegen rentieren die soziale Anleihe der Citigroup mit Fälligkeit 2024 (0,61 Prozent) und ihre Green Bonds (0,86 Prozent) höher als ihre konventionellen Papiere (0,53 Prozent). Vielleicht ein Ausdruck dessen, dass die USA Europa in puncto Nachhaltigkeit hinterherhinken? Wobei natürlich nicht gesagt ist, dass diese Aufschläge mit der weiteren Entwicklung des Marktes nicht schnell dahinschmelzen werden.
Weitaus sicherer ist die Erkenntnis, dass sich der Markt für nachhaltige Anleihen weltweit extrem dynamisch entwickelt.
So gab Total am 9. Februar bekannt, ab sofort alle neuen Anleihen an Nachhaltigkeitsziele zu koppeln – ein Novum in der Geschichte. Auch wenn Anleger nach wie vor Obacht hinsichtlich Greenwashing-Versuchen walten lassen müssen, könnte dieser Schritt den Markt revolutionieren, wenn genug Emittenten dem Beispiel von Total folgen.
„Je höher der Stellenwert, den Anleger ESG-Aspekten einräumen, desto tiefer werden Anbieter mit schwachem Nachhaltigkeitsprofil für ihre Fremdmittel in die Tasche greifen müssen“, vermutet Chinery. „Noch lässt sich hier kein eindeutiges Gefälle erkennen, aber der Weg führt nur in eine Richtung.“
Anmerkung
Für die Zwecke dieses Artikels umfasst der Begriff „nachhaltige Anleihen“ das gesamte Universum aus grünen, sozialen und nachhaltigen Anleihen, Sustainability-Linked Bonds und Klimaschutzanleihen.
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