Kommentar
15:22 Uhr, 05.10.2012

Fundamentalanalyse für Charttechniker

Alles ist relativ - auch das KGV. Es ist eine einfache Kennzahl, die nahezu magische Eigenschaften besitzt. Mit dem KGV lässt sich auf einen Blick sagen, ob ein Unternehmen

Alles ist relativ - auch das KGV. Es ist eine einfache Kennzahl, die nahezu magische Eigenschaften besitzt. Mit dem KGV lässt sich auf einen Blick sagen, ob ein Unternehmen hoch oder niedrig bewertet ist – so zumindest die Theorie. Die Realität sieht anders aus. Hier schadet eine so einfache Betrachtung dem Depot oft mehr als sie nützt.

Der Mythos vom billigen KGV

„Aktien mit einem KGV von 10 oder darunter sind historisch niedrig bewertet und kaufenswert.“ Wer hat diesen Standardsatz nicht schon unzählige Male gehört? Während es tatsächlich gewisse Faustregeln gibt, ist eine solche eindimensionale Feststellung geradezu gefährlich. Zum einen ist es einfach falsch, zum anderen ist ein bestimmtes KGV kein garantiertes Kauf- oder Verkaufssignal. Betrachtet man die Geschichte der amerikanischen Aktienmärkte, die mit über 100 Jahren an verfügbaren Daten eine gute Basis bilden, um beurteilen zu können, was historisch ist, stellt man fest, dass ein KGV von 10 eher durchschnittlich ist. Die Range der marktweiten KGVs liegt zwischen 4,5 und 45. Über die vergangenen 100 Jahre lag das KGV bei 11. Ein Wert von 10 ist also nicht wirklich einmalig niedrig. Vergleicht man 10 mit den durchschnittlich 14er KGV der vergangenen 20 Jahre, führt das schon zu anderen Schlussfolgerungen. Zieht man dann noch die letzten Jahre des vergangenen Jahrtausends exklusiv zum Vergleich heran, kommen einen die 10 wirklich wie eine Rabattschlacht vor. Hier lag das marktweite KGV bei ca. 30.

Sie merken, ich lasse kaum ein gutes Haar an den Pauschalbeurteilungen von Unternehmen oder des Marktes anhand des KGV. Es gibt natürlich auch positive Aspekte. Bevor ich dazu komme, muss ich die Schwachstellen aber noch etwas breittreten. Der Langzeitvergleich zeigt, wie variabel die Kennzahl ist. Interessant ist, dass im Jahr 1929 das KGV nicht exorbitant hoch war, sondern gerade einmal im Bereich von 25 lag. Die Technologieblase war da ausgeprägter. Der Vergleich zeigt zudem auch die Auswirkung von Rezessionen. In Boomphasen tendiert das KGV meist höher, in Rezessionen ist es aber am höchsten. Das liegt daran, dass die Gewinne der Unternehmen schlagartig wegfallen, der Aktienkurs so schnell aber gar nicht hinterherkommt. Sinkt z.B. der Gewinn um 90%, der Aktienkurs aber nur um 50%, verfünffacht dies das KGV. Ist das KGV bei 10, der Gewinn pro Aktie bei einem Kurs von 100 entsprechend 10, bleibt nach den Verlusten ein KGV von 50 auf einen Aktienkurs von 50 und einem Gewinn je Aktie von 1.

Die Grundregeln des KGV

Ein hohes KGV muss nicht automatisch ein Indikator für Übertreibung bzw. sichere Shortsignale sein. In Rezessionen und wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist das KGV keine gute Basis für Entscheidungen. Es taugt eigentlich nur in mehr oder minder stabilen Zeiten. Dann kann es Anleger vor großen Fallen bewahren. Die Faustregel für normale Zeiten besagt, dass KGVs über 25 auf enormes, zukünftiges Wachstum hindeuten oder eine Übertreibung stattfindet. KGVs zwischen ca. 15 und 25 deuten auf eine Überbewertung oder auf ein Wachstumsunternehmen hin. Zwischen 10 und 15 befindet sich in etwa der „faire“ Wert eines Unternehmens und unter 10 liegt eine Unterbewertung vor oder es wird angenommen, dass das Unternehmen in Zukunft weniger verdient.

Was fängt man jetzt aber mit diesen Regeln an? Zuallererst ist wichtig, dass die drei groben Kategorien „überbewertet, fair bewertet, unterbewertet“ vor allem Eines aussagen: es gibt einen fairen Wert. Laut Daumenregel befindet sich dieser im Bereich 10-15. Die Frage ist also, was das für ein Unternehmen bedeutet, welches ein KGV von 5 oder 25 hat. Ob ein KGV von 5 oder 25, ob unter- oder überbewertet, beides besagt, dass früher oder später das Verhältnis auf den fairen Wert zurückkehren sollte. Das ist bestechend einfach. Es gibt dabei allerdings mehrere Probleme. Einerseits ist der faire Wert sehr subjektiv und schwankt mit dem Markt. Anderseits ist das zukünftige KGV vom zukünftigen Gewinn abhängig.

Die Diskussion über den korrekten Wert eines Unternehmens führt hier zu weit. Es reicht festzuhalten, dass die Rückkehr zum intrinsischen Wert lange dauern kann. Hat ein Unternehmen z.B. ein KGV von 45 kann es viele Jahre dauern, bis es wieder auf ein anständiges KGV von z.B. 15 sinkt. Das zweite Problem ist aber noch viel gravierender. Denn wer kann schon sagen, wie hoch der Gewinn eines Unternehmens in ein, zwei oder fünf Jahren sein wird?

Der KGV Lebenszyklus

Die gute Nachricht ist: um mit dem KGV zu arbeiten, muss man weder den wahren Wert eines Unternehmens kennen noch wissen, wie hoch genau der Gewinn in Zukunft sein wird. Man muss allerdings wissen, in welchem Lebensstadium sich ein Unternehmen befindet. Wenn Unternehmen an die Börse gehen, haben sie meist eine Wachstumsstory. Warum auch sonst sollte jemand bereits sein, die Aktien zu zeichnen? Unternehmen beginnen bei Erstnotiz daher oft mit KGVs über 15, also im Wachstumsbereich. Danach kann viel passieren. Bestätigt sich die Hoffnung auf Wachstum, legt das KGV oft rasch zu und neigt dazu in den Bereich von 20-25 vorzudringen. Bei den Technologiewerten wurden schnell Bereiche von 40 oder mehr gesehen. Microsoft erreichte zum Beispiel fast die 60er Marke. Irgendwann stellt sich dann doch heraus, dass das alles etwas überzogen war. Man muss sich ja ein KGV von 50 zu Hochkonjunkturzeiten wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen. 50 Jahre hätte Microsoft den Gewinn halten müssen, um seinen Marktwert zu verdienen. 50 Jahre ist eine lange Zeit...

Ist jedenfalls erst einmal die erste Übertreibung vorbei, pendelt sich das KGV ein. Insgesamt bewegt es sich in einem Abwärtstrend, der in Wellen verläuft. Das KGV geht in den fairen Bereich von 10-15 zurück. Danach hat das Unternehmen die Chance wieder mit Wachstum zu glänzen und sich noch einmal aufzuschwingen. Übertreibungen bis in den 40er Bereich gibt es aber ganz selten. Unter Schwankungen wird das durchschnittliche KGV immer geringer. Empirisch konvergiert es irgendwann gegen 10. Bei manchen Unternehmen ist der Zyklus nach Börsengang umgekehrt. Erst kommt die große Enttäuschung, das KGV sinkt unter 10. Irgendwann feiert die Firma dann doch noch Erfolge, das KGV neigt in den Überbewertungsbereich einzudringen und folgt dann dem normalen Zyklus des wellenartigen Abwärtstrends. Die wenigsten Unternehmen schaffen es den Zyklus noch einmal von Neuen zu durchleben. Es sei denn, sie stehen kurz vor dem Ende und schaffen es doch noch, sich neu zu erfinden (so etwa Apple).

Wachstum ist endlich

Was aber bewegt Investoren dazu, ein KGV von 30 oder 50 zu tolerieren? Ihnen geht es nicht darum darauf zu warten, dass ein Unternehmen 50 Jahre lang Gewinne schreibt und dann den Marktwert verdient hat. Sie hoffen auf Wachstum. Wächst das Unternehmen, ist ein KGV von 25, 30 oder 50 ja gerechtfertigt, oder? Grundsätzlich schon, aber eben nur grundsätzlich. Im Normalfall reicht einfaches Wachstum nämlich nicht aus. Es muss schon stark überproportional sein. Dazu ein Beispiel: Nehmen wir an, der Kurs einer Aktie beträgt 60 Euro, das KGV 30 und der Gewinn beträgt insgesamt 500 Mio. Euro. Die Marktkapitalisierung liegt bei 15 Milliarden Euro, der Gewinn pro Aktie beträgt 2€ bei insgesamt 250 Mio. Aktien. Die Schlüsselfrage lautet nun: Welches Wachstum muss das Unternehmen generieren, damit auch im nächsten Jahr das KGV von 30 hält? Nehmen wir an, der Gewinn kann nächstes Jahr verdoppelt werden. Verdoppelt sich im nächsten Jahr der Gewinn, ist das KGV heute bei einem Aktienkurs von 60 die Hälfte der ursprünglichen 30, also 15. Bewerte ich also den heutigen Aktienkurs mit dem zukünftigen Gewinn, sieht das KGV nicht übertrieben aus. Für das folgende Jahr können mehrere Szenarien eintreten. Wir gehen aber davon aus, dass sich der Gewinn tatsächlich verdoppelt. Bliebe das KGV jetzt konstant bei 30 brauche ich einen Aktienkurs von 120, damit die Rechnung noch aufgeht. 100% Kursplus in einem Jahr, das lässt sich sehen. Die zweite Möglichkeit ist, dass Anleger das Unternehmen trotz des Wachstums neu bewerten und für die Zukunft eher ein KGV von 15 sehen, weil sich z.B. die Konjunktur eintrübt oder das Produkt des Unternehmens an Attraktivität verliert. Tritt die Neubewertung ein, hat sich der Gewinn zwar verdoppelt, der Kurs der Aktie hat sich aber nicht bewegt. Der Preis einer Aktie bleibt bei 60, das KGV geht auf 15 zurück.

Es ist also nicht unbedingt wichtig, wie sich der Gewinn tatsächlich entwickelt. Viel wichtiger ist, ob Investoren einem Unternehmen zutrauen auch in Zukunft noch zu wachsen. Um bei obigem Beispiel zu bleiben, nehmen wir an, dass Investoren jedes Jahr eine Gewinnverdopplung fordern, um bei der Meinung zu bleiben, ein KGV von 30 sei gerechtfertigt. Das könnte tatsächlich eine Zeit lang gut gehen und Anleger würden jedes Jahr 100% mit der Aktie verdienen. Das kann natürlich nicht ewig so weitergehen. Um genau zu sein, sollte spätestens nach 7 Jahren Schluss sein, denn dann läge die Marktkapitalisierung des Unternehmens bei knapp einer Billion Euro und der Gewinn bei 32 Milliarden. Eine weitere Steigerung dürfte schwierig werden. Der Argumentation willen gehen wir aber weiter. Nach 13,2 Jahren übersteigt die Kapitalisierung des Unternehmens das weltweite BIP. Das macht wenig Sinn. Mit anderen Worten: selbst wenn ein Unternehmen jedes Jahr großartige Zahlen vorlegt, es gibt ein natürliches Ende. Je höher der Gewinn bereits ist, desto schneller wird eine Firma nicht mehr rapide wachsen können. Das klingt banal, doch viele sehen die Konsequenzen dieser Banalität nicht. Fallen die Gewinnwachstumsraten scheinen hohe KGVs nicht mehr gerechtfertigt. Das KGV sinkt höchstwahrscheinlich, trotz steigender Gewinne. Glauben Sie nicht?

Die Quadratur des Kreises

Stellen wir noch ein Experiment an. Ich gebe Ihnen folgende Empfehlung: Kaufen Sie die Aktie eines Unternehmen, das den Gewinn in 12 Jahren verdreifachen wird, ein Umsatzwachstum von durchschnittlich 14% hat, den Umsatz vervierfachen und eine Eigenkapitalrendite zwischen 20 und 50% haben wird. Schlagen Sie zu? Bzw., zu welchem KGV würden Sie heute zuschlagen? 30, 20, 15? Die meisten Investoren taten es zu einem KGV von 59 bei einem Aktienkurs von 30. 12 Jahre danach, nachdem der Gewinn von 7 auf 23 Milliarden gestiegen ist, liegt der Aktienkurs noch immer bei 30 und das KGV bei 10. Das ist die Geschichte von Microsoft.

Das Beispiel ist plakativ, hat aber auch über Microsoft hinaus Bestand. Die Aktie hat das vollzogen, was sich empirisch bei vielen Werten angedeutet hat. Das KGV konvergiert irgendwann gegen 10. 2012 könnte Microsoft noch einmal auf 15 steigen. Danach ist wieder mit einem Abwärtstrend zu rechnen. Anleger können genau mit dieser einfachen Logik das Kurspotential von Aktien abschätzen. Wie das funktioniert möchte ich Ihnen in zwei Wochen an dieser Stelle anhand der Apple und Facebook Aktie zeigen – mit erstaunlichen Resultaten.

Bis dahin viel Erfolg

Clemens Schmale

Technischer Analyst bei GodmodeTrader.de

Eröffne jetzt Dein kostenloses Depot bei justTRADE und profitiere von vielen Vorteilen:

  • 25 € Startguthaben bei Depot-Eröffnung
  • ab 0 € Orderprovision für die Derivate-Emittenten (zzgl. Handelsplatzspread)
  • 4 € pro Trade im Schnitt sparen mit der Auswahl an 3 Börsen & dank Quote-Request-Order

Nur für kurze Zeit: Erhalte 3 Monate stock3 Plus oder stock3 Tech gratis on top!

Jetzt Depot eröffnen!

Keine Kommentare

Du willst kommentieren?

Die Kommentarfunktion auf stock3 ist Nutzerinnen und Nutzern mit einem unserer Abonnements vorbehalten.

  • für freie Beiträge: beliebiges Abonnement von stock3
  • für stock3 Plus-Beiträge: stock3 Plus-Abonnement
Zum Store Jetzt einloggen

Das könnte Dich auch interessieren

Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

Mehr über Clemens Schmale
  • Makroökonomie
  • Fundamentalanalyse
  • Exotische Basiswerte
Mehr Experten