Drohende Divergenzen und die große Preisanpassung
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Wir beobachten erhebliche Divergenzen bei den Wirtschaftsaussichten – wir haben unsere Prognosen für die EU und China gegenüber der robusteren US-Wirtschaft nach unten korrigiert – und bei der Entwicklung der Märkte. Im Einzelnen:
(1) Inflationserwartungen – kurzfristiger Höchststand vs. langfristiger Anstieg
Während sich die kurzfristige Inflation abzuschwächen beginnt, zeigt sich auf lange Sicht immer deutlicher, dass die langfristige Inflation angesichts der geopolitischen Risiken und der Spannungen in der Lieferkette im Zuge des Lockdowns in Shanghai hoch bleiben dürfte – und schwerer umzukehren ist.
(2) Rezessionsrisiken
Die US-Wirtschaft bleibt nach unserer Auffassung solide, während die Eurozone am stärksten dem Risiko einer Stagflation ausgesetzt ist. Wir werden sehr wahrscheinlich im zweiten Halbjahr zumindest eine vorübergehende Rezession erleben, die möglicherweise von Deutschland und Italien ausgelöst werden könnte, während Frankreich und Spanien eine gewisse Widerstandsfähigkeit zeigen dürften. In China sehen wir das offizielle Wachstumsziel von 5,5 % für 2022 als schwer zu erreichen an.
(3) Die Zentralbanken gehen unterschiedliche Wege
Die Fed hat mittlerweile die Zinsen um 50 Basispunkte angehoben, um so schnell wie möglich zu einer neutralen Politik überzugehen, während die Europäische Zentralbank EZB noch stärker von den Konjunkturdaten abhängig sein wird. Die Japanische Zentralbank (BoJ) bleibt bei ihrer Lockerungspolitik, und die chinesische Zentralbank (PBoC) ist weiterhin entschlossen, den Leitzins zu senken.
(4) Unternehmensgewinne
Die Erwartungen sind noch hoch – mit regionalen Unterschieden –, stehen aber einer schwachen Stimmung der Konsumenten gegenüber. Dies ist sicherlich eine wichtige Gewinnsaison, die es zu beobachten gilt, da jedes Anzeichen von Stärke bei den Unternehmen, das auf einen weiteren Inflationsschub hindeutet, den Handlungsdruck auf die US-Notenbank Fed erhöhen könnte. In Europa sollte das Hauptaugenmerk in der Gewinnsaison auf den Gewinnprognosen liegen, da eine Gewinnrezession aufgrund der Auswirkungen des Krieges immer wahrscheinlicher wird, die sich aber in den Zahlen dieser Saison wahrscheinlich noch nicht widerspiegeln wird.
Nach unserer Auffassung sollten Anleger zwar eine neutrale Risikoposition beibehalten, aber es könnte durchaus Chancen geben, um diese Divergenzen in den verschiedenen Anlageklassen zu nutzen:
Anleihen
Der Rentenmarkt reagierte schnell auf eine aggressivere Haltung der US-Notenbank Fed. Die anfänglichen Bewegungen konzentrierten sich auf den kurzen Bereich der Zinskurve, aber in letzter Zeit ist auch der 10-jährige Bereich weiter gestiegen, wobei die 10-jährige Rendite die Marke von 3 % erreichte. Langfristig bleibt der Zinspfad offenbar aufwärtsgerichtet, aber angesichts der jüngsten Marktbewegungen scheint es nicht mehr sinnvoll, bei der Duration – also der durchschnittlichen Kapitalbindungsdauer, ein Maß für die Zinssensitivität – so kurzfristig orientiert zu bleiben wie in der jüngsten Vergangenheit, insbesondere am Beginn der Zinskurve.
Deshalb passen wir unsere Duration taktisch an. In Australien und Kanada sowie in Frankreich, wo die Ungewissheit über den Ausgang der Präsidentschaftswahlen die Spreads (Renditeabstände) in die Höhe getrieben hatte, gibt es unserer Meinung nach taktische Relative-Value-Chancen – also Chancen aufgrund relativer Bewertungsunterschiede – und Chancen entlang der Zinskurve.
Währungen
Am Devisenmarkt dürfte der Anstieg der Rohstoffpreise aus unserer Sicht dem brasilianischen Real gegenüber dem US-Dollar zugutekommen, während der Russland-Ukraine-Konflikt weiterhin den Schweizer Franken gegenüber dem Euro stärken sollte. Wir bevorzugen auch den US-Dollar gegenüber dem Euro.
Aktien
Wir präferieren in dieser Phase weiterhin Aktien gegenüber Unternehmensanleihen, aber die Auswahl ist bei den Aktien entscheidend, wie wir meinen. Die bevorstehende Gewinnsaison scheint für Europa schwieriger zu sein, und wir gewichten Europa relativ schwächer gegenüber den USA, da sich letztere als widerstandsfähiger erweisen dürften. Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass eine Kombination aus Value- und Qualitätsaktien – mit einer weniger zyklischen Ausrichtung und einer Neigung zu Finanztiteln und defensiveren Value-Titeln, also wertorientierten Aktien – der beste Weg ist, um Chancen bei Titeln zu finden, deren Erträge weniger volatil sein dürften, und die wahrscheinlich weniger empfindlich auf steigende Zinsen reagieren. Die Preiskorrektur nach unten bei Growth-Aktien, also wachstumsorientierten Aktien, insbesondere bei den am höchsten bewerteten Titeln, ist unserer Ansicht nach noch nicht abgeschlossen.
Unternehmensanleihen
Hier sind wir weiterhin vorsichtig und haben uns zunehmend auf weniger riskante Titel verlegt. Auf der Suche nach Erträgen haben wir bei Schwellenländer-Anleihen eine positivere Sichtweise. Nach dem jüngsten Renditeanstieg dürfte der Markt des EMBI (Emerging Markets Bond Index) durch die sich stabilisierenden 10-jährigen US-Renditen, den allmählichen Rückgang des Ölpreises und die sich verbessernde Kluft zwischen den Schwellenländern und den USA unterstützt werden. Die EMBI-Zusammensetzung, die auf Lateinamerika und Rohstoffexporteure ausgerichtet ist, sollte ebenfalls einen positiven Beitrag leisten.
Sachwerte
Diversifikation bleibt nach unserer Auffassung entscheidend. Wir sind der Ansicht, dass die Beimischung von Sachwerten in Bereichen mit höherer Inflationsresistenz – Infrastruktur, variabel verzinsliche Kredite und Immobilien – und der Einsatz von Strategien, die im Vergleich zu traditionellen Anlageklassen eine niedrige Korrelation (Gleichlauf) aufweisen, helfen könnten, durch dieses unfreundliche Marktumfeld zu kommen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Anleger im Zuge der großen Preisanpassung von Vermögenswerten unserer Meinung nach darauf vorbereitet sein sollten, ihre Allokationen an die Inflation anzupassen. Bisher haben wir gesehen, dass der größte Teil der Preisanpassung bei Anleihen stattfindet. Wir gehen davon aus, dass es im längeren Bereich der Zinskurve und an den anfälligsten Aktienmärkten, an denen die Rezessionsrisiken zunehmen – z. B. europäische Aktien –, weitere Preisanpassungen geben dürfte. Die Divergenzen an den Märkten sollten jedoch Gelegenheiten bieten, das Risiko taktisch in Richtung der widerstandsfähigsten Bereiche zu kalibrieren.
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