Fundamentale Nachricht
14:21 Uhr, 29.05.2024

Deutschland: Vom Charme geringer Erwartungen

Die Wirtschaft von Europas Schlusslicht, Deutschland, könnte laut Björn Jesch, Global Chief Investment Officer bei der DWS, dieses Jahr zum Rest aufschließen und deutsche Aktien beflügeln.

Kann man Deutschlands Wirtschaft wirklich wieder mögen? Im August 2023 fragte der britische Economist, ob Deutschland wieder der kranke Mann Europas sei. Die Deutschen selbst strahlen auch wenig Optimismus aus. Kein Wunder, angesichts der Länge der Verspätungsanzeigen an deutschen Bahnhöfen. Oder angesichts der Anzahl der Geschichten zum wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands in den heimischen Tageszeitungen. Zudem lässt auch das starke Abschneiden radikaler Parteien in Umfragen auf eine hohe Unzufriedenheit schließen.

Das Ausland schließt sich dem Klagen gern an, nicht zuletzt zeigt sich die Malaise ja schwarz auf weiß in den Wachstumszahlen. Mit einem geschätzten BIP-Wachstum von 0,2 Prozent für 2024 bildet Deutschland das Schlusslicht unter den entwickelten Ländern, denen man im Schnitt 1,7 Prozent zutraut. Wer sich dieser pessimistischen Sicht nicht anschließen will, sind die Kapitalmärkte. In der Eurozone zahlt kein anderes Land niedrigere Zinsen auf seine Anleihen als der Bund. Und zwei Monate nach Erscheinen des Economist-Titels drehte der Dax und überflügelte bis zum 14. Mai dieses Jahres mit einer Gesamtrendite von 27 Prozent sogar seine europäischen Nachbarn leicht (der Stoxx 600 brachte es auf 24 Prozent).

Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch ist einfach: Aktionäre gleichen Daten mit ihren Erwartungen ab und schauen auf Veränderungen und Wendepunkte. Im vierten Quartal schrumpfte die deutsche Wirtschaft um 0,5 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Im ersten Quartal dieses Jahres wiederum wuchs die Wirtschaft mit 0,2 Prozent stärker als erwartet und die Frühindikatoren deuten auf eine Dynamisierung des Aufschwungs hin, nicht zuletzt wegen anziehender Exporte. Diese Entwicklung ist gut für die Stimmung, auch unter den Investoren. Zumal diese wissen, dass das Schicksal deutscher Firmen, insbesondere der börsennotierten, weniger am In- als am Ausland hängt.

Der wesentliche Grund, warum wir deutsche Aktien zunehmend interessant finden, ist die relative Bewertung. Im Vergleich zur Über-Benchmark S&P 500 handelt der Dax mit einem Rekordabschlag. Und das, obwohl es unseres Erachtens um das deutsch-europäische Momentum bei den Themen Zentralbankpolitik, Gewinndynamik, Erwartungshaltung, Wahlunsicherheit und Staatsverschuldung besser bestellt ist als in den USA. Und vergessen wir nicht die Fußball-EM in Deutschland im Sommer. Die Weltmeisterschaft im Jahre 2006 konnte zu einem deutlichen Image-Gewinn Deutschlands im Ausland beitragen. Allerdings fuhren damals auch noch mehr Züge pünktlich.

Deutschland besonders von den Krisen betroffen

Die von Covid und dem Ukrainekrieg hervorgerufenen Lieferengpässe und Energieknappheiten, Migrationsströme und der globale Abschwung des Verarbeitenden Gewerbes haben Deutschland als überdurchschnittlich offene und im Welthandel stark integrierte Volkswirtschaft jeweils besonders stark getroffen. Oder müsste man sagen: hätte Deutschland nach Meinung vieler stark treffen müssen? Denn eigentlich haben Deutschland und Europa die zahlreichen Krisen mit erstaunlicher Resilienz (und mithilfe deutlich weniger Neuverschuldung als die USA) weggesteckt. Noch im Sommer 2022 kursierten Prognosen, wonach Deutschlands Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte 2022 um über neun Prozent schrumpfen würde, sollten die russischen Gaslieferungen ausbleiben. Am Ende betrug der Rückgang nur 0,3 Prozent. Dies sollte man beim Anblick der relativ geringen Wachstumsraten Deutschlands im Hinterkopf behalten. In den Augen vieler Marktteilnehmer und Unternehmer leidet Deutschland derzeit noch unter einer weiteren Krise - der Ampelkoalition. Unabhängig davon, ob man diese Meinung teilt, hat sie Auswirkung auf die Stimmung der Wirtschaft. Doch nach zwei Regierungsjahren könnte auch hier die Talsohle erreicht sein, da die Wirtschaft mittlerweile immerhin weiß, woran sie ist, auch wenn sie weiterhin unter den wachsenden Regulierungsanforderungen leidet.

Langfristige Schwächen sind nicht zu leugnen…

Bevor wir uns den Rahmendaten Deutschlands widmen, die sich unseres Erachtens gerade zum Besseren wenden, wollen wir nur kurz jene strukturellen Probleme zumindest aufzählen, mit denen das Land aus unserer Sicht noch länger zu kämpfen haben wird: eine alternde Bevölkerung; jahrzehntlange Unterinvestition in Infrastruktur und Bildung; weiter zunehmende Bürokratisierung sowie insgesamt ein hohes Kostenniveau nicht zuletzt aufgrund hoher Energiepreise. Dazu gesellt sich eine kontinuierliche Reduzierung der Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen oder die Arbeitszeiten zu erhöhen. Letzteres ließe sich zwar mit relativ geringem politischen Aufwand ändern, doch gehen wir nicht davon aus, dass sich bei Arbeitslosenquoten wie den aktuellen 5,9 Prozent angebotsseitige Reformen wie zuletzt 2003-2005 (Arbeitslosenquote von über zehn Prozent) initiieren lassen. So lange dürfte dann aber auch das deutsche Potentialwachstum homöopathisch bleiben. Dr. Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa der DWS, beklagt: „In Deutschland fehlen politische Antworten auf die Frage, wie die Arbeitszeit im Laufe des gesamten Lebens erhöht werden kann. Das lässt die Alterung der Gesellschaft zu einem manifesten Problem werden.“

…aber kurzfristige Betrachtung zeigt Aufwärtstrends

Mit Veröffentlichung der BIP-Zahlen zum ersten Quartal wurde die wirtschaftliche Wende Deutschlands quasi amtlich. Nicht nur wuchs die Wirtschaft mit 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal besser als erwartet; darüber hinaus wurden die Zahlen für die ersten drei Quartale des Vorjahres nach oben korrigiert, so dass nach den aktuellen Schätzungen die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr nicht geschrumpft ist, sondern lediglich stagniert, was auch unserer anfänglichen Prognose entsprach. Für 2024 liegen unsere Schätzungen ebenfalls über jenen des Konsens. Für das Gesamtjahr sehen wir ein durchschnittliches Wachstum von 0,4 Prozent und der Konsens von 0,1 Prozent (für 4Q24 sehen wir 1,3 und der Konsens 0,6 Prozent Wachstum zum Vorjahr).

Bereits eine Woche vor den Quartalszahlen wurden die neuesten Ifo-Zahlen veröffentlicht, die ebenfalls ein positives Bild zeichneten. Dabei erstaunte weniger der dritte Anstieg der Geschäftsaussichten in Folge, sondern die Höhe des Anstiegs. Die fast zeitgleich publizierten Einkaufsmanagerindizes (HCOB PMI) bliesen ins gleiche Horn, der Composite schaffte es im April erstmals seit Juni 2023 wieder über die Expansionsschwelle von 50 Punkten. Die (vorläufigen) Daten für Mai bestätigen den positiven Trend: sowohl die Zahlen für das Verarbeitende Gewerbe sowie für Dienstleistungen lagen über den Erwartungen, so dass der Composite PMI jetzt sogar den Sprung von 50,6 auf 52,2 Punkte schaffte.

Für die Kapitalmärkte ist nicht nur die absolute Zahl wichtig, sondern auch, ob damit die Erwartungen unter- oder übertroffen werden. Dies bildet der Citi Economic Surprise Index ganz gut ab, der für Europa seit bald einem Jahr nach oben zeigt. Und nicht zuletzt berappelt sich auch der deutsche Konsument langsam und wird unseres Erachtens zunehmend zum Wachstum beitragen. Die Löhne wachsen kräftig, selbst die Beschäftigung nimmt derzeit noch zu und die Inflationsrate ist rückläufig, so dass die Konsumenten netto und real deutlich mehr Geld in der Tasche haben. Noch ist die Konsumlaune zwar nur schwach ausgeprägt, aber die jüngste GfK-Umfrage zeigt, dass sich die Konsumenten ihrer stärkeren Kaufkraft (Einkommenserwartung) zumindest langsam bewusst werden. Martin Moryson hofft, dass „die Konjunktur sich in den nächsten Monaten ganz freundlich entwickelt, selbst wenn die strukturellen Probleme (vorerst) ungelöst bleiben."

Das Schöne an niedrigen Erwartungen ist, dass sie schnell übertroffen werden können. Die USA erleben derzeit das Gegenteil, zumindest wenn man auf den Citi Surprise Index schaut. Der ist bereits seit August 2023 rückläufig, doch der Rückgang beschleunigte sich rapide seit April dieses Jahres. Ein weiterer Vergleich zu den USA lohnt noch: Das oft umjubelte dortige Wirtschaftswachstum ging mit einer deutlichen Ausweitung der Staatsverschuldung einher, während Deutschland, vielleicht nicht ausschließlich zum eigenen Vorteil, die Verschuldung gering hielt. Gemessen am BIP weitete sich die deutsche Verschuldung von 2019 bis 2023 nur von 59,6 auf 63,3 Prozent aus, während sie in den USA von 79 auf 97,2 Prozent stieg.Die anvisierten Haushaltsdefizite der USA für die kommenden Jahre lassen auf eine Ausweitung der Differenz schließen.

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