Kommentar
15:00 Uhr, 09.10.2014

Konjunkturaufschwung verliert an Fahrt

Der Konjunkturaufschwung in Europa hat diesen Sommer an Fahrt verloren, was das Anlegervertrauen bröckeln ließ und auf den Aktienmärkten der Region einen Rücksetzer auslöste. Die Hauptursache für Wirtschafts- und Finanzschwäche in Europa sehen wir in geopolitischen Ereignissen, allen voran im Konflikt in der Ukraine und in den verschärften Sanktionen gegen Russland. Unser Bottom-up- Anlagestil, der uns eine langfristige, gegenläufige Perspektive eröffnet, lässt uns darin jedoch potenzielle Anlagechancen erkennen.

Die im August veröffentlichten Zahlen für den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im zweiten Quartal fielen für die Eurozone gegenüber dem Vorquartal unverändert aus, mit plus 0,2%. Erwartungen auf weiteres Wachstum wichen der Sorge, die Erholung der Eurozone könnte ins Stocken geraten sein. In Frankreich wiesen die BIP-Daten auf Stagnation hin. Italiens Wirtschaft fiel in die Rezession zurück und schrumpfte im zweiten Quartal in Folge. Überraschend kam für die Märkte, dass in Deutschland das BIP fürs zweite Quartal um 0,2% schrumpfte, der Einkaufsmanagerindex (PMI) für das produzierende Gewerbe auf den tiefsten Stand seit Juni 2013 fiel und der Indikator der Europäischen Kommission für die wirtschaftliche Einschätzung im August nachgab – alles Anzeichen für nachlassende Konjunkturdynamik in der Region.

Da Deutschlands Wirtschaft von Russland beeinflusst wird, halten wir die schwachen Konjunkturdaten für eine direkte Folge der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine. Der schädlichste Aspekt dieser verfahrenen Situation sind unserer Ansicht nach die wechselseitigen harten Handelssanktionen zwischen Russland und dem Westen.

Sofern nicht bald eine politische Lösung herbeigeführt wird, könnte die Eskalation zu fortgesetzter Konjunkturschwäche führen. Wir haben sogar schon von deutschen Unternehmen gehört, die Expansionspläne zurückstellen wollen, was schwache Investitionen in Deutschland und eine Eintrübung des Geschäftsklimas nach sich ziehen könnte.

Während Schlagzeilen und Daten weiter pessimistisch stimmen, könnten andere Entwicklungen die Aktienmärkte nach unserem Dafürhalten stützen, selbst wenn die Krise andauert. Die jüngsten Quartalsberichte der Unternehmen fielen besser aus als die Markterwartungen, und die Vorgaben waren relativ optimistisch. Wir schreiben die Zuversicht europäischer Unternehmen erwartetem Wachstum außerhalb Europas zu – insbesondere in Nordamerika und China –, was für europäische Unternehmen ungleich bedeutsamer ist als Russland. Unser optimistischer Ausblick stützt sich aber auch auf einen nachgebenden Euro, der Mitte September unter 1,30 US-Dollar fiel, nach noch Anfang Mai verzeichneten knapp 1,40 US-Dollar. Eine schwächere Währung könnte europäischen Unternehmen unseres Erachtens Auftrieb geben aufgrund kurzfristiger Umrechnungs- und Transaktionsvorteile sowie der langfristigen Chance auf gesteigerte globale Wettbewerbsfähigkeit. Außerdem förderte auch die Europäische Zentralbank (EZB) einen Rückgang der Währung, in dem sie Anfang September die Zinsen unerwartet senkte und den Aufkauf auf Euro lautender gedeckter Schuldverschreibungen und ABS- Wertpapiere plant. Auch ein breiter angelegtes quantitatives Lockerungsprogramm ist nach wie vor eine Option für die Zukunft.

Auch die Dividendenrenditen europäischer Aktien sprechen uns an. Unseren Analysen zufolge ist die durchschnittliche Dividendenrendite europäischer Aktien attraktiver als bei US-Titeln und kann europäischen Anlegern interessantes Ertragspotenzial durch Aktienanlagen im derzeitigen absoluten Zinstief bieten. Unserer Ansicht nach lohnt es sich für Anleger, auf das Ertragspotenzial durch künftig höhere Umsätze und operative Margen von Unternehmen zu warten.

In der Krise oder bei anderen kurzfristigen Marktverzerrungen ist entscheidend, das Gesamtbild im Auge zu behalten. Das gilt unseres Erachtens derzeit für Europa. Insbesondere deutsche Aktien erscheinen uns zunehmend attraktiv, denn wir entdecken mitten in der Ukrainekrise Wertpotenzial. Auch zyklische europäische Konsumwerte wirken ansprechend, weil sie in unseren Augen im Vergleich zu anderen Sektoren wie Gesundheit und Basiskonsumgüter eher niedrig bewertet sind. Trotz jüngster Schwäche bei Industrieunternehmen ziehen wir auch weiterhin solche Titel vor, die von einem nachgebenden Euro profitieren können oder generell dem Einfluss eines (auch moderaten) Anziehens der Konjunktur in der Region ausgesetzt sind. Europäische Banken wirken ebenfalls aussichtsreich, vor allem solche mit großem Privatkundengeschäft, denn sie können aus den historisch niedrigen Finanzierungskosten Kapital schlagen, die ihnen die EZB ermöglicht. Auf jeden Fall favorisieren wir insbesondere solche Unternehmen, die potenziell Management- bedingte Verbesserungen der operativen und finanziellen Leistungsfähigkeit mit weiterem Aufwärtspotenzial durch einen möglichen Aufschwung in der Region zu dem vereinen, was wir als „doppelte Hebelwirkung“ bezeichnen.

Autor: Philippe Brugere-Trelat, Portfoliomanager bei Franklin Mutual Advisers

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