Kommentar
07:48 Uhr, 23.11.2016

Paradox: Mehr Integration durch EU-Skeptiker?

Europa ist komplex. Möglicherweise ist Europa so komplex, dass EU-Skeptizismus zu mehr Europa führt.

In den letzten Jahren hat sich immer mehr gezeigt, dass Europa praktisch handlungsunfähig ist. Es gibt so viele verschiedene Interessen und Ausgangslagen, dass am Ende von Verhandlungen ein Kompromiss steht, der wenig bewegt. Das kann sich mit dem Aufwind populistischer Parteien ändern.

Es wäre schon ein Paradoxon allererster Güte, wenn europaskeptische Parteien am Ende aller Tage zu mehr Europa führen. Genau das kann jedoch geschehen. Es kann dabei auf zwei Arten geschehen. Entweder bekommen die derzeit regierenden Parteien so viel Angst vor dem Machtverlust, dass die Handlungsunfähigkeit durchbrochen wird oder populistische Parteien selbst führen die Integration an.

Auf den ersten Blick erscheint nur der erste Fall möglich. Bereits jetzt zeigt sich in vielen Ländern eine etwas laxere Umsetzung von Budgetregeln. Die EU hebt zwar den Finger, aber letztlich wird kaum gehandelt. Man hat Angst, dass eine zu starke Regeltreue den populistischen Parteien noch mehr Aufwind gibt.

Inzwischen rennen die meisten Regierungschefs nach Brüssel und drohen mit dem politischen Kollaps, wenn der Staat die Ausgaben nicht steigert. Man will sich aus der wirtschaftlichen Misere nicht heraussparen, sondern durch Ausgaben punkten. Deutschland bleibt zwar Sparmeister, aber eher mit symbolischer Wirkung.

Nun ist es nicht nur das Spardiktat, welches die Leute auf die Straße bringt. Es ist auch die Politik der deutschen Regierung, die anderen Ländern die eigene Flüchtlingspolitik aufdrängen will, obwohl selbst im eigenen Land kaum Rückhalt dafür gegeben ist. Das gibt den Parteien Rückenwind, die die Grenzen dichtmachen wollen.

Nun gibt es jedoch bei allen Bestrebungen der Abschottung eine große Gemeinsamkeit. Man will vor allem die EU-Außengrenzen durch eine sinnbildliche Mauer schützen. Keiner hat ein ernstzunehmendes Interesse daran, die innereuropäischen Grenzen zu schließen. Selbst die meisten Parteien, die durch EU Skeptizismus Stimmen gewinnen, wollen die EU.

Euroskeptiker gehen zwar mit Anti-EU Parolen auf Stimmenfang, doch sind sie erst einmal an der Macht oder nahe daran, ändert sich plötzlich alles. So manches Versprechen, die Bevölkerung über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen, wurde inzwischen wieder eingefangen. Plötzlich war nie die Rede davon.

Fast jeder hat inzwischen erkannt, dass es ohne die EU nicht mehr geht. Das gilt noch sehr viel stärker für die Mitglieder der Eurozone. Selbst Griechenland, unter dem strengsten Spardiktat von allen, will in der Währungsunion und der EU bleiben.

Man braucht sich gegenseitig. Ob jemand nun wirtschaftsliberal oder eher protektionistisch ist, ohne den Nachbarn geht es nicht. Liberale Fraktionen sehen im freien Austausch (Güter, Kapital, Menschen) den Weg zur Prosperität. Protektionisten sehen das anders, aber auch sie brauchen einen Nachbarn.

Im Protektionismus geht es um „beggar thy neighbor“ Politik. Es geht darum, sich auf Kosten des Nachbarn zu bereichern, indem man z.B. Zölle auf Importe erhebt, um Arbeitsplätze zurückzuholen. In der EU gibt es diesen Nachbarn nur außerhalb der Außengrenzen. Will man das sinkende Schiff innerhalb der EU retten, dann geht „beggar thy neihbor“ nur durch mehr Integration.

Länder wie Italien, Frankreich oder Griechenland sind am Limit. Das Wachstum ist gerade so positiv. Obwohl große Defizite angehäuft wurden, kommt die Wirtschaft nicht voran. Im eigenen Land ist man noch handlungsunfähiger als auf EU-Ebene. Will man sich aus diesem Schlamassel befreien, dann braucht es die Nachbarn. Konkret braucht es ihr Geld.

An das Geld kommt man nur durch mehr Integration. Budgetziele kann man zwar unilateral ignorieren, doch der Finanzmarkt quittiert das sofort. Man betrachte nur die Situation in Portugal. In Italien steigen die Renditen für Staatsanleihen, seitdem die Möglichkeit besteht, dass Renzi das Referendum Anfang Dezember verliert.

Kommen Populisten an die Macht, dann zwingt sie der Finanzmarkt schnell zu einem Umdenken. Sie können sich dann zwischen zwei Optionen entscheiden: sie beugen sich der Spar- und Reformpolitik oder sie machen einen Schritt Richtung mehr Integration. Mehr Integration bedeutet ein neuer Kompromiss in Europa, dass nicht mehr gespart werden muss.

Isoliert sich ein einzelnes Land und schert aus der gemeinsamen Politik aus, dann sind die Tage der Regierung schon gezählt. Die Finanzierungskosten der Schulden steigen, es droht mittelfristig die vollkommene fiskalische Lähmung oder der Bankrott. Nur ein gemeinsames, neues Verständnis kann die Politik ändern und funktionsfähig machen.

Frankreich kann es sich im Alleingang nicht leisten das Volk auf Basis neuer Schulden glücklich zu machen. Tun dies alle in der EU mit dem Segen Brüssels und vor allem auch dem Segen der EZB, dann sieht die Sache anders aus. Ziehen alle am gleichen Strang, dann ist klar, dass dahinter nicht nur ein gemeinsamer Wille, sondern vor allem die Bilanz der wirtschaftlich starken EU Länder steht. Ohne die Bilanz dieser Länder können die 5 Sterne Bewegung in Italien oder Marine Le Pen in Frankreich auf und nieder springen wie sie wollen – ihre Pläne werden nicht funktionieren.

So kommt es also zu der äußerst paradoxen Situation, dass – sofern im kommenden Superwahljahr ein politischer Ruck durch die EU geht – die Anti-Establishment-Parteien das erreichen werden, was andere nicht erreicht haben: mehr Integration.

Clemens Schmale

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3 Kommentare

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  • StefanS
    StefanS

    Es ist doch eine recht transparente Strategie supranationaler Interessensgruppen Zwist innerhalb von Ländern und Staatengemeinschaften zu schüren um nach dem folgenden Chaos wieder mit engeren Korsetts für Ordnung zu sorgen, da der Bürger in erster Linie Sicherheit sucht, selbst wenn diese diktatorische Züge in sich trägt. Die Konsequenz aus der Destabilisierung der Inneren Sicherheit oder der sog. "Terrorgefahr" in Deutschland und in den USA ist die Aufrüstung der Überwachungsorgane und -Instrumente, die Konsequenz aus Trump etc ist kein Gegenlenken der Politik, sondern Meinungszensur, die Konsequent aus dem Erstarken Russlands sind Aufrüstung und Kalter Krieg Propaganda, gerade durch die EU. Mit Hilfe des IWF und der Ratingagentur kann man die wirtschaftlichen Kollateralschäden der in Teilen selbst induzierten Krisen, bspw, Bewältigung der "plötzlich auftretenden" Massenmigration zu einem beliebigen Zeitpunkt eskalieren und sich dann später als Retter frei nach dem Motto "Wir können die Krise nur gemeinsam bewältigen" positionieren. Dann ist die Abtretung nationaler Freiheitsgrade nur noch eine Formsache. Wer das in groben Zügen nachvollziehen will liest 1984. Ernüchternd.

    15:51 Uhr, 23.11.2016
  • Supereifelyeti
    Supereifelyeti

    Hallo Herr Schmale, ich möchte ihnen einmal herzliches Dankeschön sagen für all die Artikel, die hier aufgeführt werden, worden sind. Sie kommentieren meist recht meinungsfrei und unpolitisch. Vor allem schauen Sie auch mal unpopolistisch hinter die Kulissen. Weiter so! Wir freuen uns auf weitere finanzpolitische Analysen.

    Danke für Iher Tätigkeit

    08:42 Uhr, 23.11.2016
    1 Antwort anzeigen

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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