Kommentar
06:44 Uhr, 26.11.2024

Das Inflations-Preis-Mysterium entschlüsselt

Am Wochenende stieß ich auf einen Artikel, in dem von sinkenden Preisen in den USA die Rede war. Ja, richtig gelesen: SINKENDE Preise! Erst dachte ich, da hat jemand Inflation und Preise verwechselt. Aber nein – es gab konkrete Beispiele: Speck, Fernseher und Oberbekleidung.

Wow, dachte ich, das wird den US-Bürgern ja eine unglaubliche Entlastung bringen. Und tatsächlich: Zum bevorstehenden Thanksgiving-Fest in dieser Woche können sie sich immerhin über einen 5%-igen Preisrückgang für ein klassisches Thanksgiving-Menü mit Truthahn, Süßkartoffeln, Kürbiskuchen usw. gegenüber 2023 freuen.

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Aber die American Farm Bureau Federation (AFBF), die diesen Thanksgiving Dinner Survey auf Basis von Angaben Freiwilliger aus den gesamten USA seit 39 Jahren durchführt, weist darauf hin, dass der diesjährige Preis immer noch 19 % über dem vor fünf Jahren liegt.

Okay, Thanksgiving ist in den USA eine wichtige Sache, insbesondere auch das Essen. Mag sein, dass dieser Rückgang für manche Erleichterung bringt. Aber insgesamt wirkt das Preisniveau in den USA immer noch angespannt, und die eingangs genannten Produkte aus dem betreffenden Artikel erschienen mir doch sehr herausgepickt.

Mit der Inflation sinken die Preise – manche zumindest

Das waren sie auch, aber aus einer überraschend großen Menge gefallener Preise: Von mehr als 300 unterschiedlichen Preiskomponenten, die in den USA statistisch erfasst werden, weisen 120 oder 37,5 % einen Rückgang in den vergangenen zwölf Monaten auf!

Das ist sehr viel, denn durchschnittlich sind es pro Monat nur knapp 20 %. (Allerdings schwankt dieser Anteil sehr stark; zwischen 0 und knapp 71 %). Aber gut, wir haben es auch mit einer rückläufigen Inflation nach einem starken Preisanstieg zu tun – da liegt es nahe, dass manche Preise auch wieder sinken.

Doch die Verläufe der verschiedenen Preiskomponenten sind höchst unterschiedlich. Auch ich habe mal nachfolgend ein paar herausgepickt:

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Quellen: MarketMaker mit Daten von US. Bureau of Labor Statistics, eigene Berechnungen

Markante Preiskomponenten im Überblick

Die dicke rote Linie ist der Verlauf des Verbraucherpreisindex (CPI), also "der Preise": Diese Kurve steigt seit 2020 praktisch ununterbrochen. Die einzelnen Preiskomponenten kann man grob in fünf Gruppen einteilen: Commodities (nicht unterscheidbare Gebrauchsgüter/-leistungen, wie Strom, Wasser, Benzin usw., wobei Energie in jeglicher Form die mit Abstand wichtigste ist); Wohnen; langlebige Konsumgüter; Basiskonsumgüter (hier sind Lebensmittel die wichtigste Komponente) und Dienstleistungen.

Für die Darstellung habe ich ein paar besonders markante Preiskomponenten gewählt. So zeigen Benzin und Nahrungsmittel – hier am Beispiel von Eiern (wobei da auch die Vogelgrippe grüßen lässt!) den typischen volatilen Verlauf der entsprechenden Preise. Aber auch die Gebrauchtwagenpreise aus der Gruppe der langlebigen Konsumgüter haben einen stark abweichenden Verlauf – in diesem Fall, weil während der Pandemie aufgrund der Lieferengpässe weniger Neuwagen produziert wurden und so Gebrauchtwagen stärker gefragt waren, was deren Preise hochtrieb.

Dienstleitungen, aber auch viele "unauffällige" Gebrauchsgüter (hier: Körperpflegeprodukte) sowie die Preise fürs Wohnen (hier nicht dargestellt) stiegen im Einklang mit dem Gesamtindex – oder genauer: Sie stiegen kontinuierlich und ließen den Gesamtindex entsprechend steigen.

Das Inflations-Preis-Mysterium

Verwirrend mag für manche sein, dass trotz steigender Preise (rote Kurve) die Inflation seit geraumer Zeit sinkt (dicke grüne Kurve im unteren Chartteil). Ich habe dazu am Wochenende im Bekanntenkreis eine kleine, nicht repräsentative Umfrage gemacht, wie denn der Zusammenhang zwischen Preisen und Inflation sei. Und mehr oder weniger war die einhellige Meinung: "Wenn die Preise steigen, steigt die Inflation." (bzw. umgekehrt). Aber wie wir sehen, ist das nicht der Fall!

Doch genau das erwarten offenbar viele Menschen – wie auch meine kleine Umfrage-Stichprobe zeigt – und sind enttäuscht, wenn trotz monatelanger, vermeintlicher "Erfolgsmeldungen" über eine sinkende Inflation das Brötchen beim Bäcker immer noch 1 EUR und der Döner am Imbissstand immer noch 7 EUR kosten (statt der Hälfte, wie vor dem Anstieg von Preisen und Inflation).

Dieses scheinbare Inflations-Preis-Mysterium lässt sich aber leicht entschlüsseln: Die Inflation wird bekanntlich dadurch ermittelt, dass man den prozentualen Preisanstieg eines Korbs aus Waren und Dienstleistungen zum Vorjahr berechnet. Die Inflation ist also eine Änderungsrate, ein relativer Wert. Ein Rückgang der Inflation auf 0 % bedeutet daher, dass sich die Preise gegenüber dem Vorjahr nicht geändert haben, sondern genauso hoch wie vorher sind!

Die Inflation, das verwirrende Wesen

Aber eine Inflation von 0 % will niemand, zumindest kein Zentralbanker. Ein Rückgang der Inflation ist also etwas völlig anderes als ein Preisrückgang. Letzteres wäre eine Deflation und wird bekanntlich von den Zentralbanken aufs Schärfste bekämpft. Wenn die Inflation wieder zurückgeht, bleiben die Preise trotzdem hoch. Dieser scheinbare Widerspruch geht auf den sogenannten Basiseffekt zurück – aber ich erspare Dir hier die weiteren Details.

Machen wir es kurz: Die Inflation ist die durchschnittliche "Geschwindigkeit", mit der die Preise über den Zeitraum von einem Jahr gestiegen sind, für Charttechniker: eine Art gleitender Durchschnitt der Preisveränderungen der vergangenen zwölf Monate.

Das kann man sehr schön in dem Zeitraum seit 2020 sehen, den ich Dir hier noch einmal etwas "aufgeräumter" zeige, also nur auf das Wesentliche beschränkt:

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Quellen: MarketMaker mit Daten von US. Bureau of Labor Statistics, eigene Berechnungen

Klar zu erkennen ist, dass der Anstieg ab Mitte 2022 weniger steil ist – und ab diesem Zeitpunkt beginnt die Inflation zu sinken (gelbes Rechteck).

Man muss aufpassen, was man sich wünscht!

Wer mit den statistisch-mathematischen Feinheiten nicht vertraut ist oder keine derart einprägsame Eselsbrücke hat, verfällt leicht dem Inflations-Preis-Mysterium. Und dann ist es kein Wunder, dass es zu völlig unrealistischen Erwartungen kommt – z.B., dass die Preise wieder auf das Vorpandemieniveau sinken.

Doch das ist völlig illusorisch! Wie der Chart oben zeigt, sind die Preise gegenüber Ende 2019 um 22 % gestiegen (siehe rote Kurve). Die Preise müssten also um -18 % zurückgehen (= [100 / 122 -1] * 100). Nur: Einen Rückgang in dieser Größenordnung bei den Verbraucherpreisen gab es nach dem 2. Weltkrieg noch nie (der größte Rückgang betrug insgesamt -3,8 % und war schon im Jahr 1950).

Letztmals gab einen zweistellig prozentualen Rückgang der Verbraucherpreise in der Großen Depression der 1930er-Jahre, als der CPI zwischen Oktober 1929 und Mai 1933 um -27,2 % fiel. Aber eine ähnliche Periode wünscht sich wohl niemand – sinkende Preise hin oder her.

Die bittere Wahrheit

Aber zurück zur aktuellen Lage. Die bittere Wahrheit ist: Wir werden uns damit abfinden müssen, dass die Preise ein dauerhaft höheres Niveau erreicht haben. Das Beste, das wir erwarten können, ist, dass sie künftig wieder langsamer steigen. Es tröstet auch nicht wirklich, dass es (in den USA) eine paar Preiskomponenten gibt, die seit Ende 2019 gefallen sind, und das sogar beträchtlich: Telefone, Taschenrechner u.Ä. (-47,8 %), die anfangs genannten Fernseher (-26,1 %) sowie Video- und Audio-Geräte (-16,8 % bzw. -13,1 %).

Hierzulande dürfte es ähnliche Zahlen geben. Insofern können wir vielleicht froh sein, dass wir uns die Ausgaben eines Thanksgiving-Essens sparen können. Obwohl – dafür tummeln sich viele von uns auf Weihnachtsmärkten, bei Weihnachtsfeiern usw. Das reißt oft ohnehin ein merkliches Loch in die Haushaltskasse; bei den aktuellen Preisen gleich ein gutes Stück mehr.

Lass Dich davon aber nicht abhalten, die Vorweihnachtszeit zu genießen. Dafür wünsche ich Dir viel Spaß – und darüber hinaus natürlich erfolgreiche Investments!

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Torsten Ewert
Torsten Ewert
Experte für langfristige Geldanlage

Torsten Ewert hat nach dem legendären Crash von 1987 die Welt der Börse für sich entdeckt – und nach und nach alle Möglichkeiten ausprobiert, die sich engagierten Privatanlegern im Lauf der Jahre anboten: Zunächst neben Aktien also vor allem Hebelprodukte, wie Optionsscheine und Zertifikate, später dann auch Futures, Optionen und CFDs. Seit inzwischen mehr als 15 Jahren arbeitet er erfolgreich als hauptberuflicher Trader, hauptsächlich mit Aktien und Aktienoptionen. Torsten Ewert macht seinen reichen Erfahrungsschatz auch anderen Anlegern zugänglich. So betreut er seit mehr als 10 Jahren erfolgreich zwei Börsenbriefe für langfristige, strategische Geldanlagen, die sich nach wie vor hoher Wertschätzung durch seine Leserinnen und Leser erfreuen. Darüber hinaus gibt Torsten Ewert auch Seminare und hält Vorträge zu verschiedenen Börsenthemen. Bei stock3 wird Torsten Ewert sein geballtes Wissen als Trademate mitbringen und im Service das Depot Supertrend-Aktien führen.

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