Analyse
18:27 Uhr, 20.01.2009

Das Treibsandsyndrom

Externe Quelle: Hypovereinsbank UniCredit

Die EZB hat ihren Leitzins in einer einstimmigen Entscheidung um 50 Basispunkte gesenkt und damit den konservativen Erwartungen der Marktteilnehmer entsprochen, die durch die zögerliche Haltung, welche die Zentralbank vor einem Monat an den Tag gelegt hatte, ernüchtert waren. Folglich reagierten die Märkte negativ: Die Anleger haben das bekommen, was sie erwartet haben, aber sie wissen, dass das, was sie erwartet haben, viel weniger ist als das, was die Wirtschaft braucht. Trichet sendete indes eine ganz klare Botschaft: 1. Die EZB verfolgt ein symmetrisches Inflationsziel, d.h. die Inflation darf mittelfristig nicht deutlich unter 2% liegen. 2. Der aktuelle Refinanzierungssatz von 2,0% entspricht zwar einem historischen Tief, stellt aber nicht notwendigerweise den Boden dar. 3. Die EZB wird die Zinsen im Februar unverändert lassen, aber es besteht die Möglichkeit eines weiteren Zinsschritts im März. Trichet gab zu verstehen, dass die EZB nicht in den Treibsand einer Liquiditätsfalle geraten möchte, was bedeutet, dass der Refi- Satz über Null bleiben wird. Er räumte allerdings ein, dass unkonventionelle („Non-Standard“) Maßnahmen durchaus möglich seien. Von einer quantitativen Lockerungsstrategie ist noch immer nicht explizit die Rede. Allerdings werden offenbar entsprechende Maßnahmen und die damit verbundenen Schwierigkeiten diskutiert. Die Tatsache, dass gestern lediglich eine Lockerung um 50 Basispunkte erfolgte und dass bis zu einem etwaigen weiteren Schritt sieben Wochen verstreichen werden, impliziert, dass nicht alle Ratsmitglieder von der Notwendigkeit weiterer Zinssenkungen überzeugt sind. Diesbezüglich besteht meine Sorge darin, dass die EZB den Abwärtsdruck unterschätzt, den eine tiefe Rezession auf die Kerninflation ausüben und der dafür sorgen könnte, dass sich die Inflation bis 2010 deutlich unterhalb des Zielwerts bewegt. Ich erkenne hier eindeutig die Notwendigkeit weiterer Zinssenkungen. Für eine weitere Lockerung spricht übrigens auch das Dilemma in der Fiskalpolitik: Gibt es keinen koordinierten Plan für einen Fiskalstimulus, und richten die Regierungen der einzelnen Euroländer ihre Fiskalpolitik nicht expansiver aus, so werden die Märkte befürchten, dass sich das Wachstum niemals erholt. Wird hingegen eine expansivere Politik verfolgt, so geht die Angst vor einem Auseinanderbrechen des Währungsraums um. Zum Ende der Fragestunde kam es zu einem geradezu witzigen Wortwechsel, der die gegenwärtige Haltung der EZB sehr gut widerspiegelt:

Frage: „Herr Trichet, Sie reden immer wieder von einer Liquiditätsfalle. Was meinen Sie damit, meinen Sie eine Liquiditätsfalle im keynesianischen Sinn?“

Antwort: „Nun, Sie können es keynesianisch nennen, wenn Sie möchten. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass einer Liquiditätsfalle, wenn man sich einmal dort befindet, nur schwer zu entkommen ist.“

Frage: „Wenn man sich wo befindet?“

Trichet hat wiederholt betont, dass die EZB sehr darauf bedacht ist, eine Liquiditätsfalle zu vermeiden, ohne aber eine Untergrenze für den Refisatz festzulegen. Auf die Frage „Wenn man sich wo befindet?“ antwortete er „bei sehr sehr niedrigen Zinsen“. Die Botschaft war klar: 2% ist nicht das Limit, und die Zinsen können ab März durchaus weiter sinken – jedoch nicht bis auf Null. Vor diesem Hintergrund bekräftigen wir unsere Prognose, dass der Leitzins bei 1,0% sein Tief erreichen wird.

Die Position ist zwar eindeutig, jedoch – wenn man sie für bare Münze nimmt – nicht ganz schlüssig: Es hat den Anschein, als betrachte die EZB eine Nullzinspolitik als eine Art von Treibsand. Gerät man hinein, so sinkt man immer tiefer, je mehr man mit den Beinen strampelt. Es ist richtig, dass es sich bei einer Liquiditätsfalle laut Definition um eine Situation handelt, bei der die Nominalzinsen auf Null gesunken sind und die Notenbank die Wirtschaft nicht länger über Zinssenkungen stimulieren kann. Da sich die „Falle“ jedoch auf die Unfähigkeit der Notenbank, die Wirtschaft zu beleben, bezieht, lässt sie sich nicht einfach vermeiden, indem die Zinssenkungen vor Erreichen des Nullniveaus eingestellt werden, wenn bis dahin noch keine Wirkung auf die Wirtschaft spürbar ist. Wir kennen die Lösung: Sie heißt quantitative Lockerung und direkte Liquiditätsspritzen, um direkt auf die Geldund die Kreditmenge Einfluss zu nehmen, und nicht über deren Preise.

Trichet ist sich dessen bewusst und hat eingeräumt, dass unkonventionelle Maßnahmen möglich sind und nichts von vornherein ausgeschlossen werden kann. Allerdings ist die EZB wieder nicht so weit gegangen wie die Fed, denn es wurden keine genauen Angaben über die Strategie gemacht, die verfolgt werden soll, falls die Zinssenkungen keine Erholung bewirken. Der Grund könnte sein, dass die Ratsmitglieder noch immer uneins sind im Hinblick auf die Notwendigkeit und Erwünschtheit einer quantitativen Lockerungspolitik, oder aber noch nicht genau wissen, wie mit den zu erwartenden Komplikationen umgegangen werden soll. Die Fed hat klar gesagt, dass sie bereit ist, MBS, Commercial Papier oder aber Staatsanleihen zu kaufen. Die EZB könnte Staatsanleihen kaufen, aber von welchem Staat? Vor dem Hintergrund der anhaltenden Spread-Ausweitung wären direkte Käufe von Euroland-Staatsanleihen durch die EZB ein extrem sensibles Thema. Die einzig mögliche Lösung wäre vermutlich der Kauf von Staatsanleihen aus allen Euroländern im Verhältnis ihrer Anteile am BIP der gesamten Eurozone. Der Kauf von Unternehmensanleihen, der im Falle einer schweren Kreditklemme zunehmend wünschenswert wäre, ist eine noch heiklere Angelegenheit. Trichet hat relativ deutlich gemacht, dass die EZB die Leitzinsen im Februar konstant halten und erst im März eine weitere Lockerung in Erwägung ziehen wird. Er wies darauf hin, dass die Februar-Sitzung bereits in drei Wochen stattfindet, und dass der Bank im März neue Makroprognosen vorliegen werden. Die Tatsache, dass die EZB die Zinsen gestern nicht noch weiter gesenkt hat und in den kommenden sieben Wochen, d.h. fast über zwei Monate, konstant halten will, impliziert, dass nicht alle Ratsmitglieder von der Notwendigkeit einer weiteren Lockerung überzeugt sind. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Während die Marke von 2,0% ein historisches Tief für den Refisatz und auch für die Gründer des Euroraums (wie es Trichet gestern formulierte) darstellt, besteht kein Zweifel daran, dass Wirtschaftswachstum und Inflation auf neue Tiefs sinken werden, was für noch niedrigere Zinsen spricht. Die Weigerung, den Leitzins weiter zu senken, könnte aus der Besorgnis herrühren, dass die gegenwärtige Krise eben durch eine übertrieben lockere Geldpolitik ausgelöst wurde. Die Wurzeln reichen in den Zeitraum Juni 2003 bis November 2005, als der Refisatz konstant bei 2,0% lag. Der Fehler lag damals allerdings nicht darin, dass die Zinsen zu stark gesenkt wurden, sondern, dass sie zu lange zu niedrig waren.

Eine der zentralen Frage ist, wie es mit der Inflation weitergeht. Nach Aussage von Trichet wird die drastische Kehrtwende bei den Ölpreisen die Gesamtinflation bis zum Sommer auf extreme Tiefs drücken. Sie dürfte sogar den ein oder anderen Monat negativ ausfallen. Anschließend sollte sie wieder steigen und – so Trichet – am Jahresende wieder der Definition der EZB von Preisstabilität entsprechen, womit die Kapriolen zur Jahresmitte aus geldpolitischer Sicht nicht relevant wären. Trichet vertrat außerdem die Meinung, dass die Risiken für die mittelfristige Preisstabilität nunmehr im Wesentlichen ausgewogen sind.

Meines Erachtens besteht das Risiko, dass die EZB den möglichen Abwärtsdruck auf die Kerninflation unterschätzt. Die Wirtschaft im Euroraum dürfte im laufenden Jahr um 2% schrumpfen und 2010 mit nur 1% deutlich unter Potenzial wachsen. Dies lässt auf eine massive Ausweitung der Produktionslücke schließen. Angesichts der starken Korrelation zwischen der Produktionslücke und der Kerninflation besteht ein deutliches Risiko für einen nachhaltigen Rückgang der Kerninflation in diesem und bis in das kommende Jahr hinein. Da eine starke Erholung der Rohstoffpreise in Anbetracht der globalen Rezession unwahrscheinlich erscheint, könnte die Gesamtinflation über einen längeren Zeitraum deutlich unter 2% sinken, möglicherweise sogar unter 1%. Die Inflationserwartungen dürften diesem Beispiel folgen. Wenn das Inflationsziel, wie Trichet gestern betonte, tatsächlich symmetrisch ist, wäre es ratsam, mit weiteren Zinslockerungen schnellstmöglich eine gewisse Absicherung aufzubauen – zumal weiterhin Wachstumsrisiken bestehen.

Eine weitere Schwierigkeit ist das Dilemma, in dem sich die Fiskalpolitik im Euroraum befindet. Trichet wiederholte gestern seine Forderung, die Regierungen der Euroländer sollten den innerhalb der Grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakt verfügbaren Spielraum nutzen, ihn aber nicht überschreiten, und betonte, wie wichtig es ist, das Vertrauen der Märkte in die mittelfristige Nachhaltigkeit der Fiskalpolitik aufrechtzuerhalten. Die Märkte hatten zuvor bereits dieselbe Botschaft gesendet – wenngleich auf eine weniger diplomatische Weise – indem sie die Verschlechterung des fiskalischen und des Ratingausblicks einiger Peripherieländer des Euroraums mit einer signifikanten Spread-Ausweitung bei Anleihen und Credit Default Swaps (CDS) abstraften. Dies erreichte ein solches Ausmaß, dass sich einige Anleger fragen, ob die Verschlechterung der fiskalischen Lage ein Risiko für den Zusammenhalt des Euroraums darstellt und die Stellung des Euro gefährdet. Hier kommt in der Tat zum Tragen, dass sich der Euroraum noch immer in einem unfertigen Zustand befindet. Während in den USA ein umfangreicher Fiskalstimulus das Vertrauen wieder stärken wird, wobei die Sorgen über die Nachhaltigkeit der Fiskalpolitik in den Hintergrund treten werden, erscheint die Verschlechterung der fiskalischen Lage im Euroraum eher als nationales denn als länderübergreifendes Phänomen und stellt somit eine mögliche existenzielle Bedrohung dar. Wir stehen vor einem Dilemma: Wenn die Regierungen der Euroländer keine Milliarden schwere Fiskalprogramme verabschieden, befürchten die Märkte, dass sich das Wachstum nie erholen wird. Werden hingegen umfangreiche Fiskalprogramme eingeleitet, geht die Angst vor einem Auseinanderbrechen des Währungsraums um. Die einzige Lösung wäre eine engere Zusammenarbeit bei der Fiskalpolitik, was allerdings unwahrscheinlich erscheint.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass sich Trichet meines Erachtens auf eine sehr elegante Weise aus der wenig überzeugenden Argumentation von Dezember zurückgezogen hat. Diese besagte, die EZB wolle zunächst die Auswirkungen der bereits durchgeführten Senkung um 175 Bp auf die Realwirtschaft abwarten, bevor weitere Lockerungen eingeleitet werden. Nach dem Modell der EZB manifestieren sich die Folgen von Zinsschritten auf die Wirtschaft allerdings erst nach zwei bis vier Quartalen. Folglich hätte die EZB eigentlich bis Mitte des Jahres Zurückhaltung üben müssen – eine absurde Vorstellung. Vor diesem Hintergrund führte Trichet gestern den deutlichen Rückgang der 3- Monats-Geldmarktzinsen als Beweis dafür an, dass sich die Zinssenkungen tatsächlich bereits auf die Wirtschaft auswirken. In der Fragestunde weigerte er sich, zu präzisieren, ob diese Entwicklung die EZB zu einer weiteren Lockerung bewegt oder nicht. Trichet hat damit, wie ich finde, einen sehr eleganten Ausweg aus einer höchst unangenehmen Situation gefunden. Chapeau!

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