Kommentar
14:47 Uhr, 30.10.2007

Ein langer, mühsamer Weg

Nein, das ist nicht etwa eine übermäßig optimistische Prognose für den Dow Jones Industrial Average. Es handelt sich vielmehr um die Entfernung zwischen New York und Washington. Ach, Sie dachten, das wären 230 Meilen? Nur wenn man den direkten Weg nimmt. Mitunter ist der Weg von der Wall Street zur Fed weitaus verschlungener. Als mein Newsletter für das zweite Quartal am 13. Juli erschien, lag der S&P 500 noch bei 1.551 Punkten. Seinerzeit war ich der Meinung, dass die Subprime-Krise in erster Linie Hedgefonds und großen Finanzinstituten schaden würde und durchaus nicht das Ende der positiven Rahmenbedingungen für Aktien bedeutet. Besonders freute mich, dass ING unsere erhebliche Übergewichtung von Aktien auf ein bescheideneres Niveau heruntergefahren hatte. Ein Vierteljahr später, am 12. Oktober, schloss der S&P 500 mit 1.556 Punkten. Eine gute Prognose sollte man meinen – wenn man die Ereignisse während der 90 Tage zwischen den Newslettern ignoriert. In der Tat ein gewaltiger Umweg, um sich wieder in der Ausgangsposition einzufinden. Hie und da gab's auch Behinderungen. So fiel der S&P zum 20. Jahrestag des „Schwarzen Montag" am 19. Oktober auf 1.500 Punkte. Bis zum Jahresende soll es indes wieder aufwärts gehen.

Zwar hatten wir im vorangegangenen Newsletter konstatiert, dass die Aktienmärkte sich ihrem Fair Value annähern. Den Rückgang um 10 Prozent sahen wir allerdings nicht voraus. Das Wachstum war kräftig und insbesondere China schien sich in gewissem Maße von den USA abgekoppelt zu haben. Damit deutete alles darauf hin, dass Aktien von außerhalb der USA (vor allem aus Asien) gut abschneiden würden – sofern keine Rezession einen Strich durch die Rechnung machte. Andererseits sorgte die wenn auch noch positive, aber bereits nachlassende Dynamik für Unruhe. Die Kreditmärkte sprachen derweil eine andere Sprache. Credit Spreads, die so eng waren wie nie zuvor, weiteten sich im Zuge der Subprime-Krise wieder aus. Auch die Spreads von Collateralized Loan Obligations (CLO) folgten diesem Beispiel. Wohl war klar, dass es für einige Marktteilnehmer schmerzhafte Korrekturen geben würde. Angesichts der zuvor beobachteten Widerstandsfähigkeit (während der Subprime-Spannungen im Februar zum Beispiel) rechnete man allerdings mit einer zwar verlangsamten, aber dennoch ungebrochen positiven Entwicklung.

Es kam jedoch anders. Hypotheken-Hedgefonds brachen zusammen, die Finanzierung so genannter Leveraged Buyouts (LBOs) war auf einmal ungewiss und strukturierte Kapitalbeteiligungsmodelle sahen sich außerstande, ihre Asset-Backed-Commercial-Papers zu finanzieren. Die Kreditmärkte kamen zum Stillstand. Die Zinsdifferenz zwischen US-Schatzwechseln und der London Interbank Offered Rate (LIBOR) vergrößerte sich zusehends, als die Bereitschaft der Banken zur gegenseitigen Darlehensvergabe abnahm. Liquiditätsschonung und Hinwendung zu Qualitätswerten waren das Gebot der Stunde. Davon blieben letztendlich auch die Aktienmärkte nicht verschont. Die schlechteren Rahmendaten sowie markttechnische Probleme beeinträchtigten insbesondere quantitative Strategien (Quants). Hier kam es zu erheblicher Volatilität. Das lag vor allem daran, dass die von Quants favorisierten Faktoren auch von Private-Equity-Firmen zum Herausfiltern von LBO-Kandidaten eingesetzt werden. Der Finanzierungsengpass bei Akquisitionen legt nicht nur den M&A-Markt lahm, sondern beeinträchtigt auch die Faktoren, auf denen Quant-Strategien beruhen. Neben anderen Auslösern hat dies dazu geführt, dass Quant-Hedgefonds sich zum Abbau ihrer hohen Fremdverschuldung gezwungen sahen. Die normalerweise moderate Korrelation der Quant-Faktoren entwickelte sich unvermutet in die falsche Richtung. Gleichzeitig schnellte der VIX-Index, der als das Volatilitätsmaß des amerikanischen Kapitalmarktes gilt, von nur 10 Prozent auf über 35 Prozent. Die Tracking-Errors stiegen zusammen mit den negativen Alphas sprunghaft an. Kurz: Wir befanden uns inmitten einer ausgewachsenen Liquiditätskrise.

Dann griff die amerikanische Notenbank ein. Während die Fed Mitte August Offenmarktgeschäften gegenüber noch günstig gestimmt war, senkte sie alsbald den Diskontsatz, gefolgt von einer Senkung des Fed-Tagesgeldsatzes um 50 Basispunkte und einer weiteren Reduzierung des Diskontsatzes am 18. September. Die Kredit- und Aktienmärkte freuten sich, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Der Kreditmarkt fasste die Zinssenkung als Zeichen dafür auf, dass die Fed bereit sei, den Liquiditätsmangel gezielt und konstruktiv anzugehen, auch wenn die Banken damit nicht direkt zur gegenseitigen Kreditvergabe animiert werden können. Der Aktienmarkt verstand die geldpolitische Lockerung hingegen als Indiz für den Willen der Fed, eine Finanz- und Wirtschaftskrise und damit eine Rezession abzuwenden. Der „Bernanke-Put“ war geboren.

Wird die Fed die Zinszügel also bei ihrer morgigen Sitzung weiter lockern? Für unsere Entscheidungen zur Vermögensstrukturierung ist diese Frage natürlich von wesentlicher Bedeutung. Soweit uns eine Rezession keinen Strich durch die Rechnung macht, sind US-Aktien nämlich unterbewertet. Die weiteren Maßnahmen der Fed wären insofern instruktiv, und zwar nicht nur, weil eine Zinssenkung mit belebenden Impulsen verbunden wäre und ein „Nein“ Markterwartungen enttäuschen würde, sondern weil die Begründung der Fed für ihre zinspolitischen Maßnahmen Aufschluss über die weitere konjunkturelle Richtung geben würde. Die Beweggründe der Fed kann man eigentlich nur richtig nachvollziehen, wenn man weiß, auf welchen Motiven die Senkung vom 18. September beruhte. War es die Schieflage am Kreditmarkt oder der Druck der Markterwartungen, der sich insbesondere am Fed-Fund-Futures-Markt bemerkbar machte, was die Zentralbank – vielleicht sogar wider Willen – zur Senkung bewegte? Oder stand eine geldpolitische Lockerung ohnehin auf dem Programm? Wenn man bedenkt, wie hartnäckig sich die Fed rund einen Monat lang sträubte, die Zinsen zu senken, bis schließlich alle anderen Maßnahmen verpufft waren, dürfte eigentlich klar sein, dass es hier nicht um einen Schritt im geldpolitischen Programm geht. Und selbst dann wurde diese Maßnahme bei einer regulären Sitzung verabschiedet – außerordentliche Maßnahmen wurden offensichtlich nicht für nötig befunden.

Auch das einstimmige Abstimmungsergebnis für eine Zinssenkung um 50 Basispunkte kann nicht unbedingt als Votum für weitere Senkungen gedeutet werden, sondern mag eher auf die Überzeugungskünste Bernankes zurückzuführen sein. Wer weiß – vielleicht hat er seinen Kollegen im Offenmarktausschuss die Entscheidung für eine Zinssenkung damit schmackhaft gemacht, dass das Thema mit einer Lockerung um 50 Basispunkte ein für alle Mal vom Tisch sein würde.

Man muss daher wissen, von welchen Daten die amerikanische Zentralbank ihre Zinsentscheidungen künftig abhängig machen wird. Dabei sprechen folgende Faktoren gegen weitere Senkungen: solides volkswirtschaftliches Umfeld, anhaltende Verbesserung der Liquiditätssituation an den Kreditmärkten sowie der Kursentwicklung an den Aktienmärkten, Inflationsrisiko und vor allem ein Widerstreben, jenen aus der Patsche zu helfen, die allzu leichtfertig das Risiko gesucht haben. Für eine Senkung spricht dagegen: die Einsicht, dass es leichter ist, den Anfängen zu wehren, als eine ausgewachsene Krise zu bewältigen; deutliche Schwächung der Wirtschaftsdaten (insbesondere im Immobilienbereich); Verschlechterung der Situation an den Kreditmärkten, vor allem bei wachsender Differenz zwischen LIBOR und Fed-Tagesgeldsatz; die Ausweitung der Bankbilanzen durch notgedrungene Aufnahme außerbilanzieller Anlagevehikel und die Einsicht, dass wir immer noch weit über dem neutralen Fed-Tagesgeldsatz von 4 Prozent liegen (Effektivverzinsung von 1,5Prozent zzgl. Inflationsrate von 2,5 Prozent).

Wird die Fed die Zinsen am 31. Oktober also weiter senken und falls ja, warum? Die Fed-Fund-Futures preisen diese Möglichkeit bereits ein. Sollten die Turbulenzen an den Finanzmärkten anhalten, die von Sorgen um die weitere realwirtschaftliche Entwicklung noch verstärkt werden, wird die Fed nicht darum herumkommen. Insgesamt dürften die Marktdaten jedoch nicht zu enttäuschend ausfallen. Die Fed wird sich daher bemühen, eine weitere Zinssenkung als klare programmatische Entscheidung zu verkaufen – im Gegensatz zu der Senkung, zu der man sich wohl oder übel im September durchgerungen hatte. Wir werden die Entwicklung der Erträge sowie der Credit Spreads daher im Auge behalten. Ein Ausbleiben der erhofften Zinssenkung würde die Märkte wahrscheinlich enttäuschen. In Anbetracht der hohen Effektivzinsung ist allerdings mit einer weiteren Senkung vor Jahresende zu rechnen. In jedem Fall dürfte eine Senkung im Oktober, ob nolens oder volens, die Aktienkurse in die Höhe treiben. Wir stellen uns also schon auf einen höheren S&P zum Jahresende ein.

Nachdem wir unsere Übergewichtung bei Aktien im September auf neutral heruntergefahren haben, halten wir jetzt nach einer günstigen Gelegenheit zum Wiedereinstieg Ausschau. Angesichts der enttäuschenden Ertragszahlen, die kürzlich von Citi und der Bank of America veröffentlicht wurden, rechnen wir mit weiteren unerfreulichen Meldungen aus der Wirtschaft. Möglicherweise wurde das Engagement von Geldmarktfonds am Subprime-Markt bisher unterschätzt. Hier könnte es noch einige unangenehme Überraschungen geben. Der Preisverfall am Häusermarkt dürfte vorerst anhalten. Die Kreditmärkte werden sich dagegen zunehmend entspannen. Wir erwarten eine rationalere Spread-Entwicklung als während der letzten Jahre.

Es könnte zwar sechs bis neun Monate dauern, bis sich die Märkte wieder erholt haben. Bei den Kursen notleidender Wertpapiere könnte sich jedoch angesichts der einsetzenden Investitionstätigkeit spezieller Investmentfonds (so genannter „Distressed Debt Funds") eine schnellere Besserung abzeichnen, als der Markt bisher eingepreist hat. Bonitätsbedenken werden die Konjunktur vorerst belasten, sollten aber im vierten Quartal nachlassen. Bei den Erträgen erwarten wir im vierten Quartal eine rückläufige Entwicklung, die sich insbesondere bei den Finanzwerten bemerkbar machen wird. Insgesamt dürften die Rahmenbedingungen für Aktien aber günstig bleiben. Der Anstieg des Ölpreises auf über 90 Dollar pro Barrel (Stand 30.10.07) gibt indes Anlass zur Sorge. Aber auch dieser Entwicklung ist etwas Positives abzugewinnen, denn davon profitieren auch US-Unternehmen. Schließlich entfällt ein bedeutender Anteil der von S&P500-Unternehmen generierten Erträge auf Aktivitäten im Ausland. Die Marktvolatilität wird zwar steigen, aber bei sich verengenden Credit Spreads und rückläufigem VIX ist die Übernahme höherer Risiken bei Aktien- und Rentenportfolios gerechtfertigt.

Es ist ein langer, mühsamer Weg. Wir müssen einmal rund um den Globus und seine Märkte, um unser Ziel zu erreichen. Aber die Reise lohnt sich.

Kommentar von Rick Nelson, Chief Investment Officer, ING Investment Management New York

ING Investment Management ist der globale Asset Manager der ING Gruppe. Mit Euro annähernd 400 Milliarden Assets under Management (Q2 2007), vertreten in 30 Ländern mit 2.500 Experten (Europa: 713, Americas: 866, APAC: 921), ist ING Investment Management (ING IM) weltweit unter den Top 25 im Asset Management. ING IM Europe hat Niederlassungen in 14 europäischen Ländern mit annähernd Euro 160 Milliarden Assets (Q2 2007) under Management.

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Über den Experten

Thomas Gansneder
Thomas Gansneder
Redakteur

Thomas Gansneder ist langjähriger Redakteur der BörseGo AG. Der gelernte Bankkaufmann hat sich während seiner Tätigkeit als Anlageberater umfangreiche Kenntnisse über die Finanzmärkte angeeignet. Thomas Gansneder ist seit 1994 an der Börse aktiv und seit 2002 als Finanz-Journalist tätig. In seiner Berichterstattung konzentriert er sich insbesondere auf die europäischen Aktienmärkte. Besonderes Augenmerk legt er seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 auf die Entwicklungen in der Euro-, Finanz- und Schuldenkrise. Thomas Gansneder ist ein Verfechter antizyklischer und langfristiger Anlagestrategien. Er empfiehlt insbesondere Einsteigern, sich strikt an eine festgelegte Anlagestrategie zu halten und nur nach klar definierten Mustern zu investieren. Typische Fehler in der Aktienanlage, die oft mit Entscheidungen aus dem Bauch heraus einhergehen, sollen damit vermieden werden.

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