Kommentar
16:15 Uhr, 10.05.2017

Funktionsstörungen am Arbeitsmarkt

  • Löhne reagieren nicht mehr im gewohnten Ausmaß auf Veränderungen am Arbeitsmarkt.
  • Das ist nicht nur ein vorübergehender Betriebsunfall, sondern scheint mit dem gewandelten gesellschaftlichen Klima seit der Finanzkrise zusammenzuhängen.
  • Es hat erhebliche, überwiegend negative Konsequenzen für die Gesamtwirtschaft. Anleger können sich dagegen darüber freuen.

Es gibt ein Paradox, das mich bei der Betrachtung des wirtschaftlichen Umfeldes immer wieder umtreibt. Wie kann es sein, dass die Arbeitslosigkeit permanent zurückgeht und die Unternehmen händeringend Personal suchen, die Löhne aber nach wie vor nur sehr maßvoll steigen? Im April ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung gefallen. Die Nominallöhne erhöhen sich aber laut den Zahlen der Bundesbank lediglich um 2,5 %. Das ist real fast gar nichts.

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Diese Situation widerspricht allen Erkenntnissen der traditionellen volkswirtschaftlichen Theorie. Danach verbessert sich bei günstigerer Konjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Sie fordern höhere Löhne. Die Unternehmen sind bereit sie zu zahlen, weil sie mehr Personal brauchen und durch höhere Produktion mehr verdienen können. Die sogenannte Phillipskurve beschreibt diesen Zusammenhang. Sie ist unter Ökonomen weitgehend unbestritten.

Wenn man sich die Entwicklung in den letzten 20 Jahren anschaut, dann sieht die Welt aber ganz anders aus. Zwischen der Entwicklung von Löhnen und Arbeitslosigkeit scheint auf den ersten Blick fast gar kein Zusammenhang zu bestehen. Die Korrelation beträgt gerade mal -0,3.

Allerdings lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Man kann hier nämlich zwei Phasen unterscheiden. Bis zur Finanzkrise 2007/8 haben die Löhne durchaus modellgerecht auf die Arbeitslosigkeit reagiert. Wenn die Arbeitslosigkeit zurückging, stiegen die Löhne schneller. Das neue Muster trat erst danach ein. Seitdem verringerte sich die Arbeitslosigkeit anhaltend und deutlich. Die Lohnsteigerungen bewegten sich jedoch nach wie vor in einer Größenordnung von 2 % bis 3 %, so als ob nichts gewesen wäre. Es sieht so aus, als gäbe es den Zusammenhang der Phillipskurve nicht mehr.

Das bedeutet: Die Finanzkrise hat nicht nur die Finanzmärkte in Unordnung gebracht. Sie hatte auch nachhaltigen Einfluss auf den Arbeitsmarkt. Die üblichen Marktkräfte wirken nicht mehr. Die Löhne haben sich von der Beschäftigung emanzipiert. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Auch in anderen Ländern ist es zu beobachten. In den USA beispielsweise steigen die Löhne und Gehälter trotz Vollbeschäftigung und niedriger Arbeitslosigkeit derzeit nur um 2,5 %.

Wie ist das zu erklären? Als erstes denkt man natürlich an die abnehmende Zahl der Gewerkschaftsmitglieder. Sie verringert die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. Das ist aber nicht überzeugend. Denn auch schon vor der Finanzkrise waren immer weniger Menschen bereit, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Auch die Flüchtlingskrise kann hier keine Rolle spielen. Denn erst seit 2015 gibt es so viele Immigranten.

Die Ursache muss woanders liegen. Aus meiner Sicht entscheidend ist hier der grundlegende Wandel in der Gesellschaft, den wir etwa seit Ende des letzten Jahrzehnts beobachten. Globalisierung, Digitalisierung, langsameres Wachstum und Finanzkrisen haben bei den Menschen zu einer zunehmenden Angst vor Arbeitsplatzverlust geführt. Sie fürchten, dass die Unternehmen Jobs in Billiglohnländer verlagern könnten. Sie stellen sich vor, dass Roboter ihre Arbeit übernehmen könnten. Sie vertrauen nicht mehr darauf, dass durch Wachstum neue Arbeitsplätze entstehen. Sie fürchten Finanzkrisen. Als Konsequenz schreibt sich die Politik Arbeitsplatzsicherung als oberstes Ziel auf die Fahnen. In einem solchen Umfeld können die Gewerkschaften natürlich nicht mehr so aggressiv agieren wie früher. Nur noch bei kleinen Berufsgruppen wie Piloten, Kindergärtnerinnen oder Lockführer gibt es größere Streiks.

Für die Gesamtwirtschaft haben diese Veränderungen erhebliche Konsequenzen. Der Link zwischen den Gütermärkten und den Arbeitsmärkten ist gestört. Das bringt eine Menge Schieflagen mit sich. Der Konjunkturmotor läuft nicht mehr rund. Der kumulative Prozess "mehr Nachfrage à höhere Löhne à mehr Einkommen à mehr Nachfrage" funktioniert nicht mehr. Entsprechend ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum geringer. Der Konsum steigt nicht mehr so stark mit der Folge höherer Leistungsbilanzüberschüsse. Im monetären Bereich gibt es keine Lohn-Preis-Spirale mehr. Das verringert die Stabilitätsgefahren. Die Zentralbanken müssen bei der Verfolgung des Stabilitätsziels nicht mehr so rigoros sein. Die Lohnquote ist niedriger. Arbeitnehmer profitieren nicht mehr vom Wirtschaftswachstum. Das verschärft das Gerechtigkeitsproblem in der Gesellschaft. Es ist all das, was die Unzufriedenheit in den letzten Jahren noch befördert hat.

Man sollte das Thema also nicht zu klein schreiben. Es hat erhebliche Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima, auch den sich überall ausbreitenden Populismus. Die Wirtschaftspolitik sollte etwas genauer hinsehen. Was nottut ist mehr Lohnflexibilität entsprechend der Lage am Arbeitsmarkt, in der gegenwärtigen Situation also höhere Lohnsteigerungen.

Für den Anleger

ist die neue Konstellation dagegen positiv. Wenn die Löhne nicht mehr so stark steigen, dann verdienen die Unternehmen besser. Die Aktien gehen nach oben. Wir haben das in den letzten Jahren gesehen. Die Zinsen sind niedriger. Sie erhöhen sich auch nicht so schnell. Das dämpft mögliche Kursverluste für Investoren in Festverzinslichen. Immobilien sind als Anlageobjekt attraktiv (allerdings auch mit der Gefahr der Überhitzung).

Anmerkungen oder Anregungen? Ich freue mich auf den Dialog mit Ihnen:martin.huefner@assenagon.com.

Dr. Martin W. Hüfner, Chefvolkswirt von Assenagon Asset Management S.A.

4 Kommentare

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  • Chronos
    Chronos

    Ich würde es einfach mal mit Politik versuchen. Zudem in einem Wahljahr.

    Fachkräftemangel heißt nicht Mangel an Qualifikation, sondern zu wenig

    Ing. die bereit sind für Facharbeiter-Lohn zu arbeiten.

    Statistisch wird es auch immer schwieriger (unabhängig vom Auftraggeber),

    Beispiel sind da elektronische Preis&Warenschilder, der Preis ändert sich 4-10 am Tag, statt wie früher einmal täglich.

    Und jetzt treffen bei den Arbeitslosenzahlen zwei Rechenfehler aufeinander.

    Einmal ist es fast nicht möglich als Arbeitsloser zu gelten, entweder er wird "gefördert", "geschult", geharzt, oder oder...Faktor 4

    Dann wird jede gemeldete Stelle min. 3-5fach ausgeschrieben und damit mehrfach gewertet.

    1 Stelle, in 6 Portalen eingestellt, bleibt aber dennoch nur eine Stelle.

    Die Mehrfachausschreibung kostet ja nix, ist Gratis-Werbung.

    Damit ist es schlimmer als bei Lehrern, oder hat der Staat es in den letzten 25 Jahren einmal hinbekommen, Nachfrage, Angebot und Ausbildung effektiv zu steuern? Und das sind lange Zyklen.

    Bei 83 Mio Einwohnern, rund 4 Mio Refugees (die nicht arbeiten, dürfen, können, wollen) zeigt doch schon den eigentlich mathematischen Fehler.

    Daimler hat von 300TSD nicht einmal 10 an die eigenen Werkbänke gebracht.

    Siemens verkauft auch nur assets (Tafelsilber).

    Es wird eben sehr viel lauwarme Luft bewegt, gerade auch beim Thema Inflation.

    10:17 Uhr, 12.05.2017
  • GEZet
    GEZet

    ach ja, die phillipskurve. irgendwann bekommen die unternehmer die kurve aber nicht mehr.

    sie haben zu viel kapazitäten aufgebaut und werden plötzlich all die tollen produkte nicht

    mehr los. dann schreien die, die heute vom "arbeitskräftemangel" warnen hilfe, es gibt

    zu viele arbeitslose. is nur ne frage der zeit.

    13:48 Uhr, 11.05.2017
  • jogipop
    jogipop

    Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Möglicherweise gilt die Philipps-Kurve bei uns ohnehin nur langfristig, da sie auf eine preisabhängige Flexibilität abhebt, aber nicht die Einschränkungen durch regional vorherrschende Arbeitsgesetze berücksichtigt, die gerade vor zu viel preisabhängiger Flexibilität schützen sollen.

    Daneben steht ein praktisches Problem mit der Verhandlungsmacht des Arbeitnehmers: soll ein Lohn oberhalb des etablierten Gehaltsgefüges bei Neueinstellungen vereinbart werden, zwingt das den Arbeitgeber, bei allen Bestandsbeschäftigten ebenfalls den Lohn anzuheben (Gleichbehandlung und Motivation). Dadurch multipliziert sich die Höherdotierung mit der Anzahl der Beschäftigten, die eine gleichartige Tätigkeit ausüben. Es werden also nicht Arbeitnehmer zu jedem Preis in freier Konkurrenz der Arbeitgeber um die Köpfe gesucht, sondern Arbeitnehmer, die in ein gegebenes Gehaltsgefüge passen.

    Einen weiteren Grund für starre Lohnverhältnisse finden sie natürlich in der Altersstruktur der Beschäftigten, die zunehmend gegen einen flexibel preisgesteuerten Arbeitsmarkt spricht, denn wer riskiert als Arbeitnehmer mittleren Alters seinen Lebensstandard und arbeitsrechtliche Besitzstände für eine möglicherweise nur vorübergehend bessere Entlohnung bei einem anderen Arbeitgeber. Solche Risiken gehen vor allem junge ungebundene Arbeitnehmer ein, die in der Zahl abnehmen oder Arbeitnehmer in der Leichtlohngruppe, die kaum mehr verdienen als wenn sie arbeitslos wären und deren Arbeitgeber vor allem Preissucher und nicht Qualitätssucher sind.

    Im Ergebnis scheint es so zu sein, dass der Arbeitsmarkt in weiten Teilen nicht mehr wie bei Tagelöhnern eindimensional dem Preismechanismus "Geld gegen Arbeitsleistung" folgt, sondern möglicherweise qualitative Faktoren im Preismechanismus nicht ausreichend abgebildet werden.

    11:46 Uhr, 11.05.2017