Kommentar
12:02 Uhr, 02.11.2007

Öl bei über 90 US- Dollar – aktuelle Lage und Zukunftsaussichten

Öl hat die 90-Dollar-Marke überschritten (per 2.11.07, 9:46 Uhr, WTI Rohöl $ 92,17 pro Barrel) und ING Investment Management sieht noch Potenzial für weitere Preissteigerungen. Unser Portfoliomanager und Erdölexperte Frederic von Parijs erklärt, warum die Ironie des Schicksals es trotzdem will, dass die großen internationalen Ölkonzerne wie Exxon, BP, Total und Shell in der Zwickmühle stecken. Auf die höheren Preise der letzten Jahre reagierte die Nachfrage sehr elastisch, während insbesondere die Nicht-OPEC-Länder ihr Angebot nicht spürbar anhoben. Gelegentlich kam es zwar zu einer vorübergehenden Abschwächung der Nachfrage, wenn die Preise an der Quelle allzu schnell stiegen. Dies war jedoch lediglich Zeichen dafür, dass Autofahrer sich erst an höhere Preise gewöhnen mussten. Hinweise auf grundlegendere Änderungen gibt es nicht. Auch wenn Bezinkosten einen großen Teil unserer Haushaltsbudgets ausmachen, sind wir noch weit von einem realen Nachfragerückgang wie in der Energiekrise der frühen Achtzigerjahre entfernt.

Aus den hohen Ölpreisen erwächst vermutlich der US-Konjunktur das größte kurzfristige Risiko. Das die Nachfrage nach Kraftstoff-Erdöl neuerdings wieder nachgegeben hat, dürfte eher auf eine schwächere Konjunktur und entsprechend weniger Transportkilometer zurückzuführen sein, als auf eine Preisexplosion an der Quelle. Es ist kaum vorzustellen, was passiert, wenn sich die US-Konjunktur wieder erholt und die Erdölvorräte wirklich zusammenschrumpfen. Frederic van Parijs hat Zweifel, ob die OPEC die Situation wirklich im Griff hat. Einige Riesen-Ölfelder wie Ghawar in Saudi-Arabien werden seit Jahren ausgebeutet. Sie decken 5 % der globalen Nachfrage ab, und die Fördermengen sind gleich bleibend hoch. Einige Branchenspezialisten vermuten jedoch, dass die Ertragskraft der alten Felder nachgelassen hat. Werden freie Kapazitäten, die die Grundlage für den Status Saudi Arabiens als Zentralbank für Öl sind, bald der Vergangenheit angehören? Auch wenn Ausbruchstendenzen zu verzeichnen sind, hat die OPEC die Situation noch unter Kontrolle, wie es scheint. Aber trotz der beruhigenden Worte der OPEC kann man sich kaum vorstellen, dass die OPEC in einer Vervierfachung der Preise keine Produktionsanreize sieht. Vielleicht ist es keine Frage des Wollens, sondern des Könnens. Vielleicht ist der Ölpreis nicht mehr kontrollierbar? Damit würde ein Anstieg auf 100 Dollar immer wahrscheinlicher.

Trotzdem stecken ironischerweise sowohl die OPEC als auch die Ölmultis bei Ölpreisen von 100 Dollar in einem Dilemma. Die OPEC will zwar hohe Ölpreise, aber gleichzeitig darf das Fass, auf dem sie sitzt, nicht explodieren. Die Ölmultis selbst sind in ihrer Existenz bedroht. In dieser Welt des 90-Dollar-Öls haben sie an Macht verloren und werden von den Herstellerländern und nationalen Gesellschaften an die Auslinie gedrängt. Die Produktion ist rückläufig, die Kosten schießen in die Höhe, die Kontraktbedingungen verschlechtern sich und die Risiken steigen. Symbolisch für 2007 ist die Gegenläufigkeit der Entwicklungen bei Ölpreisen einerseits und Gewinnen der großen Ölkonzerne andererseits: Hier wurde ein Plus von mehr als 10 % verzeichnet während dort genau entgegengesetzt Verluste von 10 % verbucht wurden. Das Ende der Fahnenstange ist jedoch noch nicht erreicht. Diese Gesellschaften sind zum Großteil seit Jahrzehnten im Geschäft und haben die entsprechenden Köpfe, die sich um eine Kriegsstrategie kümmern können. Sie werden einen Kampf anzetteln und auf den Tag warten, an dem die nationalen Gesellschaften zugeben müssen, dass sie der Lage nicht mehr gewachsen sind. Weil die Großkonzerne so sehr von ihren jungen und intelligentesten Mitarbeitern abhängen, könnte die schnelle Überalterung der Belegschaft ein Problem darstellen, der die Gesellschaften letztendlich in ihrer Existenz bedroht.

Bis dahin bewertet Frederic van Parijs jedoch die von den jeweiligen Verantwortlichen gestreuten, optimistischen Wachstumsziele skeptisch. Weltweit freuen können sich die Serviceanbieter: Die Nachfrage nach ihren Leistungen steigt, und sie werden immer stärker gebraucht. Das verleiht ihnen jetzt Preismacht: Ab heute wird zurück geschossen. Bis noch vor ganz kurzer Zeit hatten die Großen ihnen kaum die Luft zum Atmen gelassen. Heute sind sie diejenigen, die den Schwergewichten den Schweiß auf die Stirn treiben - nicht nur mit ihren Preisen, sondern auch, weil sie im Dienste der nationalen Ölgesellschaften ihr Schärflein dazu beitragen, dass die Großkonzerne immer mehr ins Abseits gedrängt werden. Auch die Gefahr, dass die Ölmultis selbst sich eines Tages immer mehr in Richtung Serviceanbieter entwickeln müssen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn ihnen erst einmal die Ölreserven fehlen. Die Kriegshörner sind geblasen. Die Aktien vieler Serviceanbieter haben bereits eine starke Performance hinter sind, ING Investment Management ist jedoch der Ansicht, dass die Aktien weiter parallel mit der Aufwärtsbewegung des Zyklus verlaufen.

Und so lange gibt es nur einen guten Rat: den Kraftstoffverbrauch so gering wie möglich halten. Damit spart man nicht nur Geld, sonder sendet auch eine Botschaft an die OPEC und an Länder wie Russland und Venezuela: „Setzt dem Preisanstieg bald ein Ende“.

Quelle: ING Investment Management

ING Investment Management ist der globale Asset Manager der ING Gruppe. Mit Euro annähernd 400 Milliarden Assets under Management (Q2 2007), vertreten in 30 Ländern mit 2.500 Experten (Europa: 713, Americas: 866, APAC: 921), ist ING Investment Management (ING IM) weltweit unter den Top 25 im Asset Management. ING IM Europe hat Niederlassungen in 14 europäischen Ländern mit annähernd Euro 160 Milliarden Assets (Q2 2007) under Management.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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