Kommentar
16:01 Uhr, 14.11.2005

Koalitionsvertrag kann zum Bumerang werden

1. Das geplante Regierungsprogramm der großen Koalition sieht auf den ersten Blick nach „Wirtschaftsreformen light“ aus, ganz wie die Deutschen es ihren Politikern im Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl aufgegeben hatten: Die großen Themen Arbeitsmarkt und Gesundheit wurden vertagt. Dagegen soll versucht werden, den Haushalt – hauptsächlich einnahmeseitig – zu konsolidieren. Das ist für alle enttäuschend, die von der Großen Koalition einen großen (oder zumindest einen größeren) Wurf erwartet hätten. Es ist jedoch nicht damit getan, dieses Programm von vornherein als chancenlos abzutun. Die sich jetzt ergebenden Chancen zu einer langfristigen Verbesserung bei Wachstum und Arbeitslosigkeit in Deutschland können jedoch nur dann genutzt werden, wenn die Regierung möglichst bald wirtschaftspolitisch nachlegt. Genau dies haben die Akteure angekündigt.

2. Die konjunkturpolitische Strategie, die die neue Regierung offensichtlich verfolgt, sieht etwa wie folgt aus: Das Jahr 2006 bleibt von Belastungen einigermaßen verschont. Die geplanten Steuererhöhungen werden hauptsächlich im Jahr 2007 wirksam. Im Jahr 2006 soll sich die Konjunktur soweit kräftigen, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Jahr danach binnenwirtschaftlich verkraftbar ist. Drei Faktoren unterstützen diesen Plan: Erstens geht die deutsche Konjunktur mit Schwung ins Jahr 2006 hinein, weil die Weltwirtschaft sich wieder gefangen hat und der deutschen Wirtschaft auch im kommenden Jahr eine kräftige Exportnachfrage beschert. Zweitens werden Vorzieheffekte der angekündigten Mehrwertsteuererhöhung den Konsum in der zweiten Jahreshälfte 2006 beleben; wir rechnen insgesamt mit einem zusätzlichen Wachstum von rund einem Prozentpunkt für die Konsumnachfrage. Drittens soll eine Art Konjunkturprogramm („Investitionsfonds“) in Höhe von etwa 25 Mrd. Euro, verteilt auf vier Jahre, für eine Initialzündung sorgen. Für all diese Maßnahmen wird im Jahr 2006 ein nicht verfassungsgemäßer Haushalt mit einer Neuverschuldung von 3,5 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts in Kauf genommen.

3. Der Erfolg des Programms hängt wesentlich davon ab, wie die Psychologie von Konsumenten und Unternehmen im kommenden Jahr durch verbesserte Konjunkturdaten beeinflusst werden wird. Nachdem sich der erste Sturm der Entrüstung über die geplanten Steuererhöhungen – wie er in den ersten öffentlichen Reaktionen vom Wochenende zum Ausdruck kam – gelegt haben wird, hängt alles davon ab, ob das kommende Jahr konjunkturell reibungslos verläuft. Zu den weiteren Aussichten wird wesentlich beitragen, ob es der Politik im kommenden Jahr gelingt, ergänzende positive Akzente zu setzen, das heißt, vor allem Maßnahmen am Arbeitsmarkt und bei den Sozialversicherungssystemen zu ergreifen. Geschieht dies nicht, dann fliegt der Koalition 2007 das Reformprogramm wie ein Bumerang an den Kopf: Konsumausfälle aufgrund der massiven Steuererhöhungen und Finanzierungsprobleme bei der Krankenversicherung werden die Konjunktur abwürgen.

4. Wir nehmen unsere Konjunkturprognose für Deutschland für das Jahr 2006 nur um rund 0,3 Prozentpunkte nach oben, auf rund 1½ Prozent Wachstum. Für 2007 wird das Wachstum in Deutschland aufgrund der erheblichen Belastungen wieder unter ½ Prozent absinken, vorausgesetzt die Rahmenbedingungen bleiben wie jetzt angekündigt. Unsere Aussichten für das langfristige Wachstum in Deutschland, das wir gegenwärtig bei etwa 1¼ Prozent pro Jahr ansetzen, werden wir nicht verändern. Alle Kernprobleme der deutschen Volkswirtschaft, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit sowie die absehbaren Finanzierungsengpässe in den Sozialversicherungssystemen, werden durch das Regierungsprogramm nur unwesentlich beeinflusst. Auch dies betont noch einmal den wirtschaftspolitischen Nachbesserungsbedarf.

5. Für die Kapitalmärkte ergeben sich mit diesen Maßnahmen keine grundsätzlich neuen Perspektiven. Die mit der Mehrwertsteuererhöhung im Jahr 2007 um 1,3 Prozentpunkt auf über 2,5 Prozent ansteigenden Inflationsraten in Deutschland (Euroland: +0,4 Prozentpunkte auf 2,3 Prozent) muss die EZB eigentlich durchgehen lassen und darf sie nicht mit höheren Leitzinsen beantworten. Allerdings haben wir es hier nicht mit einer einmaligen Aktion zu tun: Die Verlagerung der Staatsfinanzierung von der direkten zur indirekten Besteuerung ist mittlerweile zum Trend geworden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in deren europäischen Ländern. Somit könnten die Inflationserwartungen durch eine wiederholte Erhöhung indirekter Steuern sehr wohl beeinflusst werden, und die EZB läuft Gefahr, zum achten Mal in Folge eine Inflationsrate oberhalb ihrer Inflationsnorm zuzulassen. Wir erachten einen weiteren Zinsschritt der EZB im kommenden März auf dann 2,50 Prozent für noch besser untermauert als ohne die Mehrwertsteuererhöhung.

Für die Erwartung leicht steigender Renditen an den Rentenmärkten ändert sich nicht viel. Die mittelfristige wirtschaftspolitische Belastung der Binnennachfrage in Deutschland sollte weiter dazu beitragen, das Zinsniveau niedrig zu halten. Denn damit wird die Wachstumsschwäche in Deutschland zementiert und mit ihr das grundsätzlich niedrige Zinsniveau. Vor dem Hintergrund steigender Kapazitätsauslastung im kommenden Jahr ist die Erwartung leicht steigender Zinssätze jedoch noch stärker berechtigt. An den Aktienmärkten ist das Bild des Tages der Bekanntgabe einer Einigung auf ein Regierungsprogramm wohl symptomatisch: Ohne erkennbare Reaktion auf die Wirtschaftspolitik verbuchte der DAX Anstiege aufgrund positiver Unternehmensergebnisse. Und dies wird sich ebenfalls wenig ändern: Die deutschen Unternehmen sind fit auf den Weltmärkten und fahren im Umfeld einer kräftigen Weltkonjunktur Gewinne im Ausland ein. Hieran kann auch ein wirtschaftspolitisches Stillstandsprogramm in Deutschland nichts ändern.

6. Steuerlich ändert sich folgendes: Immerhin werden die Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung nicht gänzlich zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendet. Die Verringerung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge ist vorbehaltlos zu begrüßen. Insgesamt ist aber festzustellen, dass das Risiko einer derart starken Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes nicht unerheblich ist. In Deutschland gibt es bislang keine Erfahrungen mit solchen Steigerungen, denn der Mehrwertsteuersatz wurde bislang niemals um mehr als einen Punkt nach oben gesetzt. Eines ist klar, es wird zu massiven Vorzieheffekten kommen, die aufgrund der langen Zeit zwischen Ankündigung und Umsetzung das gesamte zweite Halbjahr stimulieren. Im Zeitraum danach wird es aber dann zu deutlichen Nachfrageausfällen kommen. Ferner wird bei einer vollständigen Überwälzung das Preisniveau im Jahr 2007 um rund 1,3 Prozentpunkte ansteigen. Ob allerdings eine vollständige Überwälzung gelingt, ist fraglich: Nach internen Berechnungen des Bundesfinanzministerium kam es bei der letzten Mehrwertsteuererhöhung im Jahre 1998 nur zu einer Überwälzung von 50 Prozent. Dann blieben aber die Unternehmen auf einem Teil der Kosten sitzen, und auch die Steuereinnahmen würden nicht so kräftig sprudeln.

Die konjunkturellen Belastungen einer Mehrwertsteuererhöhung könnten angesichts des Ausmaßes der Erhöhung und der auch 2007 noch hohen Energiepreise zu einer länger anhaltenden Dämpfung des privaten Konsums führen, wenn nicht weitere Maßnahmen das wirtschaftspolitische Klima in Deutschland positiv beeinflussen. Wir standen einer mehrwertsteuerfinanzierten Absenkung der Lohnnebenkosten immer aufgeschlossen gegenüber. Die überwiegende Verwendung der Mehrwertsteuereinnahmen geht jedoch „irgendwie“ in die Haushalte von Bund und Ländern und dient damit in letzter Konsequenz nur dem Stopfen von Haushaltslöchern. Diese Verwendung der Einnahmen halten wir für fragwürdig.

Eine Reform der Unternehmensbesteuerung ist erst für 2008 vorgesehen, doch außer, dass für eine rechtsformneutrale Besteuerung gesorgt werden soll, ist nichts bekannt. Die Herstellung der Rechtsformneutralität ist ein wichtiger Schritt nach vorne, sollte aber auch mit steuerlichen Entlastungen verbunden werden.

Bis zur Unternehmensteuerreform wird die Möglichkeit degressiver Abschreibungen verbessert. Dies ist in jedem Fall zu begrüßen, denn es macht Investitionen attraktiver. Allerdings haben bislang weder Rekordgewinne noch historisch niedrige Zinsen zu einem Investitionsfeuerwerk geführt, da die Unsicherheit nicht zuletzt mit Blick auf die Absatzperspektiven zu hoch war. Ein solches Feuerwerk sollte man sich auch jetzt nicht erhoffen – zumindest nicht mit Blick auf Erweiterungsinvestitionen.

7. Die Einführung einer verlängerten Probezeit als Ersatz für eine „echte“ Lockerung des Kündigungsschutzes oder für eine Abfindungsregelung ist ein politischer Kompromiss, der keine durchschlagende Verbesserung bringt. Weitergehende Reformansätze, die zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes führen würden – wie Abschaffung des Günstigkeitsprinzips – sind Fehlanzeige.

8. Im Bereich der sozialen Sicherungssysteme unterbleiben wichtige Reformschritte oder werden zu vorsichtig angegangen. Hierzu zählt allen voran die Reform der Krankenversicherungen. Zwar ist es kein Beinbruch, wenn das komplizierte und halbherzige Konzept der Union nicht umgesetzt wird, doch an einer echten Entkopplung der Beiträge von der Lohnentwicklung führt kein Weg vorbei. Reformen auf der Ausgabenseite, die zu mehr Wettbewerb und Transparenz führen würden, sind nicht vorgesehen. Hierzu hätte gehört, den Krankenversicherten Einblick in die Behandlungs- und Verschreibungspraxis der Ärzte zu gewähren und dies mit der Möglichkeit eines direkten Vertragsabschlusses zu versehen. Der Koalitionsvertrag sieht allerdings weder Reformansätze im Bereich der Gesundheit noch bei der Pflegeversicherung vor. Auf Seiten der Rentenversicherung ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters ein wichtiger und richtiger Schritt, doch muss man zu lange auf ihn warten (ab 2012 schrittweise). Stattdessen kommt es zu einer weiteren Anhebung des Beitragssatzes für die Rentenversicherung auf 19,9 Prozent. Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung soll ab 1.1.2007 um zwei Prozentpunkte fallen. Die damit verbundenen Kosten sollen durch die Verwendung eines „vollen“ Prozentpunktes der Mehrwertsteuererhöhung und durch Einsparungen der Bundesagentur für Arbeit finanziert werden.

9. Fazit: Deutschland steht weiterhin vor großen Herausforderungen, die mutige Reformschritte verlangen. Dem wird der Koalitionsvertrag nicht gerecht. Wesentliche Problemfelder wurden umgangen oder Lösungsvorschläge für diese das Opfer von Kompromissen. Zudem ist nur schwer zu vermitteln, warum man sich so lange Zeit lässt, statt sofort Hand anzulegen. Bis 2008 kann die Bundesratsmehrheit auch der großen Koalition verloren gegangen sein und die Probleme werden durch Aussitzen auch nicht geringer. Mit Sicherheit wird kurzfristig die Konjunktur angekurbelt, Reformansätze für mehr (dauerhaftes) Wachstum sind nur vereinzelt zu finden. Verband man noch die Ankündigung der vorzeitigen Neuwahlen mit großen Hoffnungen, so sind diese nun verblasst – so wie der Reformeifer der Regierungsparteien.

Quelle: DekaBank

Die DekaBank ist im Jahr 1999 aus der Fusion von Deutsche Girozentrale - Deutsche Kommunalbank- und DekaBank GmbH hervorgegangen. Die Gesellschaft ist als Zentralinstitut der deutschen Sparkassenorganisation im Investmentfondsgeschäft aktiv. Mit einem Fondsvolumen von rund 130 Mrd. Euro gehört die DekaBank zu den größten Finanzdienstleistern Deutschlands. Im Publikumsfondsgeschäft hält der DekaBank-Konzern einen Marktanteil von etwa 20 Prozent.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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