Cradle-to-Cradle: Die nächste Industrielle Revolution klopft an unsere Tür
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Cradle-to-Cradle: Die nächste Industrielle Revolution klopft an unsere Tür
Von Dr. Eike Wenzel, Institut für Trend- und Zukunftsforschung
Längst reden wir in jeder Talkshow über die Wegwerf-Gesellschaft. Doch viele Unternehmen ziehen sich nach wie vor nur ein grünes Mäntelchen über und produzieren so weiter wie bisher. Wenn wir angesichts von Rohstoffknappheit und Klimawandel etwas ändern wollen, müssen wir grundlegend umdenken. Cradle-to-Cradle („Von der Wiege zur Wiege“) heißt: Dinge, Produkte und Waren so intelligent herzustellen, dass wir schlechterdings keinen Müll (Cradle-to-Grave, „von der Wiege zur Bahre“) mehr erzeugen müssen. Unternehmen, die sich heute schon auf diese neue Ära der Wertschöpfung einstellen, werden morgen das Rennen um die Kunden machen.
Nicht das Schlechte ein bisschen besser machen, sondern den Mut haben, einen neuen Weg zu gehen, das verspricht der Ansatz, der mit dem rätselhaften Begriffsschildchen Cradle-to-Cradle gekennzeichnet wird. Abfall als Nahrung für immer neue Produkte zu begreifen, das klingt verheißungsvoll und atmet den Geist einer Weltformel, mit der wir uns auf einen Streich viele drängende Probleme vom Hals schaffen könnten. Hinter Cradle-to-Cradle steckt eine ebenso einfache wie erschütternde Analyse: Unser Ressourcenverbrauch (wenn möglich in allen Branchen) muss sich von den immer knapper werdenden Rohstoffen entkoppeln. Oder anders gesagt: Wir dürfen nicht mehr so viel Müll produzieren und dabei nutzbare Wertstoffe verschrotten und unnötige Energien in die Atmosphäre blasen.
1. Zukunftsmarkt Cradle-to-Cradle
Was ist das Neue, Bahnbrechende an Cradle-to-Cradle? Recycling war über Jahrzehnte ein Synonym für umweltbewussten (heute sagen wir: nachhaltigen) Konsum. Eigentlich ist Recycling nichts anderes als die Wiederverwertung von benutzten Stoffen. Allerdings – und das wurde lange Zeit von den Lobbygruppen verschwiegen – werden im Recycling Stoffe auf einem niedrigerenQualitätsniveau gewonnen als bei der ersten Nutzung. Klassisches Recycling produziert, mit anderen Worten, minderwertige Stoffe. Cradle-to-Cradle dagegen schlägt effizientere Wege in der Weiterverwertung von Werkstoffen ein.
Das Ziel ist ein Herstellungsverfahren, das Produkte hervorbringt, die entweder biologisch abbaubar (also kompostierbar) oder vollständig recyclingfähig sind und so als Ausgangsstoffe für neue Güter dienen (Upcycling). Upcycling denkt Produkte nicht im Sinne von Verbrauchen und Endlagern. Upcycling verspricht Produkte, Komponenten und Rohstoffe mit grundsätzlich unbegrenzter Lebensdauer. Produkte, die vorausschauend in Wertschöpfungskreisläufen (und nicht in Wertschöpfungsketten) hergestellt werden, haben „mehrere Leben“, werden nicht zu teurem Müll und helfen dabei, knappe Rohstoffe ökoeffizient einzusetzen.
Michael Braungart, deutscher Chemie-Professor, Mitbegründer der „Grünen“ und von Greenpeace, hat diesem Ansatz in den vergangenen fünf Jahren zu beachtlicher Popularität in Europa und Nordamerika verholfen. Braungart ist ein begnadeter Trommler und Klinkenputzer für eine Upcycling-Wirtschaft, und das braucht es auch, denn das Konzept ist komplex und rührt an Tabuthemen. Cradle-to-Cradle propagiert ein Denken in geschlossenen Wertschöpfungskreisläufen. Während sich Wertschöpfungsketten von der Produktion über den Konsum bis zum anfallenden Restmüll erstrecken, bieten intelligente Wertschöpfungskreisläufe die Chancen, überhaupt keinen Müll mehr zu produzieren. Während in der herkömmlichen industriellen Produktion von der Wiege zur Bahre produziert wird („Cradle-to-Grave“), gestattet es das Produzieren in Kreisläufen, von der Wiege zur Wiege („Cradle-to-Cradle“) zu produzieren. Kurz gesagt: Aus Resten, Überbleibseln, nutzlos gewordenem Müll und unproduktivem Abfall sollen neue Wertstoffe gewonnen werden, die wieder in den Produktionskreislauf eingespeist werden können.
Unternehmen von Weltrang haben sich von der Sprengkraft, die sich hinter Cradle-to-Cradle verbirgt, überzeugen lassen und ihrem Geschäft eine neue Vision gegeben. So beispielsweise der amerikanische Sportschuh-Gigant Nike. Hanna Jones, Vize-Präsidentin von Nike, fasst die dramatische Umorientierung so zusammen: „Als die Kritik in den neunziger Jahren hochkochte, benahm sich Nike zunächst wie ein Teenager: Die Firma ignorierte ihre Kritiker und wollte nicht verstehen, dass sich die ganze Art des Wirtschaftens ändern muss. Erinnern Sie sich: Wir reden über eine Zeit lange vor den globalisierungskritischen Protesten in Seattle. Dann aber wachte Nike auf und spürte: Ein Unternehmen ist nicht nur für das Ökonomische verantwortlich, sondern auch für die sozialen und umweltpolitischen Folgen seines Handelns.“
Der US-Sportartikel-Multi ließ sich von Braungarts Beratungsfirma EPEA einen schadstofffreien und komplett recyclebaren Turnschuh entwickeln. Seit etwa 2004 werden auf vielen Märkten T-Shirts, Sitzbezüge, Fenster, Verpackungen nach dem Prinzip von Cradle-to-Cradle hergestellt. Teppichboden, dessen Obermaterial der Kunde abtrennen und kompostieren kann, wenn er das Muster satt hat. Spezialisten haben mittlerweile mehr als 600 Cradle-to-Cradle Produkte für unterschiedliche Firmen zur Marktreife geführt. Cradle-to-Cradle fordert, dass wir in Zukunft auf einer völlig neuen Rohstoffbasis arbeiten müssen, damit wichtige Rohstoffe immer wieder in ihren Stoffkreislauf zurückgeführt werden können. Ein kaputter Motor wird nicht recycelt, er landet nicht auf dem Schrottplatz, sondern wird nach Reparatur in ein neues Produkt eingesetzt. Die Lebensdauer von Produkten wird verlängert, nicht von der Wiege zur Bahre, sondern von der Wiege zur nächsten Wiege.
Nicht nur Industrien, sondern auch Regionen wenden Cradle-to-Cradle an
Eine weitere Stärke von Cradle-to-Cradle liegt darin, dass es nicht nur die Industrieproduktion revolutionieren könnte, sondern auch in Städten und Kommunen die Öko-Frage neu stellt. Die niederländische Regierung hat bereits beschlossen, bis zum Jahr 2012 die gesamte öffentliche Beschaffung mit einem Volumen von etwa 40 Milliarden Euro nach Cradle-to-Cradle auszurichten. Die Region Venlo arbeitet seit 2007 darauf hin, DIE Musterregion in der Umsetzung von Cradle-to-Cradle zu werden. Die Steiermark in Österreich ist eine weitere Region, die nicht nur über Müllvermeidung redet, sondern ein dickes Brett bohren möchte, ebenfalls auf der Basis von Cradle-to-Cradle.
Wie Architektur im Sinne von Cradle-to-Cradle aussehen kann, zeigt das Beispiel River Rouge: McDonough, amerikanischer Designer und Mitbegründer der Cradle-to-Cradle-Bewegung, leitete den Umbau der alten Industrieanlage des Autoherstellers Ford – heraus kam eine die Natur mit einbeziehende und menschenfreundliche Industrieanlage, deren Flächen sehr schnell von Gänsen und anderen Tieren belebt wurden. Cradle-to-Cradle führt dazu, dass die Kosten eines Systems deutlich reduziert werden können. Durch die Begrünung des Ford-Produktionskomplexes wurden 76.000.000 Kubikmeter Regenwasser gereinigt und der Nutzung zugeführt. Neben der Tatsache, dass die Begrünung des Werks die Energiekosten enorm reduzierte, ließen sich dadurch 50 Millionen US-Dollar im Facility-Management einsparen.
Cradle-to-Cradle ist eine Provokation für alle Unternehmen, die Greenwashing betreiben möchten: wenig ändern, aber geschmeidig auf der grünen Welle surfen. Statt zu versuchen, umweltschädliche und technologisch rückständige Produktionsprozesse etwas weniger schlecht zu machen (und das öffentlichkeitswirksam in Nachhaltigkeitsberichten zu verkaufen), sollte die Industrie ihre Prozesse so umgestalten, dass grundlegend neue Produkte dabei entstehen. Das Ziel ist die Schaffung geschlossener technischer oder biologischer Kreisläufe für Werkstoffe, Energie, Wasser und Abfall. Dies gilt vor allem für die Industrieproduktion, als auch für die Nutzung von Gebäuden und in Haushalten.
2. Die Roadmap: Zukunftsmarkt Cradle-to-Cradle
Klimawandel, Nachhaltigkeit, Recycling – die Öko-Terminologie der kleinen Schritte hat sich bis in Wahlprogramme und Geschäftsberichte hinein herumgesprochen. Doch in Zukunft geht es vor allem um eine intelligente Produktion. Denn es hilft nicht, dem Konsumenten zu erklären, dass er kürzertreten müsse. Cradle-to-Cradle ist Teil einer Bewegung, die fordert: nicht weniger, nicht verzichten, sondern mehr an innovativen Produkten, die keinen Müll mehr produzieren und „mehrere Leben“ in intelligenten Wertschöpfungskreisläufen haben.
Doch kein Konzept ist perfekt, für alle Zeiten unwiderstehlich und gegenüber jeder Kritik erhaben. Bei Cradle-to-Cradle ist das auch der Fall. Von den Vertretern der klassischen Ökologiebranche kommt immer wieder der Vorwurf, Cradle-to-Cradle sei zu abstrakt, ein Konstrukt, eher eine schöne Gesellschaftsvision als ein konkreter Maßnahmenkatalog. Die Bedenken, die geäußert werden, verraten bei genauerer Betrachtung jedoch mehr über den neuerungsfeindlichen Zustand unserer Umweltpolitik als über die Idee von Cradle-to-Cradle. Dass Cradle-to-Cradle noch nicht flächendeckend und branchenübergreifend gegriffen hat, wird gerne mit Verstößen gegen „Rahmenbedingungen“ erklärt. Einige Beobachter fürchten gar um das Fortbestehen der freien Marktwirtschaft, wenn sich die Vision von Cradle-to-Cradle weiter durchsetzen sollte. Konkret hört sich das beispielsweise in den Verlautbarungen des Umweltbundesamtes so an: »In der praktischen flächendeckenden Umsetzung stoßen wir aber auf zahlreiche Grenzen, die uns politische und ökonomische Rahmenbedingungen setzen.«
Ein weiteres Beispiel: Bedenkenträger aus Ministerien, EU-Verwaltungen und von Umweltorganisationen führen an, dass man für ein verbessertes Papierrecycling der Industrie genau vorgeben müsste, welche Materialien sie verarbeiten darf. Damit verstoße man aber innerhalb der EU gegen das Prinzip der freien Marktwirtschaft. Dabei ist herkömmliches Papierrecycling – seit den 1980er Jahren in Deutschland selbstverständlich – aus ökologischer Sicht höchst fragwürdig. Beim viel gelobten Papierrecycling entstehen nämlich riesige Mengen giftiger Papierschlämme, die verbrannt werden müssen. Im Schlamm sammeln sich Schwermetalle aus Druckfarben, Weichmacher und Bleichmittel. Auch Recyclingtoilettenpapier belastet das Abwasser mit Schwermetallen.
Braungart provoziert Unternehmen und Umweltschützer gerne mit der Feststellung, dasses bei Cradle-to-Cradle um eine Form der „intelligenten Verschwendung“ handele (weil der Mensch mit Verzichtsappellen nicht zu motivieren sei) und damit um ein Konzept, das den Menschen nicht als potenziellen Zerstörer des Planeten anklagt. Die überwiegende Mehrzahl der Nachhaltigkeits- und Umweltdebatten endet ja immer da,it, dass eigentlich alles in Ordnung wäre, wenn der Mensch nur weniger „Fußspuren“ auf der Erde hinterließe. Cradle-to-Cradle verfolgt dagegen einen menschenfreundlichen und umsetzbaren Ansatz. Zentrale Forderung jedoch: Wir müssen intelligenter produzieren, und das fordert von den Unternehmen den Abschied von gemütlichen Strategien und bewährten Geschäftsmodellen.
In den folgenden Branchen hat die Revolution der Wertschöpfung nach Cradle-to-Cradle-Rezepturen schon begonnen und neue Geschäfts- und Wertschöpfungsmodelle entstehen lassen.
* Kreislaufwirtschft, Wasserwirtschaft, Müllentsorgung: Es ist naheliegend, dass Cradle-to-Cradle in erster Linie in diesen Branchen zum Einsatz kommen. Hier steht der Gedanke einer möglichst hochwertigen Wiederverwertung schon lange ganz oben auf der Agenda. Nicht nur Remondis in Deutschland und Gansewinkel aus Holland (s. Kap.3: „Unternehmen“) berufen sich mittlerweile auf Cradle-to-Cradle. Auch Redwood Renewables aus den USA und SOEX, ein deutscher Textilrecycler, ist auf diesem Gebiet tätig.
* Interior Design:Das österreichische Unternehmen Backhausen Interior Textiles stattet weltweit Hotels, Gaststätten und Theater mit Möbel und Dekorstoffen aus. Nach langjährigen Forschungen mit dem Umweltinstitut EPEA (www.epea.com) gelang es, die Trevira-CSFaser zu entwickeln, die nicht mehr den üblichen und ineffizienten Weg des „Take-Make-Waste“ geht und darüber hinaus der erste Stoff ist, der sowohl wiederverwendbar als auch flammhemmend ist ([Link "www.returnity.at" auf www.returnity.at/... nicht mehr verfügbar]). Backhausen ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich (ökologische) Pionierarbeit und aufwändige Forschung auszahlen. Backhausen liefert in 40 Länder aus und wird 2011 einen Umsatz von rund 13 Millionen Euro einfahren
2011 einen Umsatz von rund 13 Millionen Euro einfahren.
* Mode:Triumph (Weltmarktführer Damenunterwäsche) und Trigema (hat vor Jahren schon ein kompostierbares T-Shirt entwickelt) orientieren sich seit Mitte der 2000er-Jahre an Cradle-to-Cradle. Triumph setzt mit seinem Pure-Origin-Konzept darauf, dass die Konsumenten der Zukunft neben Passform und Design auf ethisch-ökologische Korrektheit der Marke Wert legen werden.
* Verpackung:Earth Buddy Inc. ist ein in Hongkong ansässiges Unternehmen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, alltägliche Verbraucherprodukte aus Agrarrückständen herzustellen, vor allem Verpackungsmaterialien. Earth Buddy benutzt dabei tatsächlich Abfall als Rohstoffgrundlage für die eigene Produktion: Getreidereste und Abfälle gehören ebenso dazu wie die Nutzung von Biomasse als Energielieferant.
* Kosmetik/Haushalt:Die Marke Method aus den USA stellt ökoeffiziente Kosmetik und Haushaltsreiniger her und orientiert sich dabei an den Grundsätzen von Cradle-to-Cradle. Die Produkte kommen nicht mit Umweltengeln und grüner Symbolik daher, sondern sprechen stilbewusste Lifestyle-Ökos mit modernem Design an. Aveda gehört zur Estée Lauder Gruppe und stellt Haar- und Hautpflegeprodukte auf pflanzlicher Basis her. Aveda wird weltweit in 7.000 Friseursalons verkauft. Bei Aveda kommt Cradle-to-Cradle insbesondere im Anbau und Beschaffung der Inhaltsstoffe zum Einsatz.
* Bau:Das Dachbegrünungskonzept der Groß-Ippener Firma XeroFlor basiert ebenfalls auf dem Gedanken, Rohstoffe kreativ zu gebrauchen, aber nicht zu verbrauchen. Mittlerweile hat das Unternehmen weltweit mehr als 1.000 Dächer begrünt und die Idee von einer Birkenstockträger-Innovation in eine ökologisch hochwirksame Innovation verwandelt. Durch den intelligenten Rollrasen lassen sich 50 Prozent der Niederschläge auffangen, sie werden danach jedoch nicht nur in die Kanalisation verabschiedet, sondern verdunsten langsam, beeinflussen das Mikroklima, unterstützen die Ansiedlung von Vögeln etc.
Cradle-to-Cradle wird in den nächsten Jahren aus den vier folgenden Gründen in der Nachhaltigkeitsdebatte eine wichtige Rolle spielen:...
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Ihr
Dirk Müller
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