Kommentar
16:01 Uhr, 22.08.2022

Energiekrise: Erdgaslager voll, trotzdem herrscht Panik. Warum?

Der Preis für Erdgas kennt in Europa kein Halten mehr, obwohl die Lager bereits gut gefüllt sind. Was läuft da schief?

Es fließt zwar weniger Gas aus Russland nach Europa, doch die Lager sind inzwischen gut gefüllt. Das gilt auch für Deutschland. Der Füllstand liegt bei 80 % und damit höher als zu jedem beliebigen Zeitpunkt im vergangenen Jahr. 80 % Füllstand ist für August zudem ungewöhnlich hoch. In den meisten Jahren wurde dieser Wert erst im September oder Oktober erreicht.

Nicht nur in Deutschland sind die Lager gut gefüllt, auch im Rest Europas sind die Länder für den Winter gut gewappnet. In einigen Staaten sind die Speicher voll. Im EU-Durchschnitt liegt der Füllstand bei knapp 80 % (Grafik 1). Panik scheint unter diesen Umständen eigentlich nicht angebracht zu sein.


Der Markt sieht das momentan anders. Der Preis für Erdgas erreichte zuletzt ein neues Allzeithoch. Es gibt kein Halten mehr (Grafik 2). Auf den ersten Blick macht das keinen Sinn. Wenn die Lager gut gefüllt sind und die EU im Durchschnitt auf Plan liegt, wieso preist der Markt Erdgas dann so, als ob es eine Knappheit gäbe?

Knappheit ist vor allem dann zu erwarten, wenn man mit unterdurchschnittlichem Füllstand in den Winter geht. Das dürfte im kommenden Winter nicht der Fall sein. Zunächst lohnt ein Blick auf die Gründe, weshalb der Füllstand so hoch ist. In Deutschland liegt der Gasverbrauch unter dem Durchschnitt der letzten Jahre. Vor allem Großabnehmer (Unternehmen) sparen seit Mai viel Gas (Grafik 3).

Im Gegensatz zu Haushalten werden höhere Gaspreise schneller an Großkunden weitergegeben. Da der Preis hoch ist, ist auch der Anreiz zu Einsparungen hoch. Dass sich die Lager schnell füllen, mag auf den ersten Blick positiv sein. Es sagt jedoch aus, dass der Preis schon jetzt zu hoch ist und die Industrie lieber weniger produziert, als die Preise zu zahlen.

Die Marktkräfte wirken. Der Preis bestimmt die Nachfrage maßgeblich mit. Eine gute Nachricht ist das nicht, denn es deutet auf eine Rezession hin. Es erklärt aber zumindest, weshalb sich die Lager schneller füllen als gedacht. Zukünftig werden auch Haushalte mit der Gasumlage deutlich höhere Preise zahlen müssen. Auch das wird den Verbrauch senken.

Unter diesen Voraussetzungen muss eigentlich viel schiefgehen, damit Gas im Winter knapp wird.

Das Problem: Es geht vieles schief.

Gas wird nicht nur in der Industrie und zum Heizen benötigt, sondern auch für die Stromproduktion. In der EU kommen 20 % des Stroms aus Erdgas.

Da die Flüsse leer sind, Kohle nicht transportiert werden kann, Frankreich wegen Wartungsarbeiten weniger Atomstrom produziert, die Trockenheit Strom aus Wasserkraft zum raren Gut macht und auch die Reservoirs im Norden Europas schlecht gefüllt sind, ist Strom Mangelware. Der Strompreis (Terminkontrakt für 2023) erreichte in Frankreich pro Mwh mehr als 700 Euro und in Deutschland steuert der Preis auf 600 Euro zu. Der Preis hat sich mehr als verzehnfacht. Die Erhöhung des Gaspreises ist da im Vergleich fast moderat.

Es kann daher sein, dass mehr Gas für die Stromerzeugung benötigt wird. Man kann den Lagerbestand nicht mit dem sonst üblichen Verbrauch im Winter vergleichen. Die Nachfrage könnte sehr viel höher sein, weil mehr Gas für die Stromproduktion eingesetzt werden muss.

Die Aussagekraft des Füllstands ist damit nur bedingt gegeben. Ohne eine Beruhigung des gesamten Strommarktes wird auch der Erdgaspreis weiterhin Panik signalisieren.

Clemens Schmale


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  • mariahellwig
    mariahellwig

    Die unzuverlkässigen Wind- und Sonnenenergie ist im Moment das einzige was zuverlässig funktioniert. In diesem Jahr wurde die Solarenergie bisher 120 Mrd kWh erzeugt nach 90 Mer kWh im Jahr 2021.

    Entscheidend ist der Energiemix. Eine zu große Abhängigkeit von einem Energieträger ist problematisch.

    13:43 Uhr, 23.08.2022
  • anders
    anders

    Bereits im Jahr 2019 erschien im „Wall Street Journal“ ein Artikel über die deutsche Energiepolitik mit dem Titel „World’s Dumbest Energy Policy“ („Die dümmste Energiepolitik der Welt“).

    Dort wird aufgezeigt, dass „unzählige Milliarden“ in „unzuverlässige Wind- und Sonnenenergie“ geflossen sind und dass Deutschland nach dem Abschalten von Atom- und Kohlekraftwerken „wahrscheinlich Kohlekraft aus Polen und der Tschechischen Republik importieren wird“. Europa will bis zum Jahr 2030 die Emission von Treibhausgasen um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren, Deutschland sogar um 55 Prozent. Die Autoren kommen jedoch zu dem Schluss, dass die Energiewende, so wie sie von D. praktiziert wird, weder ökonomisch noch ökologisch Sinn macht.

    Hans-Werner Sinn, Deutschlands berühmtester Ökonom, hat bereits vor mehr als einem Jahr beim Ludwig von Mises Institut einen Vortrag gehalten, der schon im voraus die Boykottpolitik kontakariert..

    Mittlerweile hat uns die Realität eingeholt.

    „Es gibt keinen Papierkorb für Öl. Das Öl, das wir nicht kaufen, kaufen dann eben andere“, so H.W. Sinn.

    Aber bleiben wir bei der Behauptung , die Speicher wären voll.

    Die Befürworter dieser Politik behaupten, dass die deutschen Gasspeicher zu 75 % und größer gefüllt sind und dieses Ziel früher als geplant erreicht wurde. Das klingt wie eine gute Nachricht.

    Bleiben wir bei nur 75 %, womit weitere Reserven aktiv vorhanden wären. Das Erreichen eines Ziels von 75 % vor dem Zeitplan klingt so, als ob Deutschland vor dem Winter in einer ziemlich guten Verfassung sein wird.

    Doch die Fakten zeigen eine ganz andere Situation. Die deutsche Gasspeicherkapazität beträgt 23,3 Milliarden Kubikmeter. Tatsächlichen wurden im Jahr 2021 aber 100 Milliarden Kubikmeter Gas verbraucht. Die Speichermenge deckt also gerade einmal ein Fünftel der erforderlichen Gasmenge ab.

    Mit anderen Worten: Das Speicherziel von 75 % entspricht 75 % von 20 % des tatsächlich verbrauchten Gases 2021 , real also nur 15 % des wirklich benötigten Gases. Es verbleibt also ein Defizit von 85 %, das nur durch weitere Lieferungen aus Russland gedeckt werden kann.

    Egal ob 75 % oder 90 % und mehr, die Kapazität reicht lediglich für eine Überbrückung , aber nicht für eine konstante Versorgung ohne permanente Zuführung !

    Das ist die Realität einer verkorksten Politik.

    Deutschland steuert also immer noch auf eine Energiekrise zu.

    Details möchte man sich nicht ausmalen.

    13:34 Uhr, 23.08.2022
  • Daniel Kühn
    Daniel Kühn Chefredakteur

    Die Speicher werden bei komplettem lieferstopp aus Russland und unter sonst gleichen Bedingungen etwa zwei bis drei Monate reichen

    09:17 Uhr, 23.08.2022
  • mkgeld
    mkgeld

    Im Sommer fast voll da müssten über 90 % sein und im Winter sind die meisten Speicher nach einer Woche leer ohne Nachschub. Die Russen werden diese Chance nutzen um die Sanktionen zu lockern.

    16:20 Uhr, 22.08.2022

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Über den Experten

Clemens Schmale
Clemens Schmale
Finanzmarktanalyst

Clemens Schmale hat seinen persönlichen Handelsstil seit den 1990er Jahren an der Börse entwickelt.

Dieser gründet auf zwei Säulen: ein anderer Analyseansatz und andere Basiswerte. Mit anders ist vor allem die Kombination aus Global Makro, fundamentaler Analyse und Chartanalyse sowie Zukunftstrends gemeint. Während Fundamentaldaten und Makrotrends bestimmen, was konkret gehandelt wird, verlässt sich Schmale beim Timing auf die Chartanalyse. Er handelt alle Anlageklassen, wobei er sich größtenteils auf Werte konzentriert, die nicht „Mainstream“ sind. Diese Märkte sind weniger effizient als andere und ermöglichen so hohes Renditepotenzial. Sie sind damit allerdings auch spekulativer als hochliquide Märkte. Die Haltedauer einzelner Positionen variiert nach Anlageklasse, beträgt jedoch meist mehrere Tage, oft auch Wochen oder Monate.

Rohstoffe, Währungen und Volatilität handelt er aktiv, in Aktien und Anleihen investiert er eher langfristig. Die Basiswerte werden direkt – auch über Futures – oder über CFDs gehandelt, in Ausnahmefällen über Optionen und Zertifikate.

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